Fluchtforschung vor Ort partizipativ gestalten: Rezension zum Handbuch „Migration Impact Assessment. A Toolbox for Participatory Practices“ von Stefan Kordel und Marika Gruber

Partizipative Ansätze gewinnen in der Flucht- und Migrationsforschung zunehmend an Bedeutung, doch wie lassen sie sich praxisnah umsetzen? Die Rezension stellt das Methodenhandbuch „Migration Impact Assessment – A Toolbox for Participatory Practices“ von Stefan Kordel und Marika Gruber vor.

 

Partizipative Ansätze zum Einbezug von Migrant:innen sowie zum Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis werden in der Flucht- und Migrationsforschung in den vergangenen Jahren zunehmend diskutiert (u.a. Blogbeitrag sowie Aden et al. 2019). Damit verbunden ist auch, dass die Forschenden ihre eigene Wissensproduktion und ihre Methoden zur Erforschung von Fluchtmigration kritisch hinterfragen. Das betrifft u.a. die Zusammenarbeit mit Praxispartner:innen, etwa in Kommunen, sowie die gemeinsame Entwicklung von Forschungsprozessen mit Geflüchteten und Migrant:innenorganisationen.

Das 109-seitige Handbuch „Migration Impact Assessment – A Toolbox for Participatory Practices“ von Stefan Kordel und Marika Gruber bietet für diese Zwecke kompakte Anleitungen und praxisnahe Einblicke in verschiedene angewandte Methoden in lokalen Forschungskontexten. Neben der gedruckten Ausgabe ist das Buch auch als Open Access E-Book zugänglich. Ziel des Handbuchs ist es, eine disziplinenübergreifende Sammlung praxisgeprüfter Methoden zur gemeinsamen Forschung mit Akteur:innen vor Ort vorzulegen, die  einer evidenzbasierten Entwicklung von Migrationspolitiken dienen können. Als Grundlage sehen die Herausgeber:innen hierfür das Erfassen („assessment“) von lokalen Migrations- und Integrationssituationen mit wissenschaftlichen Methoden und ihre Einschätzung und Bewertung („evaluation“).

Kordel und Gruber plädieren dabei für eine Nutzung partizipativer Methoden, unter denen sie vor allem den Einbezug von Praktiker:innen in die Forschung verstehen (S. 13). Sie setzen in ihrer Zusammenstellung bewusst auf kurze, prägnante Einführungen. Damit unterscheidet sich „Migration Impact Assessment“ von klassischen Methodenhandbüchern: Es bleibt durch sein übersichtliches Format kurzweilig und leicht verständlich, ohne an wissenschaftlicher Perspektive einzubüßen. Unterstützt von weiteren Autor:innen aus dem europäischen Verbundprojekt MATILDE werden verschiedene Forschungsmethoden vorgestellt, die in diesem Projekt bereits zum Einsatz kamen. Das Projekt untersuchte in ländlichen Räumen und Bergregionen in zehn europäischen Ländern, wie Migration die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen auf lokaler Ebene beeinflusst. Der Schwerpunkt der im Handbuch vorgestellten Methoden liegt auf verschiedenen qualitativen Ansätzen aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

 

Zu den Inhalten des Handbuchs

In Kapitel 2 gehen Stefan Kordel und Marika Gruber auf die Rolle der Positionalität von Forschenden, das Kennenlernen des (lokalen) Forschungskontextes sowie auf ethische Fragestellungen ein. Sie skizzieren zentrale ethische Herausforderungen für praxisnahe Projekte, die schon länger in der Fluchtforschung diskutiert werden  (u.a. Clark-Kazak 2017). Hierfür bieten sie relevante Verweise auf weitere Literatur an und legen Checklisten als Anregungen für Forschende bei.

Kapitel 3 widmet sich unterschiedlichen Forschungsmethoden. Die kurzen Kapitel eignen sich nicht nur für einen schnellen Einstieg in eine Methode, sondern bieten darüber hinaus einen Überblick über Vor- und Nachteile der vorgestellten Ansätze. Hierzu gehören Methoden verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen, u.a. Beobachtungs- und Begehungsmethoden, verschiedene Mapping-Methoden für Mobilität und soziale Netzwerke, qualitative Interviews oder Open-Space-Formate. Besonders hilfreich sind dabei die Hinweise zur Umsetzung („implementation“) aus der eigenen Forschungserfahrung, die wertvolle Tipps für den Forschungsalltag bieten und somit das Herzstück des Handbuchs darstellen.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Gestaltung partizipativer Auswertungsprozesse, während Kapitel 5 die Dissemination, also Verbreitung von Forschungsergebnissen, in den Blick nimmt. Das abschließende Kapitel 6 fasst noch einmal kompakt die vorgestellten Methoden in knappen Steckbriefen zusammen.

