Zur Debatte um rechte Bewegungen in der Stadt. Potentiale und Grenzen des Defensive Urban Citizenship Konzepts

Vor dem Hintergrund aktueller rechtspopulistischer Mobilisierungen bietet das Konzept der Defensive Urban Citizenship wichtige Anregungen zur Analyse rechter Bewegungen im städtischen Kontext. Zugleich ist das Konzept auch mit einigen Fallstricken verbunden. Denn es verfügt über keinen theoretisch fundierten Rassismusbegriff.

 

Seit Beginn der 1990er Jahre beschäftigt sich die Debatte um Urban Citizenship mit städtischen und kommunalen Politiken, die die gesellschaftliche Teilhabe auf lokaler Ebene stärken und sich dabei nicht an der nationalen Staatsbürgerschaft, sondern am faktischen Lebensmittelpunkt der Menschen orientieren. Das betrifft zum Beispiel den Zugang zu Wohnraum, zum Bildungs- und Gesundheitssystem, aber auch andere Aspekte wie die Nutzung des öffentlichen Raums. Vor allem fokussiert sich die Debatte auf Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte, da sie von den an die nationale Bürgerschaft gekoppelten Rechten oft auf formaler Ebene ausgeschlossen bleiben und mit informellen Zugangsbarrieren konfrontiert sind.

Citizenship-Bewegungen müssen jedoch nicht immer progressiv sein. Je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse vor Ort gelagert sind, können sie auch ausschließende und reaktionäre Formen annehmen. Um dies konzeptionell zu fassen, wird in der Debatte um “Stadtbürger*innenschaft” seit einigen Jahren der Begriff der Defensive Citizenship genutzt. Citizenship wird hier als ein Kontinuum diskutiert: mit einer starken und inklusiven Ausprägung an dem einen Pol und einer ausschließenden und schwachen am anderen.

 

Defensive Citizenship

Der Begriff der Defensive Citizenship taucht in der Literatur erstmalig im Jahr 2000 in einem Beitrag des Sozialwissenschaftlers Nick Ellison auf. Der Autor nutzt ihn in Abgrenzung zu einer Proactive Citizenship – allerdings noch ohne Bezug auf Stadt- oder Lokalpolitik. Die Entstehung dieser beiden verschiedenen Formen des Citizenship-Engagements diskutiert er im Kontext neoliberaler Globalisierungsprozesse. Relevant ist einerseits die Transformation von (ehemals) souveränen Nationalstaaten hin zu strategischen Akteuren in komplexen globalisierten Zusammenhängen. Dabei wird vor allem das Problem des Steuerungsverlustes nationaler Regierungen betont. Der Staat sei demnach nicht mehr in der Lage, die öffentliche Sphäre ausreichend zu regulieren, “was zu einer fortschreitenden Zersplitterung der sozialen und politischen Strukturen im öffentlichen Raum führt”. Andererseits spielt die Schwächung des Wohlfahrtsstaates im Zuge neoliberaler Restrukturierung eine wichtige Rolle. Denn die Risiken einer kapitalistisch organisierten Welt können im Zuge der Erosion sozialer Sicherungssysteme immer schlechter abgefangen werden. Dies führe ebenfalls zu einer Fragmentierung der Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen, die in verstärkter Konkurrenz um Ressourcen stehen. Die doppelte Zersplitterung der Gesellschaft mündet nach Ellison in eine Segmentierung von Citizenship: Zur gesamtgesellschaftlich gedachten Form der Zugehörigkeit gesellen sich neue und konkurrierende Formen. Diese orientieren sich nicht mehr an der Gesellschaft als kohärent gedachtem Gebilde und formulieren stattdessen stark partikularistische Ansprüche und Identitäten, beispielsweise auf Grundlage von sexueller Orientierung oder ethnischer Zugehörigkeit. Dies sei vor allem dann der Fall, wenn bereits benachteiligten Gruppen im Kontext von Kürzungs- und Umverteilungspolitiken zusätzliche Bürden zum Erhalt ihres Status auferlegt werden.

