„Rückkehr zum Recht“ an der deutsch-österreichischen Grenze?

Zur Zuständigkeit für an der deutschen Grenze gestellte Asylanträge

Die Debatten über Binnengrenzkontrollen und die sich daraus ergebenden rechtlichen und praktischen Folgen für schutzsuchende Personen haben in den letzten Wochen und Monaten stark an Tempo und Schärfe gewonnen. Sehr plakativ haben bspw. vier Professoren für öffentliches Recht in einem „Gastbeitrag“ in der FAZ am 9. Februar 2016 die „Rückkehr zum Recht“ an der deutsch-österreichischen Grenze gefordert. In Ermangelung rechtlich fundierter Argumente haben sie dabei die Keule der „Rechtsstaatlichkeit“ geschwungen, die vermeintlich die Zurückweisung von Asylsuchenden an der deutsch-österreichischen Grenze nicht nur ermöglichen, sondern erfordern soll, da andernfalls deutsche Gesetze „ausgesetzt“ würden. Sie sind der Meinung, dass Österreich für die Durchführung des Dublin-Verfahrens zuständig und es somit erforderlich sei, antragstellende Personen nach Österreich zurückzuweisen. Im aktuellen politischen Kontext alarmieren solche Behauptungen und gebieten einen genauen Blick auf die geltenden Normen. Sie zeigen, dass Registrierung und Aufnahme der ankommenden Asylsuchenden zwingend vorgeschrieben ist.

Welche Konsequenzen hat die vorübergehende und partielle Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze für die Aufnahme von schutzsuchenden Personen? Zur Beantwortung der Frage ist rechtlich zwischen zwei Regelungsbereichen zu unterscheiden: Einerseits ist die Zuständigkeit für das Asylverfahren („Dublin-Verfahren“) und andererseits die Legitimität von Zurückweisungen schutzsuchender Personen bei den eingeführten Grenzkontrollen zu klären. Im Folgenden befasse ich mich vorrangig mit dem ersten Themenkomplex.

 

Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-III-Verordnung

Das Europäische Asylrecht enthält gemäß Art. 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV) für den Bereich des Asylrechts gemeinsame Standards, von denen die Mitgliedstaaten nicht zu Ungunsten der asylsuchenden Personen abweichen dürfen. Es ist dabei zwischen der Durchführung des Dublin-Verfahrens („wer ist zuständig?“) und der Durchführung des Asylverfahrens („wer hat Anspruch auf Schutz?“) zu unterscheiden. Steht fest welcher Staat zuständig ist, hat grundsätzlich dieser Staat in einem Asylverfahren zu beurteilen, ob die antragstellende Person Schutz erhält.

Die sog. Dublin-III-Verordnung (VO EU Nr. 604/2013) regelt, welcher Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV gelten Verordnungen allgemein und unmittelbar. Sie sind daher von den Mitgliedstaaten ohne Änderungen anzuwenden. Wenn  ein Asylgesuch  an der deutsch-österreichischen Grenze bei einem deutschen Grenzbeamten oder einer deutschen Grenzbeamtin gestellt wird, ist somit ausschließlich die Dublin-III-Verordnung einschlägig.

Österreich sei – so das zentrale Argument der Autoren des Gastbeitrags in der FAZ vom 9. Februar 2016 – gemäß Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung für die Durchführung des Dublin-Verfahrens zuständig. Dieser Artikel ist dann für die Regelung (vgl. Kommissionsvorschlag aus dem Jahr 2001 – KOM(2001) 447) einschlägig, wenn sich eine asylsuchende Person  im Hoheitsgebiet eines Staates befindet, ihren Asylantrag jedoch „bei einer Behörde eines anderen Mitgliedstaates stellt, beispielsweise bei einer diplomatischen oder konsularischen Vertretung oder an der Grenze.“ Demzufolge wäre Österreich für den Asylantrag zuständig, wenn sich die Person auf dem Hoheitsgebiet Österreichs befindet, obgleich sie das Asylgesuch bei einer deutschen Grenzbeamtin oder einem deutschen Grenzbeamten stellt. Es ist also zu klären, ob sich die asylsuchende Person im Moment der Antragstellung auf österreichischem Hoheitsgebiet befindet. Die folgenden zwei Argumente zeigen, dass dies nicht der Fall ist:

