Keine Lösung für Foltergefängnisse: Antirassistischer Widerstand zu Notfallevakuierungen in den Niger

Während europäische Debatten um die Auslagerung von Asyl oft von juristischen und ökonomischen Kritiken geprägt sind, ist in Afrika auch eine grundlegendere Rassismuskritik vernehmbar. Am Beispiel der Notfallevakuierungen aus Libyen in den Niger im Rahmen des Emergency Transit Mechanism (ETM) zeigt dieser Beitrag wie betroffene Geflüchtete und nigrische Beamt*innen den ETM als rassistisches und neokoloniales Projekt markierten und damit auf die Vision einer anderen Migrationspolitik, basierend auf einer Behandlung als Gleiche, verwiesen.

 

Gegenwärtige europäische Debatten kritisieren die Externalisierung von Asyl oft mit Blick auf die Verletzung der Menschen- und Verfahrensrechte der Asylsuchenden und die immensen Kosten dieser Verfahren. Solche Kritiken liefern valide Argumente für tagespolitische Debatten, riskieren jedoch diese Politiken weiter zu normalisieren. So mögen sie es als legitim setzen, überhaupt die Kosten eines Asylsuchenden zu bemessen oder die Abschiebung in einen ‚sicheren‘ Drittstaat vorzunehmen, wenn denn dort das Asylsystem ‚funktioniert‘.

Eine wichtige Form der Auslagerung von Asyl in Drittstaaten im Globalen Süden stellen sogenannte Notfallevakuierungen dar. Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) sieht sie als ein Schutzinstrument für besonders vulnerable oder gefährdete anerkannte Geflüchtete mit einem „dringenden Resettlementbedarf“. Das schließt Geflüchtete in Gefangenschaft ein. Sie sollen zuerst zu einem Transitort gebracht werden, wo ihr Resettlement organisiert werden kann.

Im Jahr 2017 schuf der UNHCR mit europäischen Geldern den „Emergency Transit Mechanism“ (ETM), um Schutzsuchende aus den libyschen Foltergefängnissen zu befreien und sie in den westafrikanischen Niger zu bringen. Dort sollten ihre Asylbegehren geprüft und sie anschließend resettled werden. Zwei Jahre später folgte Ruanda als weiterer Partnerstaat. Bis April 2024 sind im ETM knapp 6.500 Geflüchtete aus Libyen in die beiden Staaten evakuiert worden.

Trotz dieser Schutzfunktion war am ETM im Niger eine grundlegendere antirassistische Kritik vernehmbar als oft in Europa. Basierend auf meiner ethnographischen Feldforschung im Niger von 2018-2019 zeige ich in diesem Beitrag wie afrikanische Beamt*innen und Migrant*innen ihr Unvernehmen mit der europäischen Auslagerung des Asyls äußerten und sie als rassistisches, neokoloniales Projekt herausstellten. Über Rassismuskritik und Widerstände gegen eine ungleiche Kooperation mit Europa und dem UNHCR versuchten die Beamt*innen und Migrant*innen eine neue Migrationspolitik, basierend auf der Anerkennung als Gleiche, zu gestalten. Davon könnte Europa lernen.

 

Rassistische Gewalt sichtbar machen

Im Jahr 2017 veröffentlichte CNN ein Video, in dem afrikanische Migrant*innen auf einer Sklavenauktion in Libyen als wichtigstes Transitland in Nordafrika versteigert wurden. Die Bestürzung war groß in Afrika und weltweit. Zahlreiche Berichte belegten inzwischen die Folter und Schutzgelderpressungen, der Migrant*innen in Libyen ausgesetzt waren. Sie belegten auch die Beteiligung Europas an dieser Gewalt durch ihre Unterstützung der libyschen Küstenwache.

Auf der Höhe des internationalen Entsetzens über diese durch Migrationsabwehr mitproduzierte „Libyenkrise“ präsentierte der UNHCR den ETM als „Lösung“. Er sollte mit EU-Förderung 3.800 der vulnerabelsten Schutzsuchenden aus den lybischen Lagern in Sicherheit in den Niger bringen und später von dort resettlen.

Die evakuierten Geflüchteten wehrten sich gegen diese Präsentation des ETM als „Lösung“ für die Gewalt in Libyen. Eine von ihnen war Semret, eine junge Frau aus Ostafrika, die nach Libyen gegangen war in der Hoffnung Europa zu erreichen. Sie erzählte wie die libysche Küstenwache ihr Boot zurück nach Libyen schleppte und beschrieb das Lager, in dem sie und die anderen Insass*innen für Monate inhaftiert wurden, und die Gewalt durch ihre Peiniger. Für Semret war die Gewalt gegen Schwarze Migrant*innen, die sie in Libyen erlebt hatte, Unrecht.

In ihrer Kritik setzten die Evakuierten sich auch für weitere Evakuierungen aus Libyen ein. Einer von ihnen sagte: „Uns geht es gut, aber was ist mit unseren Landsleuten, die noch in Libyen sind?“ Sie kritisierten damit das unzureichende Ausmaß von Evakuierungen und den Fortbestand der Gewalt. Rund 5.000 Migrant*innen waren in Libyen inhaftiert. Jede Evakuierung schuf dort auch Platz für eine neue Inhaftierung.

