Nach dem israelischen Einmarsch in den Süden des Libanons ist die Angst vor einer Eskalation der Gewalt groß – auch in Deutschland. Schließlich haben viele der nach Europa geflohenen Syrer:innen Familienangehörige im Libanon, um deren Wohlergehen sie sich nun sorgen. Dieser Beitrag beleuchtet diese Ängste und formuliert darauf aufbauend erste Schlüsse für Forschung und Politik: Während es für die Fluchtforschung wichtig bleiben wird, den Blick für transnationale Beziehungen zu schärfen, sollte die Politik in Anlehnung an Aufnahmeprogramme die Möglichkeit schaffen, dass syrische Geflüchtete in Anbetracht der Krisensituation im Libanon Familienangehörige nach Deutschland nachholen können.
Mit der am 1. Oktober 2024 begonnenen Bodenoffensive Israels im Libanon ist die nächste Stufe der Eskalation im Nahen Osten erreicht. Nach israelischen Angaben ist das Ziel der Aktion, die Hisbollah aus den Dörfern nahe der israelisch-libanesischen Grenze zu vertreiben und den Norden Israels so wieder sicher für israelische Bürger:innen zu machen. Zwar spricht das israelische Verteidigungsministerium von einer lokal begrenzten und lediglich auf die Hisbollah gerichteten Operation. Doch dürfte der Einmarsch schlimmste Erinnerungen in den meisten Libanes:innen wachrufen: Auch die Operation Litani, benannt nach einem Fluss im Südlibanon, begann 1978 mit einer solchen begrenzten Aktion und führte letztendlich zum ersten Libanonkrieg im Jahr 1982 mit über 20.000 Toten. Ziel der Operation war es, die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aus dem Süden des Libanons zu vertreiben, nachdem beim sogenannten Küstenstraßenanschlag 37 Menschen durch die Fatah, einer Untergruppe der PLO, ermordet worden waren. Wie lange die militärische Intervention diesmal dauern wird, lässt sich nicht sagen. Doch schon jetzt leiden die Menschen im Libanon unter dem Angriff. Laut einer Mitteilung des libanesischen Gesundheitsministeriums vom 3.10.2024 sind fast 2.000 Libanes:innen ums Leben gekommen, Tausende befinden sich auf der Flucht. Der katarische Nachrichtensender Al-Jazeera spricht von 110.000 Vertriebenen in den vergangenen elf Monaten.
„Wenigstens ist es sicher“ – Der Libanon noch vor wenigen Monaten
J. kam 2014 über die Türkei nach Deutschland. Sein Vater war schon vor dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs verstorben, seine Mutter lebt mit einer seiner Schwestern in Frankreich. Eine weitere Schwester wohnt mit ihrem Mann in Beirut. Sie hat J. seit über 10 Jahren nicht mehr gesehen. Er vermisse sie sehr, sagt J. im Gespräch, auch seine eigene Zeit im Libanon – vor seiner Flucht nach Deutschland lebte er dort für etwa zwei Jahre – habe er in guter Erinnerung. Dementsprechend hoffnungsvoll spricht er auch über seine Reisepläne in den Libanon. Zwar wurde sein erster Visumsantrag abgelehnt. Seit 2015 und erstmalig in der Geschichte der beiden Länder herrscht für Menschen aus Syrien nämlich eine Visumspflicht für Reisen in den Libanon. Doch hat J. bereits einen Einbürgerungsantrag in Deutschland gestellt. Mit dem deutschen Pass stehe der Rückkehr in den Libanon dann hoffentlich nichts mehr im Weg. „Oh, ich freue mich sehr. Meine Schwester zu sehen, auf Strand und Sonne, Shisha rauchen in Gemmayze [einem der Ausgehviertel in Beirut]“, erzählt J. lachend.