  • Die deutsche Grenzkontrollstelle ist jedenfalls nicht österreichisches Hoheitsgebiet. Die rechtliche Fiktion der Nichteinreise vor der Grenzkontrolle (die u.a. auch bei der Durchführung des sog. Flughafenverfahrens (vgl. § 18a des Asylgesetzes (AsylG)) eine wichtige Rolle spielt) hat keinen Einfluss auf die Frage auf welchem Hoheitsgebiet sich die Person befindet. Zur Illustration: eine Person, die bspw. aus Istanbul kommt und nach Frankfurt fliegt, befindet sich an der Grenzkontrollstelle am Flughafen Frankfurt nicht mehr auf türkischem Hoheitsgebiet, sondern asylrechtlich in der Transitzone, die dem deutschen Hoheitsgebiet zuzuordnen ist. Genauso verhält es sich nach dem Passieren der Staatsgrenze Deutschland-Österreich: Die Person befindet sich folglich im Moment der Antragstellung nicht (mehr) auf österreichischem Hoheitsgebiet.
  • Die Grenzkontrollstelle ist asylrechtlich als deutsches Hoheitsgebiet anzusehen. Es gibt im EU-Recht keine feststehende Definition des Hoheitsgebiets, die sich auf Binnengrenzfragen erstreckt. Asylrechtlich ist daher die Definition des Hoheitsgebiets in Art. 2 Bst. p der Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) einschlägig. Dort heißt es zu dem mit der Antragstellung verbundenen Recht zum Verbleib im Mitgliedstaat: „Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaates in dem der Antrag gestellt wurde oder geprüft wird.“ Grenze und Transitzone gehören also asylrechtlich zum Hoheitsgebiet des Staates, der die Grenzkontrolle durchführt. Die Dublin-III-Verordnung nimmt die Definition in  Art. 3 Abs. 1 ebenfalls auf, dort heißt es: „Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationa­len Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt.“ Bei der Antragstellung an der Grenze befindet sich die Person also asylrechtlich bereits auf deutschem Hoheitsgebiet.

 

Konsensprinzip und weitere Grundregeln des Dublin-Verfahrens

Stellt die einreisebegehrende Person also einen Asylgesuch an der Grenze, muss die Bundesrepublik Deutschland ein Dublin-Verfahren durchführen, um festzustellen, welcher Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (vgl. Art. 20 Abs. 1 und 2 Dublin-III-Verordnung). Selbst wenn feststehen würde, dass Österreich nach den Kriterien der Verordnung für die Durchführung des Dublin-Verfahrens zuständig wäre (bspw. weil dort bereits ein Asylantrag gestellt wurde), dürfte Deutschland nicht ohne Zustimmung und Aufnahmezusage Österreichs eine Person an der Grenze zurückweisen, da auch hier ein förmliches Verfahren notwendig ist (vgl. Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-Verordnung). Die Zuständigkeitsprüfung und die nachfolgende Überstellung erfolgen nach dem Konsensprinzip und können nicht einseitig (also ohne explizite oder implizite Zustimmung des nach den Kriterien der Verordnung zuständigen Staates) von einem Staat vollzogen werden. Auch jede andere Form der Zurückweisung in einen anderen Dublin-Staat (bspw. mittels einer Einreiseverweigerung an der Grenze) ist europarechtswidrig.

In der Bundesrepublik Deutschland regelt § 18 Abs. 2 AsylG, dass die Einreise nur dann verweigert werden darf, wenn ein Übernahmeverfahren nach der Dublin-Verordnung eingeleitet wurde. Diese Regelungen können nur durch ein gesondertes bilaterales Abkommen geändert werden, um die Anwendung der Verordnung zu vereinfachen und deren Effizienz zu erhöhen (vgl. Art. 36 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung). Die grundgesetzliche Drittstaatenregelung tritt hinter diesen Regelungskomplex vollständig zurück. Sie regelt lediglich Voraussetzungen für die verfassungsrechtliche Asylgewährung nach Art. 16a des Grundgesetzes, hat aber keinen Einfluss auf die europarechtlich ausgestaltete Zuerkennung internationalen Schutzes in Asylverfahren. Das Europarecht hat hier Anwendungsvorrang.

 

Zutrittsverweigerung gemäß Art. 13 Abs. 4 SGK analog?

Eine Zurückweisung an der Grenze kann auch nicht auf eine analoge Anwendung von Art. 13 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex (SGK) gestützt werden. Dieser besagt, dass die „Grenzschutzbeamten [sicherstellen], dass ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise verweigert wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.“ Damit ist eine Zutrittsverweigerung für den Schengenraum gemeint. Eine solche Zutrittsverweigerung an einer Binnengrenze im Schengenraum ist jedoch nicht möglich, da sich die Person bereits im „Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ befindet und somit nicht mehr am Betreten des Schengenraumes gehindert werden kann.

