Spätestens seit Außenministerin Annalena Baerbocks Rede ist die feministische Außenpolitik in aller Munde. Doch wie ist es um eine feministische Asylpolitik bestellt? Dieser Beitrag zeigt: Eine feministische Umgestaltung der Asylpolitik ist nicht nur möglich, sondern bereits im Gange. Doch der Weg hin zu einer feministischen Asylpolitik, die den Namen verdient, ist noch lang.
Obwohl Frauen und Mädchen die Hälfte aller Geflüchteten weltweit darstellen, sind sie in der europäischen Asylpolitik und im medialen Diskurs unterrepräsentiert. Durch die Ankunft zahlreicher ukrainischer Frauen und Kinder seit dem Frühling 2022 veränderte sich das nur bedingt, ist doch das Bild des „klassischen Flüchtlings“ weiterhin vom „jungen, alleinstehenden Mann“ dominiert und verzerrt. Unschwer lassen sich für Frauen und Mädchen im Krieg und auf der Flucht geschlechtsspezifische Gefahren erkennen, die ihre Vulnerabilität erhöhen. Dazu zählen der Einsatz von Vergewaltigung als Kriegswaffe ebenso wie sexuelle Ausbeutung und Zwangsarbeit bis hin zu Ehrenmord, Zwangsverheiratung, Female Genital Mutilation (FGM) und häusliche Gewalt. Geschlechtsspezifische Gewalt geht dabei aber nicht nur von feindlichen Soldaten aus, sondern auch von Grenzpolizei, Schmugglern, Camppersonal und anderen Geflüchteten. Auch die Gesundheitsversorgung von Frauen auf der Flucht ist prekär, etwa was den Zugang zu Toiletten, Monatshygiene und Schwangerschaftsbetreuung betrifft, die auch in europäischen Flüchtlingslagern nicht immer gewährleistet ist. Dort sind sie der erhöhten Gefahr sexueller Übergriffe und Gewalt ausgesetzt. Ähnlich ergeht es queere Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlicher Identität vielerorts kriminalisiert und verfolgt werden. Auf der Flucht und in Aufnahmeländern sind sie Gewalt und Ausbeutung im besonders starken Ausmaß ausgesetzt. Die in den meisten Aufnahmeländern höher ausgeprägte Rate an Depressionen und Angststörungen bei Frauen und queeren Menschen zeugt von hoher Belastung sowie physischen und physischen Grenzerfahrungen vor, während und nach der Flucht.
Der Flüchtling: Gender Bias im Flüchtlingsrecht
Dem oft erhöhten Schutzbedarf von Frauen und queeren Menschen auf der Flucht steht ein männlicher Gender Bias im Flüchtlingsrecht gegenüber. Während der Zeit des Kalten Krieges war der idealtypische Flüchtling ein politischer Dissident und somit ein junger, politisch aktiver, (ost-)europäischer Mann, dessen Aufnahme sich nahtlos in die politischen Interessen des Westens einfügte. Diese politisierte und interessengeleitete Flüchtlingspolitik führte nicht nur zu einem eurozentrischen, sondern auch zu einem heteronormativen Bias in Schutzgewährung und Flüchtlingsaufnahme. Seit den 1990er-Jahren wurde der Bias zugunsten differenzierter Perspektiven behoben, unter anderem auch deshalb, weil sich die geopolitischen Interessen Europas wandelten. So ist etwa die pauschale Schutzgewährung für Frauen und Mädchen aus Afghanistan (siehe unten) nicht nur als Reaktion auf ihrer Gefährdung durch die Taliban, sondern auch als Ausdruck außenpolitischer Interessen zu verstehen. Dem Regime der Taliban wird dadurch seine Legitimität aberkannt und die westliche Akzentuierung von Menschen- und Frauenrechte bekräftigt. Ähnliches lässt sich auch bei der Schutzgewährung für queere Geflüchtete beobachten: Die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität wurde erst in den 2000er Jahren bedeutsam anerkannt. Auch hier wird der Schutz queerer Menschen dem Wettbewerb um die moralische Überlegenheit herangezogen.