Auch mein Gesprächspartner A. hat Familie im Libanon. Er kam 2016 als sogenannter unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter nach Deutschland. Nach längerem Überlegen entschlossen er und seine Eltern sich gegen einen Familiennachzug. A. konnte bei Freund:innen der Familie unterkommen und war somit nicht auf sich alleine gestellt. Aufgrund einer chronischen Erkrankung der Mutter erschien die Reise nach Deutschland als zu beschwerlich. Außerdem hatten die Eltern vor ihrer Flucht in den Libanon Syrien noch nie verlassen, weshalb ein Ortswechsel als zu große Herausforderung auf sie wirkte. A. erzählt:
„Andere Sprache, andere Kultur, anderes Essen. Menschen sind ganz anders, das Wetter ist so kalt. Nein, nein. Das ist viel zu viel für Mama und Papa, weil sie sind auch alt und nicht mehr so stark. Mama ist auch immer sehr, sehr still gewesen, wenn wir über Deutschland geredet haben, also ob sie kommen soll. Normalerweise redet sie immer viel, aber dann war sie immer sehr, sehr still oder hat nur gesagt: Ich weiß nicht, ich weiß nicht.“
Darüber hinaus lebt auch ein älterer Bruder A.‘s im Libanon, auf dessen Unterstützung sich die Eltern verlassen konnten. Zwar überlegten sich die Eltern während der anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Krisen im Libanon, die 2019 in einer Reihe von Protesten mündete, sowie nach der Explosion im Beiruter Hafen 2020 mehrfach, ob sie den Schritt nach Deutschland nicht doch noch wagen sollten. Doch war A. in der Zwischenzeit volljährig geworden, weshalb ein Familiennachzug kaum mehr möglich war. Auch eine eigenständige Flucht erschien aufgrund der physischen Verfassung der Mutter als kaum realistisch. Zudem hatte sich die Sicht der Eltern auf ein Leben in einem anderen Land nicht geändert. Den Umstand, dass er und seine Eltern nicht im gleichen Land wohnen können, nimmt A. mit gemischten Gefühlen war:
„Ich vermisse Mama und Papa sehr, sehr, sehr. Ich habe sie nun seit, ich weiß nicht, sechs Jahren nicht gesehen, nur über Whatsapp-Call. Und natürlich schreiben wir täglich und wir telefonieren. Aber das ist einfach nicht das Gleiche, wie so, also wenn ein Mensch wirklich da ist, hier mit dir, verstehst du? […] Aber wenigstens sind sie sicher in Libanon, al-hamdulillah. Natürlich ist es nicht perfekt und manchmal denke ich auch, ein Krankenhaus hier in Deutschland ist besser, also für Mama, falls es ihr schlechter geht. Aber wenigstens ist es sicher.“
Das war im September 2023, bevor die Gewalt im Nahen Osten eskalierte.
„Es geht immer weiter“ – Die Angst um Familienmitglieder im Libanon
Nachdem die kriegerische Auseinandersetzung im Nahen Osten als Folge des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober auf Israel vermehrt auch auf den Libanon übergriff, kontaktierte ich A. und J., um mich um das Wohlergehen ihrer Familien zu erkundigen. Das Gefühl, ihre Verwandten zwar zu vermissen, aber sie immerhin in relativer Sicherheit zu wissen, ist nun der Sorge um deren Leib und Leben gewichen. Dass sie Angst um ihre im Libanon lebenden Familienmitglieder haben, erzählen mir beide. Besonders eindrücklich schildert mir dabei J. das Gefühl, in einer endlosen Gewaltspirale gefangen zu sein: „Und erst weg aus Syrien wegen des Kriegs, dann die Explosion [Hafenexplosion in Beirut 2020] und jetzt ist wieder Krieg. Ich habe das Gefühl, es geht immer weiter. Immer gibt es eine Katastrophe, nie Frieden.“ Sie empfinden eine große Hilflosigkeit, denn aus Deutschland könne man kaum Unterstützung bieten. „Ich kann nur fragen, wie geht es euch. Geht es euch gut? Und vielleicht reden und zuhören und trösten. Aber wirklich helfen, wirklich etwas machen, kann ich nicht“, so A.
Erschwerend kommt hinzu, dass für die beiden kaum Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges besteht. Zu präsent sind der noch immer tobende Bürgerkrieg in Syrien und die gewaltvolle Geschichte des Libanon. Zwar haben A. und J. den Krieg im Libanon selbst nicht erlebt, doch die Angst vor einem Wiederaufflammen der Gewalt ist in der libanesischen Gesellschaft ein ständiger Begleiter. Die mit Einschusslöchern übersäten Häuserwände überall in Beirut und Museen, wie z.B. das Beyt Beirut, erinnern tagtäglich an die blutige Geschichte des Landes.
