Das Tabu systematischer palästinensischer Vertreibungserfahrung und seine Folgen für PalästinenserInnen in Deutschland

Dieser Artikel diskutiert die Folgen der systematischen Vertreibung von PalästinenserInnen sowie deren Tabuisierung für PalästinenserInnen in Deutschland. Er zeigt, wie sich in der Tabuisierung palästinensischer Gewalterfahrung die Gewalt der Vertreibung wiederholt und sich als Trauma in ihr Leben einschreibt.

 

Der Vertreibung von mindestens 750.000 PalästinenserInnen von 1947/1948 – mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung im historischen Palästina – wird in der palästinensischen Erinnerungskultur als „Nakba“ (Katastrophe) gedacht. Die PalästinenserInnen verwenden die Bezeichnung Nakba mittlerweile auch, um die systematische Gewalt zu bezeichnen, der sie vor dem Hintergrund der israelischen Staatsgründung und des Selbstverständnisses als jüdischer Staat seit 1947/48 bis zum heutigen Tag kontinuierlich ausgesetzt sind: Das heißt die Vertreibung von mindestens 300.000 PalästinenserInnen im Zuge der Besetzung von Gaza, Westbank und Ost-Jerusalem 1967, die Vertreibung der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung von Gaza in den südlichsten Zipfel des Gazastreifens im Zuge des gegenwärtigen israelischen Kriegs und ihre drohende Vertreibung nach Ägypten sowie die stille tagtägliche Vertreibung der letzten Jahrzehnte in der Westbank (inkl. Ostjerusalem) durch die israelische Siedlungspolitik, Landraub, Entzug der Lebensgrundlagen und Hauszerstörungen.

Obwohl die Nakba und das Nichteingreifen der internationalen Staatengemeinschaft eine direkte Folge des Holocaust sind, wird sie aus dem deutschen kollektiven Gedächtnis und öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. Die Erfahrungen systematischer Vertreibung und Gewalt von PalästinenserInnen sind ein gesellschaftliches Tabu. Sichtbar gemacht, werden sie verharmlost, als umstritten, zufällig oder als selbstverschuldet dargestellt. So heißt es beispielsweise, PalästinenserInnen seien nicht vertrieben worden, hätten freiwillig das Land verlassen, es verkauft oder die Vertreibungen seien das Nebenprodukt von Kriegen. Oder aber die Existenz von PalästinenserInnen im Land und ihre Bindung zum Land wird verneint. PalästinenserInnen seien kein Volk im eigentlichen Sinne und könnten deshalb auch nicht entwurzelt werden oder Palästina sei weitgehend unbevölkerte Wüste gewesen. „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ war ein weit verbreiteter Mythos. Auch werden PalästinenserInnen meist einseitig auf die Position des Täters und moralisch Abweichenden fixiert und in immer neuen Variationen als bedrohliche „wilde“, Terroristen, islamistische Extremisten und Antisemiten gezeichnet, die Israel als Opfer und Teil der sogenannten christlich-jüdischen, abendländischen Kultur- und Wertegemeinschaft gegenüberstehen.

Die Tabuisierung palästinensischer Gewalterfahrung im deutschen politischen und medialen Diskurs ist u. a. vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Kritik an israelischer Staatsgewalt mit Antisemitismus zu sehen und hat tiefgreifende Folgen für PalästinenserInnen in Deutschland. Dieser Artikel versucht sie zu beschreiben.

 

Migration nach Europa

PalästinenserInnen bilden eine der größten und ältesten staatenlosen Gemeinschaften weltweit. In Deutschland lebt mit über 100.000 PalästinenserInnen die größte palästinensische Gemeinschaft in Europa. Es lassen sich drei Migrationshochphasen unterscheiden: die Studien- und Arbeitsmigration der 1960er Jahre, die Fluchtmigration von PalästinenserInnen aus den libanesischen Flüchtlingslagern vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkriegs in den 1980er Jahren und die jüngste Fluchtmigration der PalästinenserInnen aus den syrischen Flüchtlingslagern im Kontext des Syrienkriegs nach 2011.