 

Defensive Citizenship im städtischen Kontext

Das Defensive Citizenship Konzept wurde seitdem mehrfach empirisch und theoretisch aufgegriffen, weiterentwickelt und dabei auch mit lokalen und stadtpolitischen Prozessen in Verbindung gebracht. So untersuchen zum Beispiel Cook und Kolleg*innen abwehrende Einstellungen gegenüber der Zunahme von Migration aus Osteuropa infolge der EU-Erweiterung 2004 in einer nordenglischen Stadt. Die Autor*innen argumentieren in diesem Zusammenhang, dass die Vorbehalte in der nordenglischen Stadt weniger auf Grund von rassistischen Einstellungen formuliert würden, und eher als Reaktion auf proaktive Forderungen migrantischer Gruppen nach Rechten und Ressourcen zu verstehen seien. Anhand von quantitativen Daten zeigen die Autor*innen, dass solche defensiven Citizenship-Konflikte vor allem dann auftreten, wenn die etablierte Gruppe davon ausgeht, durch den Zuzug neuer Anwohner*innen erhebliche Nachteile zu erfahren. Das Argument weist damit Ähnlichkeiten zu Norbert Elias‘ klassischer Studie über Etablierte und Außenseiter auf. Bei Cook und Kolleg*innen werden die Nachteile von den Befragten hauptsächlich auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt verortet, also auf zwei Feldern, welche vor allem in bereits marginalisierten Stadtvierteln existenziell sind. Hier spielt auch die Sozialstruktur innerstädtischer Milieus, die durch ein hohes Maß an Heterogenität geprägt ist, eine wichtige Rolle. Insgesamt bleibt die Theoretisierung der urbanen Konfliktdimension bei Cook und Kolleg*innen allerdings noch schwach. Darüber hinaus mangelt es an einer vergleichenden Perspektive, die spezifische Bedingungen und Gründe für lokale Unterschiede aufzeigen könnte.

 

Defensive Urban Citizenship “bottom up”…

Einen entscheidenden Schritt in die Urban Citizenship Debatte vollzieht der israelische Migrationsforscher Nir Cohen in seiner 2015 veröffentlichten Studie über Tel Aviv. Er untersucht die Proteste von Anwohner*innen im sozialstrukturell benachteiligten Süden der Stadt gegen den Zuzug von Geflüchteten aus dem Sudan und Eritrea. Während im wohlhabenden Norden von Tel Aviv Geflüchtete kaum eine Rolle spielen, haben die Anwohner*innen im Süden das Gefühl, ihre ohnehin schon knappen Ressourcen nun auch noch mit den neu Zugewanderten teilen zu müssen. Cohen erweitert das Konzept von Ellison und macht den Stadtbezug deutlicher. Die Stadt fungiert hier konzeptionell als ein Ort, an dem es zu alltäglichen Begegnungen mit “den Anderen” bzw. “den Fremden” kommt – ein systematischer Hinweis auf die Qualität von urbaner Öffentlichkeit, der sich schon in den klassischen soziologischen Arbeiten zum Begriff der Öffentlichkeit findet. Diese Begegnungen können positiv oder negativ ausfallen und dementsprechend die Dynamiken zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen prägen. In der Gemengelage zwischen globaler Neoliberalisierung, wie bereits bei Ellison ausgeführt, und urbaner Verdichtung von Konflikten entsteht nach Cohen nun eine defensive oder abwehrende Form von Urban Citizenship: Die etablierte Anwohner*innenschaft “reagiert […] mit einer Reihe von Selbstschutzmechanismen, die darauf abzielen, die vorherrschenden Trends und Bedingungen umzukehren und gleichzeitig eine neue lokale Identität und Politik zu konstruieren”. Ähnlich wie die bereits oben vorgestellten Autor*innen argumentiert auch Cohen, dass es sich bei diesen reaktionären Bewegungen nicht per se um rassistische Initiativen handele, sondern um Gegenbewegungen, die auf Statusverlust- und Abstiegsängsten begründet seien.

 

…und “top-down”

Eine detaillierte empirische Auseinandersetzung mit lokalen “top-down” Politikansätzen, die sich explizit gegen Migrant*innen richten, findet sich im US-amerikanischen Kontext, allerdings größtenteils ohne konzeptionellen Bezug zur Urban Citizenship-Debatte. In den USA hat sich auf Grund des ausgeprägten Föderalismus und der relativ starken Autonomie lokaler Behörden ein enormes Spannungsfeld zwischen Bundespolitiken und regionalen und kommunalen Politiken entwickelt. In den vergangenen Jahren haben alle 50 Bundesstaaten unzählige eigene Gesetze erlassen, wie mit Migration umgegangen werden soll (siehe z.B. Immigration Impact). In Städten und Gemeinden wurden tausende von migrationspolitischen Gesetzen und Richtlinien diskutiert. Diese sind einander im politischen Spektrum teilweise diametral entgegengesetzt. Während progressive Landes- und Stadtparlamente eine inklusive und diversitäts-orientierte Agenda verfolgen, werden in konservativen Bundesländern, Städten und Gemeinden drakonische und offen diskriminierende Gesetze und Richtlinien erlassen, die explizit auf den Ausschluss von Migrant*innen abzielen. Haus- und Wohnungseigentümer*innen werden etwa verpflichtet, den Aufenthaltsstatus ihrer Mieter*innen zu prüfen; bei polizeilichen Verkehrskontrollen wird standardmäßig nach dem Aufenthaltsstatus gefragt; öffentliche Einrichtungen dürfen ihre Broschüren und Informationen nur noch auf Englisch drucken; etc.