In ihrer Kritik stellten die Evakuierten die erlebte rassistische Gewalt in Libyen heraus und setzten sich für weitere Evakuierungen ein. Der ETM, von UNHCR und EU als „Lösung“ für die Gewalt in Libyen präsentiert, setzte diese fort und legitimierte sie als vermeintlich verfügbares Schutzangebot für eine Minderheit anstatt sie zu beseitigen.

 

Humanitäre Grenzen herausfordern

In ihrer Kritik wehrten sich die Evakuierten auch dagegen, dass sie fortdauernd unter beschwerlichen Bedingungen im Niger festgehalten wurden, 3000 km südlich von Europa.

Semret und die anderen Evakuierten hatten in Libyen ihrer Evakuierung in den Niger zugestimmt, nachdem der UNHCR ihnen zugesichert hatte, dass es sich dabei bloß um „Transit“ handelte, um einen temporären Aufenthalt mit zeitnahem Resettlement nach Europa oder Nordamerika. Als ich Semret kennenlernte, wartete sie bereits seit über einem Jahr in der Hauptstadt Niamey auf die Asylentscheidung. „Warum bin ich hier? Es ist zu viel. Dieses Land ist nicht gut.“, kritisierte Semret. „Der UNHCR sagte uns, es ist nur Transit. Ich hatte kein Interesse daran, in den Niger zu kommen. Mein Plan war es, das Meer nach Europa zu überqueren.“

Das Warten im Niger bedeutete auch ein Ausharren in Prekarität. So sagte mir eine UNHCR-Verantwortliche im Niger: „Wir sind hier im ärmsten Land der Welt. Natürlich ist ein Geflüchteter hier nicht glücklich. Es gibt nicht einmal Arbeit für einen Nigrer.“ Auch wenn die Versorgung für die Evakuierten durch den UNHCR deutlich besser war, blieb sie ungenügend. Gerade an Gesundheitsversorgung, Hygieneartikeln und Kleidung mangelte es Semret. Sexarbeit war eine der wenigen Möglichkeiten etwas hinzuzuverdienen. Das hatte im muslimisch geprägten Niamey zu einer erhitzten öffentlichen Debatte geführt und den UNHCR unter Druck gesetzt. Semret rechtfertigte das: „Frauen müssen hier rausgehen und schlechte Dinge tun und dann mag das der UNHCR nicht. Aber was sollen sie denn tun?” Solange die humanitäre Versorgung ungenügend blieb und sich die Verfahren hinzogen, ging Semret die nötigen Schritte, um ihre Bedarfe sicherzustellen.
Gleichzeitig betonten Semret und ihre Freund*innen die Verantwortung des UNHCR für sie: “Der UNHCR brachte uns hierher. Er spielt mit uns. Wir können nichts tun. Wir sind in den Händen des UNHCR“, sagte mir Semret. Mehrere Dutzend von ihnen organisierten eine Demonstration im Botschaftsviertel und ein Sit-in vor dem UNHCR, um die Bearbeitung ihrer Fälle und Resettlement zu fordern. Die Demonstrierenden hielten Transparente mit der Aufschrift „Wir brauchen Lösungen“, „Wir appellieren an die Gerechtigkeit“, „UNHCR, keine Diskriminierung“ und „Wir sind Opfer“. Der Protest wurde von der nigrischen Polizei mit Tränengas zerstreut.

Semret und andere Evakuierte kämpften für die versprochene Umsiedlung nach Europa und eine Verbesserung ihrer Versorgung.

 

Souveränität behaupten

Mit Andauern des ETM regte sich auch unter den nigrischen Beamt*innen Widerstand.

Der Niger war 2017 das einzige afrikanische Land, das bereit war, den ETM zu beherbergen. Aufgrund dieser Vorreiterrolle hatten die nigrischen Zuständigen große Verhandlungsmacht bei der Ausgestaltung des ETM. Zu dieser Zeit sprach Frankreich als eine der treibenden Kräfte öffentlich von der Errichtung eines „Hotspots“ in Niamey. In einem Büro der französischen Asylbehörde OFPRA sollten französische Beamt*innen Asylverfahren durchführen und den Flüchtlingsstatus vergeben. Dies lehnten nigrische Politiker*innen vehement ab. Sie sahen im Hotspot-Modell eine Verletzung ihrer nationalen Souveränität. Stattdessen setzten sie ihre eigene Zuständigkeit in den Asylverfahren durch.

Diese und weitere Regeln wurden vertraglich festgehalten, jedoch schnell vom UNHCR unterwandert oder abgeändert. So gab es eine Obergrenze für die Zahl der Evakuierungen, die der UNHCR jedoch bald überschritt. Eine Beamtin kritisierte mir gegenüber: “Das ist nicht seriös. Normalerweise wird ein Schriftstück respektiert. Es ist ein Vertrag.“ Die Empörung der Beamt*innen wuchs als der UNHCR die Zuständigkeit für die meisten Asylentscheidungen an sich zog. „Der UNHCR macht es an unserer Stelle!“, rief einer von ihnen.