„Der Krieg in Syrien ist nun schon seit, wann hat er angefangen? 2011, 2012, sowas. Der Krieg herrscht schon seit über zehn Jahren. Und auch damals im Libanon war der Krieg viele, viele Jahre lang, zehn, zwanzig, eine lange, lange Zeit. Manche sagen: Jetzt geht es schnell, weil Israel nur gegen die Hisbollah kämpfen will. Aber das glaube ich nicht.“
Ob und wann A. und J. ihre Familienangehörigen im Libanon wieder sehen werden, ist unklar.
Vorläufige Schlussfolgerungen für Politik und Forschung: Transnationalität und Anspruch auf Familiennachzug
Die Gespräche mit A. und J. zeigen: Flucht ist keineswegs ein linearer Prozess, der mit dem Verlassen eines Orts beginnt und mit der Integration an einem anderen Ort endet. Vielmehr pflegen viele Geflüchtete dauerhafte Beziehungen zu Freund:innen und Familienangehörigen, die im Herkunftsland oder einem Drittstaat leben. Diese transnationalen Praktiken finden aufgrund aufenthaltsrechtlicher Restriktionen zwar unter erschwerten Bedingungen statt, aber sie existieren. Wegen der libanesischen Visabeschränkungen für syrische Staatsbürger:innen konnten A. und J. ihre Familienmitglieder im Libanon beispielsweise noch nicht besuchen. Aber die Videocalls erlauben es ihnen, zumindest virtuell mobil zu sein. Solche transnationalen Beziehungen werden an manchen Stellen zwar als gescheiterte Integration gedeutet, für viele Migrant:innen bieten sie allerdings wichtige Fürsorge und das Gefühl von Zugehörigkeit. Zeitgleich sind die Geflüchteten in Deutschland durch sie aber auch von Krisen und Konflikten in anderen Ländern betroffen, wenn sie sich um das Wohlergehen ihrer Angehörigen sorgen müssen. Dementsprechend wichtig ist es, dass die Fluchtforschung ihren Blick für diese transnationalen Beziehungen und die damit einhergehenden Chancen und Herausforderungen schärft.
Die Gespräche mit A. und J. lassen darüber hinaus auch fragen, wie das Flüchtlingsrecht auf Gewalterfahrungen enger Familienangehöriger in Drittstaaten reagieren kann. Gewalterfahrungen sind – anders als oft angenommen – in den Biografien der meisten Geflüchteten kein singuläres Ereignis. Insbesondere Migrant:innen in Drittländern sind häufig auch noch Jahre nach ihrer ursprünglichen Flucht mit vielfältigen Formen der Gewalt konfrontiert – erst recht, wenn es wie aktuell im Libanon zu politischen Krisen oder kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. So berichtete die UN Anfang Oktober, dass aufgrund der israelischen Angriffe auf den Libanon bisher etwa 250.000 Menschen nach Syrien geflohen sind – darunter zahlreiche Syrer:innen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg in den Libanon geflohen sind und nun in ihre ehemalige Heimat zurückkehren. Dabei sei laut UN kaum anzunehmen, dass Syrien ausreichend Sicherheit biete. In solchen Kriegs- und Krisenszenarien sollte es die Möglichkeit geben, dass Geflüchtete ihre Familien zu sich holen. Ein Vorbild hierfür könnten humanitäre Aufnahmeprogramme von Bund und Ländern sein, die es erlauben, eine bestimmte Anzahl von schutzbedürftigen Menschen aufzunehmen und dabei Familienbeziehungen auch außerhalb der Kernfamilie zu berücksichtigen. Für syrische Staatsangehörige hat es solche Programme schon einige Male gegeben, so zum Beispiel die Aufnahmeprogramme für Syrer:innen durch den Bund in den Jahren 2013 und 2014 oder die verschiedenen Landesaufnahmeprogramme, die zum Teil auch einen Nachzug von Angehörigen außerhalb der Kernfamilie ermöglichen. Ein ähnliches Modell für den Libanon würde es ermöglichen, auf die aktuelle Krisensituation in der Region zu reagieren und syrischen Geflüchteten in Deutschland die Chance eröffnen, ihre Angehörigen nachzuholen. Ob die Menschen tatsächlich von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würden, ist allerdings unklar. Schließlich hängt die Entscheidung für oder gegen einen Familiennachzug von verschiedenen Faktoren ab, wie auch die Geschichte von A. und seinen Eltern zeigt. Doch hätten die Menschen vor Ort zumindest eine zusätzliche Handlungsoption, um auf Krisen zu reagieren.