Eckpunkte einer feministischen Asylpolitik
Dass Frauen- und queere Rechte aktuell (noch) als Aushängeschild der westlichen Moral gelten, ist also für die feministische Umgestaltung der Asylpolitik günstig. Unabhängig von geopolitischen Entwicklungen und asylpolitischen „Trends“ kann sich eine feministisch geprägte Asylpolitik an den „3R“, entlehnt aus der feministischen Außenpolitik, orientieren: Rechte, Ressourcen und Repräsentanz. Letzteres kann im Sinne eines intersektionalen Feminismus als Grundvoraussetzung und gleichzeitig als Fallstrick charakterisiert werden. Echte Repräsentanz von Frauen und Mädchen sowie weiteren strukturell benachteiligten Gruppen von Menschen mit Fluchterfahrung in Prozessen und Entscheidungen ist eine Vorbedingung, damit in Fragen der „Rechte“ und „Ressourcen“ niemand aufgrund von Systemfehlern ausgelassen oder benachteiligt wird. Konkret würde das bedeuten, Vielstimmigkeit so weit wie möglich in allen Phasen des Entscheidungsprozesses abzubilden und niederschwellige Konsultationsprozesse zu gestalten. Die feministische Asylpolitik trifft dabei, wie auch der Feminismus generell, auf radikal ungleiche und asymmetrische Machtverhältnisse in der Gesamtgesellschaft als größte Barriere. Gleichzeitig müssen auch (historische wie aktuelle) blinde Flecken des Gender Mainstreamings selbst adressiert werden, wie etwa der Schutz von LGBTQIA+ Geflüchteten oder von Männern, die als Deserteure und Kriegsdienstverweigerer oft als erste von Verfolgung durch autoritäre Regimes betroffen sein können. Abseits einer falschen Binarität von „Opferfrauen und Tätermännern“ müssen Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit im Kriegs- und Vertreibungssituationen immer als komplex wahrgenommen und kontextbezogen bewertet werden.
Wie können nun, abgeleitet von der „3R“ als Leitlinien, die wesentlichen Eckpunkte einer solchen feministischen Asylpolitik in Europa aussehen? Im Folgenden skizzieren wir mögliche Antworten auf diese Frage anhand von drei zentralen Bereichen, vom Zugang zu Schutz über Schutzgewährung bis hin zu Aufnahmebedingungen im Zielland.
Zugang zum Schutz
Erstens bedarf ein egalitärer Zugang zu Schutz legaler und sicherer Fluchtwege, die überproportional Frauen, Kindern und benachteiligten Gruppen zugutekommen. Wie an anderer Stelle im Fluchtforschungsblog dargelegt, ist die „zugegeben unausgewogene demografische Zusammensetzung der in Europa ankommenden Asylsuchenden nicht das Ergebnis des Asylrechts selbst“, sondern entsteht erst durch (als solche offen benannte und bewusst installierte) Abschreckungsstrategien des europäischen Asylregimes. Das Umgehen, Unterwandern, Inkaufnehmen dieser Abschreckungsstrategien führt zu einer ökonomischen und Bildungsselektion, da vermögendere, höher gebildete Menschen eher die Ressourcen haben zu fliehen und Schlepperdienste in Anspruch zu nehmen. Aufgrund der patriarchalen Prägung der meisten Gesellschaften sind das eher Männer als Frauen oder benachteiligte Gruppen. Diese intersektionelle Geschlechterselektion verstärken auch Gefahren und Herausforderungen auf den irregulären Migrationswegen. Tatsächlich schaffen es nur etwa 20% aller weltweit weiblichen Geflüchteten nach Europa. Dementsprechend folgert Bernd Parusel, dass „der Anteil von Frauen, Kindern oder älteren Menschen höchstwahrscheinlich steigen“ würde, wenn es sichere Einreisewege gäbe. Zu diesen zählen Resettlement-Kontingente ebenso wie humanitäre Visa oder, in manchen Vertreibungskontexten, die Möglichkeit der Asylantragsstellung an den diplomatischen Vertretungen vor Ort (vulgo „Botschaftsasyl“).