PalästinenserInnen aus der Westbank, dem Gazastreifen oder Ost-Jerusalem, die in den 1960er Jahren nach Europa migriert waren, durften nach der israelischen Besatzung von 1967 nicht mehr zurückkehren. Zu Beginn der Besatzung führte Israel eine Volkszählung durch und stellte Identitätskarten aus. Diejenigen PalästinenserInnen, die nicht bei der Volkszählung erfasst wurden, weil sie sich beispielsweise im Ausland aufhielten, wurden nicht als EinwohnerInnen klassifiziert und verloren ihr Recht auf Rückkehr. Nur Minderjährige konnten im Rahmen von Familienzusammenführungen zurückkehren, wobei die zuständigen israelischen Behörden auch dies oft verhinderten. Bei dieser Praxis handelte es sich um eine Form der indirekten Vertreibung. PalästinenserInnen wurden damit in Europa zu Flüchtlingen sur place. Oft waren sie nach Europa migriert, um zu arbeiten, zu studieren und sich für die Rechte ihres Volkes einzusetzen. Sie waren vom Wunsch getrieben, die kollektive und oftmals auch persönliche Vertreibungserfahrung – viele von ihnen waren bereits als Kinder nach Gaza oder in die Westbank vertrieben worden – rückgängig zu machen und wurden gerade in diesem Moment selbst vertrieben – wenn auch auf indirekte Weise.

PalästinenserInnen, die in den 1980er Jahren aus dem libanesischen Bürgerkrieg geflohen waren, erfuhren in Deutschland wiederum meist jahrelange Kettenduldungen, da Deutschland sie nicht als politische Geflüchtete anerkannte und der Libanon sich aufgrund ihrer offiziellen Staatenlosigkeit nicht verpflichtet sah, sie zurückzunehmen. Die Unmöglichkeit der Abschiebung führte dazu, dass dieser Status über Jahre hinweg immer wieder erneuert wurde. So wurde ihnen das Recht auf höhere Bildung, Weiterbildung sowie berufliche Ausbildung und Arbeit verwehrt. Mit dem Duldungsstatus wurden die Menschen sozio-ökonomisch marginalisiert: Jahrelang lebten sie mit gepackten Koffern in ihrer Wohnung; jederzeit hätte die Ausländerbehörde sie zwingen können, Deutschland zu verlassen. Oder, wie es ein Gesprächspartner ausdrückte, es war, als hätten sie das libanesische Lager gegen das deutsche eingetauscht.

 

Tabuisierung systematischer Gewalt und Folgen

PalästinenserInnen in Deutschland bilden nicht nur die größte palästinensische Gemeinschaft in Europa, sondern bis vor kurzem auch die schweigsamste. Letzteres ist das Resultat der Tabuisierung ihrer Erfahrung, aber auch das Resultat der Tabuisierung ihrer Identität: Sichtbar gemacht wird Palästinensischsein meist mit Antisemitismus verknüpft. Die systematische Gewalt, welcher PalästinenserInnen ausgesetzt sind, endet deshalb nicht mit ihrer Vertreibung, sie setzt sich fort im Exil. All dies mündete für viele PalästinenserInnen vor allem der ersten Generation in eine traumatische Existenz: in Gefühle der Ohnmacht, Scham, Schuld, Melancholie, Isolation und Angst.

Aus der Traumaforschung wissen wir, dass Trauma kein individuelles Ereignis, sondern vielmehr ein kollektiver Prozess ist. Für die Bewältigung von Gewalterfahrung ist es essenziell, wie die Gesellschaft damit umgeht. Wiederkehrende Erfahrungen von Ausschluss, die Tabuisierung und Rechtfertigung von Gewalterfahrung sowie die Missachtung und das systematische Absprechen der eigenen Wahrnehmung wirken traumatisch. Um der Verletzung zu entgehen, Beschämung anstelle von Anerkennung von Leid zu erfahren und nicht als betrauernswerte Menschen gesehen zu werden, begannen viele, ihr Palästinensischsein zu verbergen oder zu verneinen. Ihr Gefühl der Missachtung als Menschen führte zu einer gefühlten Unsichtbarkeit, die auch die transgenerationale Beziehung prägte. Die Angst vor Sichtbarkeit und die Verknüpfung ihrer Gewalterfahrung und Identität mit Schuld und Scham schrieb sich dadurch – aber auch durch die eigenen täglichen Marginalisierungserfahrungen – auch in das Leben der zweiten Generation ein. Ein Gespräch mit einer Akteurin der zweiten Generation beschreibt, in welches Doppelleben dies mündete:

„Niemand redet darüber…im Geschichtsunterricht hörst du es nicht, ich habe es nie gehört in der Schule. […] Unsere Geschichte darf es gar nicht geben in der Weltgeschichte. Dabei […] ist es ja nicht erfunden oder ein Wunschgedanke. Es ist wirklich passiert. Und die meisten Leute wollen es einfach nicht wahrhaben. Die meisten Leute wollen einfach immer noch an der Version „das Land ist leer gewesen“, was überhaupt nicht stimmt, und „wir haben das Land aufgebaut“ festhalten […]. Es ist nicht so gewesen und ich verstehe nicht, warum man nicht über das reden darf. Man muss immer aufpassen, sei es in der Schule… sei es im Job, muss man aufpassen, dass man nicht irgendwie voll ins Fettnäpfchen tritt. Man muss immer als Palästinenser […] muss man sich wie verneinen. O. K., damit unser Leben hier draußen normal weitergeht, […], macht man da vielleicht äußerlich mit, aber ich finde innerlich, gerade im Kreis der Familie […] muss man da nicht mitmachen, sondern man muss auch drüber reden, und für mich ist klar, falls ich jemals in meinem Leben Kinder haben werde, wird das auch weitergegeben. Das ist für mich keine Frage. […] Auch sogar meine Mitschüler haben es nicht gewusst, dass man Palästinenser ist, und so bin ich aufgewachsen.“

Dies ändert sich zusehends mit den in den letzten Jahren immer unverhältnismäßiger werdenden israelischen Militäroffensiven in Gaza, die mittlerweile Zehntausenden von palästinensischen Zivilisten das Leben kosten, in der deutschen Öffentlichkeit aber immer noch vorwiegend als Selbstverteidigungskriege dargestellt werden. Eine Gesprächspartnerin erzählte mir, dass sie sich vor dem „Gaza-Massaker“ von 2014 in Bezug auf ihr palästinensisches Erbe „bedeckt gehalten“ habe, um sich zu schützen: Sie habe sich privat und öffentlich zensiert aus Angst vor Stigmatisierung, aber auch vor den Auswirkungen, die dies auf ihre Karriere haben könnte. Nach der israelischen Offensive 2014 habe sie diese Selbstzensur nicht mehr ertragen können und machte ihre palästinensische Identität sichtbar. Sie „zeigte ihr Gesicht“ in Interviews und schrieb Artikel „in ihrem eigenen Namen“.

Die sich parallel zur Gewalt der israelischen Militäroffensiven intensivierende Legitimation palästinensischer Gewalterfahrung in Deutschland weckt bei Akteuren der zweiten Generation immer stärkere Gefühle der Entfremdung von der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind. Eine Gesprächspartnerin beschrieb mir dieses Gefühl der Entfremdung zur Zeit der israelischen Militäroffensive in Gaza von 2014 wie folgt:

„Das wurde mir während eines sehr merkwürdigen Gesprächs darüber klar, wo meine Eltern begraben werden sollten, und sie sagten, na ja, wo immer ihr seid, wo immer unsere Kinder sind. Und ich sagte, ja, aber wo werden wir sein, ich weiß es nicht. Nun, ihr werdet wahrscheinlich in Deutschland sein, nicht wahr? [Anm. d. Verf.: Antwort der Eltern]. Und dann sagte ich, nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das sein werden. Und dann habe ich überlegt, wo ich beerdigt werden möchte. In Deutschland? Auf keinen Fall! Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass mein Körper in diese deutsche Erde kommt. Das war wirklich ein sehr seltsamer Gedanke, denn ich war nirgendwo anders länger als hier.“

Diese Gefühle der Entfremdung erreichen nun mit dem neusten Gaza-Krieg von 2023/24 ihren Höhepunkt. GesprächspartnerInnen erzählen, dass die Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld ihnen kaum Mitgefühl entgegenbringen. Hatten viele die mangelnde Empathie gegenüber ihnen davor noch als Unwissenheit entschuldigt, so deuten sie sie immer mehr als antipalästinensischen Rassismus. Die kontinuierliche Rechtfertigung palästinensischer Gewalterfahrung im öffentlichen Diskurs wird als unaufhörliche Wiederholung des kollektiven Traumas erlebt, ohne ein Ende in Sicht.

 

 

Der Text beruht auf den Ergebnissen der Dissertation der Autorin: Sarah El Bulbeisi (2020) Tabu, Trauma und Identität: Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und in der Schweiz, 1960-2015, transcript.

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