 

Zur Aktualität im bundesdeutschen Kontext

Im bundesdeutschen Kontext scheint die Defensive Urban Citizenship derzeit hoch relevant. Akteure der radikalen und extremen Rechten konnten sich in den vergangenen Jahren in Städten und Gemeinden sowohl parlamentarisch als auch zivilgesellschaftlich immer stärker verankern und dominieren heute in vielen Regionen die lokale Politik. Dabei gilt: Zwar konnten die AfD und andere rechte Parteien ihre stärksten Wahlergebnisse bislang vor allem in ländlichen Regionen erzielen, was allgemein als eine Folge von infrastrukturellen Problemen und als kulturkämpferische “Rache der Dörfer” interpretiert wird. Doch bietet auch der Stadtraum reichlich Anknüpfungspunkte für Rechtspopulismus – und diese werden zunehmend genutzt. In diesem Zusammenhang stellt Bescherer vor allem zwei Aspekte heraus: Erstens führe die krisenhafte Wohnungspolitik bei vielen Menschen zu existenziellen Ängsten. Hier knüpfen Rechtspopulist*innen direkt an. Anstatt Wohnungsmarktpolitik als sozialpolitische Herausforderung mit einem universalistischen Anspruch zu adressieren, schüren rechte Politiker*innen Konkurrenzdenken und Ressourcenkonflikte und stärken die eigene Position über die Exklusion sozial schwächerer Gruppen. Dies zeigt sich z.B. im wohnungspolitischen Konzept der AfD in Berlin, in welchem vor allem die Bedürfnisse der “einheimischen Berliner Bevölkerung” – im Gegensatz zu “den Geflüchteten” – in den Vordergrund gestellt werden. Zweitens stelle der typisch städtische Diskurs um “Sicherheit im öffentlichen Raum” ein Feld dar, auf dem sich rechtspopulistische Akteure besonders wohlfühlen, so Bescherer. Sie instrumentalisieren Ängste vor Kriminalität und projizieren diese auf “Ausländer” und “Flüchtlinge”. Dies kann man besonders in lokalen Protesten gegen (geplante) Geflüchtetenunterkünfte beobachten, die an Ängste, vor allem vor Sexualdelikten, appellieren. Verbunden wird dies meist mit der Forderung nach einer Begrenzung oder gar dem Stopp der Aufnahme Geflüchteter. Mit Blick auf die widersprüchlichen Wahlergebnisse der AfD, die sich nicht einfach in Stadt/Land aufteilen lassen, betonen Förtner und Kolleg:innen, die Unterscheidung zwischen “Stadt” und “Land” dürfe nicht raumdeterministisch verstanden werden. Mit Adorno und Lefebvre argumentieren sie, man müsse nach den sozialen Beziehungen und Geisteshaltungen fragen, die sich an peripheren und zentralen Orten manifestieren. In diesem Sinne lässt sich der (vermeintlich progressive) Stadtraum keineswegs, wie oft behauptet, eindeutig vom (vermeintlich konservativen) ländlichen Raum abgrenzen.

 

Kritisches Fazit

Für die Beschäftigung mit rechten Mobilisierungen im städtischen Raum stellt das Urban Defensive Citizenship Konzept eine interessante Anregung dar. Der Ansatz sollte unserer Ansicht nach allerdings nicht als Ersatz für rassismustheoretische Zugänge fungieren. Denn letztere erlauben eine Einordnung ausschließender und diskriminierender Strategien als Ungleichheitsideologie und bieten darüber hinaus Erklärungsansätze auf Subjektebene an. Beides kann der Defensive Urban Citizenship Ansatz nicht leisten. Die analytischen und politischen Stärken der (Anti-)Rassimusforschung können jedoch mit Erkenntnissen aus der Stadtforschung kombiniert werden, um ein besseres Verständnis lokal-spezifischer Aspekte rechter Bewegungen zu erlauben. Sichtbar wird dann, wie Austeritätspolitik und neoliberale Umverteilung in Nachbarschaften und Kommunen die Bedingungen für rechte Mobilisierungen schaffen. Gerade im Kontext der aktuellen Debatte um die “Überlastung der Kommunen” scheint uns ein Verständnis dieser Zusammenhänge zentral. Denn auf dieser Grundlage lässt sich ein politisches Gegenprojekt formulieren, das sich der Trennung zwischen “uns” und “den Flüchtlingen” verweigert.

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