Daneben gehört im Rahmen einer feministischen Asylpolitik das Instrument der Familienzusammenführung gestärkt und ausgebaut, oder zumindest aktuellen politischen Tendenzen entgegenwirkt, die es zu beschneiden suchen. Aufgrund des demographischen (Selbst-)Selektionseffekts der Selbsteinreisenden sind es vor allem weibliche und minderjährige Familienangehörige, die so aus Krisen- und Konfliktregionen entkommen können. In vielen Ländern, wie etwa Österreich, stellt die Familienzusammenführung derzeit den einzigen sicheren und legalen Fluchtweg dar – der mit immer mehr bürokratischen Hürden belegt wird. Diese können im Extremfall über (Frauen-)Leben oder Tod entscheiden, wie das Beispiel der Havarie mit 500 Verunglückten im Juni 2023 in der Ägäis zeigt. Wie die Gewerkschaft Verdi öffentlich machte, befand sich unter ihnen auch die Ehefrau eines nach Deutschland geflüchteten Mannes. Sie hatte in einem Camp im Libanon gelebt und keine Möglichkeit gesehen, legal nach Deutschland nachzukommen, weil sie die mit dem Familiennachzug verbundenen Kriterien nicht erfüllen konnte. Ihr letzter Ausweg war das Boot, das vor Pylos kenterte. Das tragische Beispiel verdeutlicht, wie Familienzusammenführung (Frauen-)Leben durch legalen Zugang zu Schutz retten kann. Für queere Geflüchtete ist der Zugang zur Familienzusammenführung aktuell noch schwieriger, denn meist haben sie in ihren Herkunftsländer weder heiraten, noch elterliche Verhältnisse formalisieren können. Dies kritisiert ProAsyl unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Diskriminierung queerer Paare bei der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen.
Geschlechtsspezifische Verfolgung als Schutzgrund
Zweitens hält bezüglich der Schutzgewährung schon die Genfer Flüchtlingskonvention fest, dass der Flüchtlingsstatus jeder Person zu gewähren sei, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ geflohen ist.“ In dieser Formulierung liegt ein wesentlicher Ansatzpunkt für feministische Asylpolitik, wenn dieser auch nicht immer hinreichend umgesetzt wird. Denn Verfolgung aufgrund des Geschlechts (ähnlich wie bei der in den UNHCR Leitlinien und im EU Recht stärker kodifizierten Verfolgung aufgrund der Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung) werden in der Rechtspraxis unter Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ subsumiert, wie die 1990 vom UNHCR veröffentlichte Policy on Refugee Women und dazugehörige Leitlinien (1991-2011) explizit machen: Soziale Diskriminierung und Verfolgung aufgrund des (meist weiblichen) Geschlechts werden dezidiert als Gründe für die Gewährung von Asyl genannt. Beispielhaft ist hier die Schlussfolgerung der Europäischen Asylagentur (EUAA) aus dem Januar 2023, die besagt, dass Frauen und Mädchen in Afghanistan unter den Taliban pauschal von Verfolgung bedroht sind. Einzelne Länder wie Dänemark und Schweden sind dieser Country Guidance gefolgt und bieten mittlerweile Schutz für alle afghanischen Frauen und Mädchen ohne Einzelfallprüfung. Auch eine Re-Evaluierung älterer Anträge ist angedacht.
Ähnlich argumentierte auch ein EuGH-Urteil aus dem Januar 2024, welches geschlechtsspezifische Gewalt, „einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt“, gegen Frauen als Form der Verfolgung anerkennt. Auf dieser Grundlagekönnen betroffene Frauen aus Drittstaaten aufgrund ihres Geschlechts einen Schutztitel in der EU erhalten, wenn ihnen von Familien- oder Gemeindemitgliedern wegen eines Verstoßes gegen Traditionen oder religiöse Normen eine Gewalttat angedroht wird, bis hin zu Steinigung oder Hinrichtung. Das Urteil verweist explizit auf die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aus dem Jahr 2011, welche ein weiteres zentrales Grundlagendokument für die Ausgestaltung einer feministisch geprägten Asylpolitik darstellt.
Noch weiterreichender ist ein aktuelles Urteil des EuGH aus dem Juni 2024, welches festhält, dass Frauen, „die sich durch ihre Sozialisierung in einem EU-Mitgliedsstaat mit dem Grundwert der Gleichstellung von Frauen und Männern identifizieren, abhängig von der Situation im Herkunftsland, als Angehörige einer „sozialen Gruppe“ Asyl erhalten können. Anlassfall für dieses Urteil waren zwei junge Frauen aus dem Irak, die seit ihrer Jugend in den Niederlanden gelebt hatten und im Zuge ihrer bevorstehenden Abschiebung fürchteten, aufgrund ihrer nun feministischen Einstellung im Herkunftsland verfolgt zu werden.