Bei vorübergehend wiedereingeführten Binnengrenzkontrollen, die eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit verhindern sollen, ist eine Einreiseverweigerung nur dann vorgesehen, wenn dies dem Zweck der Grenzkontrolle dient. Zweck der Binnengrenzkontrolle an der deutsch-österreichischen Grenze ist aber gerade eine kontrollierte Registrierung und Aufnahme der unkontrolliert zuwandernden schutzsuchenden Personen. Dies wurde von der deutschen Regierung gegenüber der EU-Kommission bei der Einführung der Kontrollen betont. Nur unter dieser Voraussetzung hat die Europäische Kommission die Wiedereinführung der Grenzkontrollen für rechtmäßig gehalten (vgl. zum Ganzen: Stellungnahme der Kommission vom 23.10.2015 zur Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der von Deutschland und Österreich wiedereingeführten Binnengrenzkontrollen).

Darüber hinaus wäre eine Zurückweisung von schutzsuchenden Personen an der Grenze generell völker- und europarechtswidrig (vgl. Inhalt des Schreibens des zuständigen EU-Kommissars Avramopoulos an Österreich). Im konkreten Fall der deutsch-österreichischen Grenze ist eine Zurückweisung aktuell schon deswegen rechtswidrig, da Österreich Obergrenze eingeführt hat, wodurch der Zugang zum Asylverfahren möglicherweise nicht mehr gewährleistet ist. Zudem stellt eine Zurückweisung generell einen Verstoß gegen das Verbot der Massenausweisung dar, wenn nicht auf die Möglichkeit einer Asylantragstellung in Deutschland hingewiesen wird  (vgl. das EGMR-Urteil im Fall Sharifi u.a. gegen Italien und Griechenland). Zurückweisungen dürfen daher nur in einem geordneten Verfahren mit Rechtschutzmöglichkeit erfolgen.

 

Zusammenfassende Bewertung

Zusammenfassend lassen sich vier grundlegende Punkte festhalten, die dazu führen, dass Deutschland das Dublin-Verfahren durchführen muss, wenn bei einer Grenzkontrolle an der deutsch-österreichischen Binnengrenze ein Asylgesuch gestellt wird:

  • Das „Hoheitsgebiet“ ist asylrechtlich definiert und umfasst die Grenze und die Transitzonen (vgl. Art. 2 Bst. p der Asylverfahrensrichtlinie). Zuständig für das Dublin-Verfahren ist immer der Staat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält (Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung). Dies ist bei einem Asylantrag an der deutschen Grenze Deutschland, da sie zum deutschen Hoheitsgebiet gehört. Eine Ausnahmesituation im Sinne des Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung, die eine Zuständigkeit Österreichs begründen würde, besteht nicht.
  • Eine Zurückweisung an der Grenze ist – in Einklang mit den Verpflichtungen aus der Dublin-III-Verordnung – gemäß § 18 Abs. 2 AsylG nur erlaubt, wenn gleichzeitig ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren im Rahmen des Dublin-Verfahrens eingeleitet wird. Eine Zurückschiebung ohne explizite Aufnahmezusage Österreichs ist rechtswidrig.
  • Die vorübergehende Wiedereinführung der Grenzkontrollen ist nach der Stellungnahme der Kommission vom 23.10.2015 nur dann notwendig und verhältnismäßig, wenn sie nicht die Zurückweisung an der Grenze, sondern die Registrierung und geregelte Aufnahme schutzsuchender Personen zum Ziel hat.
  • Eine Zurückweisung an der Grenze ohne garantierte Aufnahme in ein faires und effizientes Asylverfahren ist generell völker- und europarechtswidrig.

Angesichts dieser klaren europarechtlichen Sachlage ist es aus rechtsstaatlicher Sicht erforderlich, dass die an der Binnengrenze ankommenden Personen zur geordneten Durchführung entweder eines Dublin-Verfahrens oder eines Asylverfahrens aufgenommen werden. Zuständig für das Verfahren ist der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet der Asylantrag gestellt wird. Aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ergibt sich darüber hinaus die Verpflichtung, eine gemeinschaftlichen Lösung unter Wahrung des „Grundsatzes der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeit“ (Art. 80 AEUV) zu finden, mit der die Gewährung von effektivem Schutz für schutzbedürftige Personen sichergestellt wird. Diese kann und darf nicht zu unilateralen Zurückweisungen von schutzsuchenden Personen an Binnengrenzen führen.

 

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