Aufgrund der knappen Darstellung des Themas bleiben einige Aspekte, insbesondere der Kapitel 4 und 5, zwangsläufig offen, die für Leser:innen eine wertvolle Ergänzung darstellen könnten. Insbesondere die Frage des Transfers von Forschungsergebnissen in Kapitel 5 ausführlicher behandelt werden, beispielsweise im Hinblick auf die Rolle von Geflüchteten- oder Migrant:innenorganisationen und wie diese aktiv in die Auswertung und Verbreitung der Ergebnisse eingebunden werden können, um einen Transfer in die beteiligten Communities zu ermöglichen. Hilfreich wäre auch die weiterführende Diskussion des Umgangs mit Machtungleichheiten und Rollenverteilungen zwischen den verschiedenen Projektpartner:innen – ein Aspekt, der besonders für die Fluchtforschung von großer Relevanz ist (siehe auch Bericht der 4. Konferenz des NWFF).

 

Fazit: Was bietet das Handbuch und für wen eignet es sich?

Das Buch richtet sich insbesondere an Forschende, die in Zusammenarbeit mit kommunalen Partner:innen und anderen Praxisakteur:innen Forschung entwickeln möchten. Für Wissenschaftler:innen, die ihre Methodenauswahl anwendungsorientiert gestalten wollen, bietet es eine wertvolle erste Orientierung. Die kurzen Einführungen in die einzelnen Ansätze, die übersichtlichen Literaturempfehlungen sowie die Vor- und Nachteile der einzelnen Methoden machen das Handbuch zu einer praktischen Einstiegshilfe insbesondere in der Phase der Projektkonzeption.

Zwar entstammt das Buch der Projektarbeit mit kleinen Kommunen, aber der Einsatzzweck der ausgewählten Methoden geht über diesen Fokus hinaus. Die Methodenauswahl wurde stark durch die geographische Forschungsperspektive des zugrundeliegenden Projektes geprägt und somit eignet sich das Buch besonders gut für alle sozialräumlichen Forschungsfragen, z. B. zu Ankommens- und Aufnahmeprozessen von Geflüchteten, zur sozialen Verortung oder zu Mobilitäten. Etwas abstrakt bleibt jedoch das im Titel angeführte „migration impact assessment“: Die Methoden sind insbesondere darauf ausgerichtet, lokale Migrations- und Integrationsstrukturen zu erfassen. Sie sind jedoch weniger geeignet für eine systematische Analyse von und für Migrationspolitiken, wie der Titel möglicherweise vermuten lässt.

Die Autor:innen sprechen insbesondere auch Praktiker:innen aus Verwaltung und NGOs an, für die sie die vorgestellten Methoden zugänglich machen wollen. Es ist jedoch fraglich, inwieweit Praktiker:innen als Zielgruppe im deutschsprachigen Arbeitsfeld durch das englischsprachige und wissenschaftliche Format des Buches konkret angesprochen werden. Somit empfiehlt sich stets eine Begleitung durch Forschende im Erarbeiten dieser Methoden. Zudem bleibt offen, welche Besonderheiten in der Zusammenarbeit mit Migrant:innenorganisationen bzw. Geflüchtetenorganisationen oder -communities (z. B. mit vulnerablen Gruppen) entstehen können und wie hier Transfer von Forschungsergebnissen konkret gestaltet werden kann. Hier bleibt das Handbuch vage.

Besonders geeignet ist dieses kompakte und kurzweilige Format sicherlich auch für die Anwendung in der Lehrforschung mit Student:innen, die sich einen Überblick über verschiedene Methoden verschaffen können, die über die Interview- oder Befragungsforschung hinausgehen. Anders als klassische Methodenlehrbücher ist „Migration Impact Assessment“ thematisch an die Besonderheiten der Migrations- und Fluchtforschung angepasst und bietet einen schnellen Überblick über Vor- und Nachteile sowie Literaturverweise von Methoden im Forschungsprozess.

Insgesamt ist das Handbuch ein praktisches Einstiegswerkzeug für alle, die sich (neu) mit Fluchtmigration und Kooperationen im Lokalen befassen – sei es in Forschungs-Praxis-Projekten oder in der Lehrpraxis.

 

Migration Impact Assessment. A Toolbox for Participatory Practices von Stefan Kordel und Marika Gruber, 2024, NOMOS-Verlag, 109 S., brosch., 29,– €, ISBN 978-3-7560-0447-8 oder als E-Book als Open Access  verfügbar.

Ein Rezensionsexemplar wurde der Autorin vom NOMOS Verlag zur Verfügung gestellt.

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