Die Anerkennung der geschlechtsspezifischen Gewalt als Schutzgrund stellt eine relative neue Entwicklung dar, die auf die der Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung bzw. der Geschlechtsidentität baut. Doch auch bei queeren Menschen bleiben in der konkreten Anwendung in Asylverfahren Lücken und unzulässige diskriminierende Praktiken (etwa die Anmutung, die sexuelle Orientierung im privaten ausleben zu sollen). Um solche zu beseitigen hat im Jahr 2022 die deutsche Bundesregierung neue Dienstanweisungen für Asylverfahren erlassen und entsprechende Rechtsberatung vorgesehen (wobei die Finanzierung nicht ausreichen soll).
Mit Blick auf Schutzgewährung kann auch die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie im März 2022, die vorrangig flüchtenden Frauen und Kindern aus der Ukraine zugutekam, in ihrem Effekt, wenn auch nicht in ihrer Intention, als beispielhaft für die Gestaltung eines feministischen Aufnahmesystem betrachtet werden. Die visafreie Einreise und das Entfallen der Einzelfallprüfung, verbunden mit sofortigem Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen, ermöglichte eine niederschwellige Aufnahme und rasche Integrationsmöglichkeiten. Flucht und Ankunft waren zwar immer noch mit (geschlechtsspezifischen) Gefahren verbunden, jedoch wesentlich einfacher zu organisieren als für jene Frauen, die 2015/16 aus Syrien und Afghanistan nach Europa kamen.
Diskriminierung und Benachteiligung im Aufnahmeland beseitigen
Drittens sind auch nach der Ankunft im sicheren Zielland Anti-Diskriminierungsarbeit und Gender Mainstreaming im Asyl- und Integrationsbereich notwendig, wie auch die Resolution des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2016 festhält. Entsprechende Maßnahmen beinhalten etwa die Sensibilisierung von Polizei, Asylentscheider:innen, Betreuungspersonal für sexuelle Orientierungs- und geschlechterbasierte Gewalterfahrungen und Verfolgung sowie Retraumatisierung. Es bedarf der queer- und gendersensitiven Gestaltung von Unterkünften und Aufnahmezentren, etwa was getrennte Toiletten und Nassräume, abschließbare Zimmer und eigene Gebäude für Frauen, Kinder und queere Menschen betrifft. Kinderbetreuung während des Asylinterviews oder bei Deutsch- und Integrationskursen sollten genauso etablierte Praxis werden wie umfassende Gewaltschutzkonzepte, Rechtsaufklärung und weibliches Personal für Aufnahmezentren, Flüchtlingsunterkünfte und Asylverfahrensstellen. Die Notwendigkeit der Aufklärung zu und Prävention von Menschenhandel sowie Zwangsprostitution und -arbeit, etwa im Bereich der privaten Wohnraumspenden, hat zuletzt die Fluchtbewegung aus der Ukraine verdeutlicht.
Fazit und Ausblick
Abschließend lässt sich festhalten, dass eine feministische Umgestaltung der Asylpolitik denkbar und gar möglich ist, auch wenn Flucht und Vertreibung durch fundamentale Strukturen der Ungleichheit bedingt sind. Vielversprechend ist, dass das Selbstbild des Westens als Schutzpatron von Frauen und Minderheiten im Widerspruch zu den Effekten der Verhärtung seiner Asyl- und Grenzpolitik steht. Dies kann genutzt werden, um die Selbstverständlichkeit dieser Verhärtung zu unterminieren und anhand von feministischen Ansätzen das Asylsystem umzukrempeln. Ansatzpunkte für mehr (Geschlechter-)Gerechtigkeit in den Bereichen Zugang zu Schutz, Schutzgewährung sowie Aufnahmebedingungen im Zielland gibt es bereits. Eine vollumfängliche Umsetzung der „3 R“ würde allerdings eine sehr viel tiefere Umgestaltung von verhärteten Strukturen bedeuten. Aber wie immer im Feminismus gilt: Der Weg ist das Ziel.