Angesichts dieser Frustration der nigrischen Beamt*innen bangten UNHCR-Vertreter*innen im Jahr 2019 um die Verlängerung des ETM. Letztlich hatte der UNHCR jedoch Erfolg.

Im ETM kämpften nigrische Beamt*innen um ihren Einfluss und ihre Souveränität gegenüber EU-Staaten und dem UNHCR. Sie nutzten ihre Handlungsmacht, um die Herrschaftsansprüche insbesondere der früheren Kolonialmacht Frankreich zurückzuweisen und den UNHCR zum Respekt von Verträgen zu bewegen.

 

Migration als Dekolonialisierung

Unter den Geflüchteten und Beamt*innen blieb die Migration nach Europa ein Bezugspunkt.

Semret und einige ihrer Freund*innen erwogen, dem Warten ein Ende zu setzen und selbst den Niger zu verlassen. Semret sagte mir: „Libyen ist besser als der Niger […] Viele von uns wollen zurück nach Libyen.“ Im Jahr 2021 schlussfolgerte der UNHCR, dass die meisten Evakuierten mit langer Wartezeit „entscheiden das Center zu verlassen und schwer zu verfolgen sind“. In diesen Entscheidungen steckt die Handlungsmacht der Migrant*innen. Studien haben längst belegt, dass sich afrikanische Migrant*innen den Risiken ihrer Migration bewusst sind und diese angesichts der mit ihr verbundenen sozialen Mobilität in Kauf nehmen. Die UN-Rassismusbeauftragte Tendayi Achiume hat diese Migration als „Dekolonialisierung“ gefasst.

Seit dem Putsch 2023 hat auch die neue Militärregierung im Niger deutliche antikoloniale Kritik an der westlichen Einflussnahme geäußert. Als die EU das neue Regime nicht anerkannte und Hilfszahlungen einstellte, entkriminalisierte dieses Ende 2023 die Transitmigration, da das zugrundeliegende Gesetz „nicht die Interessen des Nigers und seiner Bürger“ einbeziehe. Die EU reagierte angesichts der erwarteten Migrationsbewegungen nervös. Der ETM wurde allerdings unverändert weitergeführt.

Ein positives Verhältnis zur Migration als Abkehr von neokolonialen Machtverhältnissen fand sich so unter Geflüchteten und Beamt*innen und jüngst auch in der neuen Militärregierung.

 

Von der Grenze her denken

Vom Blickpunkt der betroffenen Geflüchteten und Beamt*innen im Niger ist eine grundlegendere Kritik an der Externalisierung von Asyl vernehmbar als oft in den europäischen Debatten.

Gegenwärtig bleibt ungewiss, in welche Richtung sich der Niger und der Sahel allgemein weiterbewegen. Doch die Abkehr von Europa verdeutlicht auch, dass die bisherige europäische Externalisierungspolitik – neben der Militärhilfe und Entwicklungspolitik – für die lokale Bevölkerung und Politik keine Lösung dargestellt hat. Der Sahel ringt in einer Polykrise um seine Zukunft. Seine Vergangenheit und Gegenwart waren von Migration geprägt. Seine Zukunft wird es mit großer Sicherheit auch. Eine Abkehr von den europäisch diktierten Migrations- und Asylpolitiken und der Versuch eigene Maßstäbe zu definieren ist nachvollziehbar.

In den selbstbewussten Forderungen der nigrischen Beamt*innen nach Souveränität und den Widerständen der Geflüchteten gegenüber rassistischer Gewalt und humanitären Grenzen ist eine Forderung nach der Behandlung als Gleiche enthalten. Sie steckt auch in ihrer Bereitschaft Migration als Mittel der Dekolonialisierung anzuerkennen.

Diese Kritiken fordern Europa zum Umdenken auf. In den Booten der libyschen Küstenwache und den Transitlagern im Niger sitzen schlecht versteckt die europäischen Ängste um die Zukunft. Auch Europa ringt derzeit angesichts von Klimawandel und Kriegen um ein Projekt, das nachhaltig Wohlstand, Sicherheit und Frieden verspricht. Gewaltsame Abschottung scheitert nicht nur beständig in ihrer Umsetzung. Sie scheitert auch als nur vermeintlich einigendes Projekt zwischen dem Westen und dem Rest. Eine zeitgemäße Migrationspolitik sollte die Frage der Gleichheit behandeln, statt sich der Illusion hinzugeben, durch Abwehr und die Auslagerung von Flüchtlingsschutz in Drittstaaten die massiven globalen Ungleichheiten unserer Zeit und die mit ihnen verbundenen Migrationsbewegungen adressieren zu können.

 

Eine längere Version dieses Artikels wurde ursprünglich als Teil der Initiative Externalizing Asylum: A Compendium of Scientific Knowledge publiziert.

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