Am 2. September 2015 ertrank Aylan Kurdi bei dem Versuch, in Europa Schutz zu finden, nachdem er mit seiner Familie aus Kobane, Syrien, geflohen war. Sein Bruder und seine Mutter verloren bei der Überfahrt ebenfalls ihr Leben. Der Körper von Aylan Kurdi wurde am folgenden Tag angespült an der türkischen Küste gefunden. Das Bild dieses toten Kindes im Sand erzeugte einen Aufschrei in Europa und der Welt, einen Aufschrei mit der Forderung, dass sich an der Grenz- und Asylpolitik endlich etwas ändern müsse.
Das Bild schien eine Öffentlichkeit wachzurütteln, die angesichts immer neuer Tragödien im Mittelmeer scheinbar abgestumpft war. Während das Bootsunglück vor Lampedusa 2013 noch laute Empörung über die „Schande Europas“, nämlich eine Politik, die legale Fluchtwege verschloss und Menschen auf lebensgefährliche Überfahrten zwang, hervorgerufen hatte, schien es, dass die darauffolgenden Bootsunglücke immer weniger zu schockieren vermochten. Die Zahl der bei dem Versuch, Europa zu erreichen, Gestorbenen liegt bei mehreren Tausend pro Jahr. Ihre Erfahrungen, ihre Wut, ihre Anklage bleiben weitgehend ungehört, und die europäische Politik weitgehend unbeirrt. Dass das Bild Aylan Kurdis diese Betroffenheit und Verzweiflung hervorrief, ist nicht erstaunlich. Erstaunlich ist eher, dass nur ein solches Bild es mehr vermochte.
Das Bild des toten, angespülten Körpers tat dabei das, was die höchst asymmetrische Ausgangslage der europäischen Grenzpolitik den Fliehenden verwehrt: Sprechen. Wer in einem Asylverfahren ist, darf sich äußern. Das beseitigt zwar nicht die grundsätzlich asymmetrische Entscheidungssituation, aber es gibt zumindest Gelegenheit, zur Sprache zu kommen. Ein Gerichtsverfahren gewährt die Möglichkeit, Gehör zu finden. Die Entscheidung, keine legalen Fluchtwege zu eröffnen, lässt hingegen jeden Widerspruch der Betroffenen in der Ferne verhallen. Gegen die Gewalt des Mittelmeers kann man keinen Einspruch einlegen. Und so ist die physische Abschottung auch ein Sprachlos-Machen.
„Und Sie können sich noch einmal freuen […], daß Sie diesen Konflikt gewaltfrei gelöst haben, denn eine andre Gewalt hat ihn in Ihrem Namen gelöst.“ So lässt Elfriede Jellinek die Schutzbefohlenen sprechen. Dieser Satz fasst treffend zusammen, was wir in den letzten Jahren an den Süd- und Ostgrenzen Europas, aber auch in Australien und anderenorts beobachten können. Eine Politik, die den enormen Konflikten mit ihren Grundprinzipien auch dadurch aus dem Weg zu gehen versucht, indem sie Personen physisch fernhält. Die Ereignisse der vergangenen Wochen schienen diesen Versuch zeitweise zu unterlaufen. Die Menschen, die trotz aller Bemühungen, sie abzuhalten, einfach ankamen, die sich der Inhaftierung in Ungarn widersetzten, sich teilweise zu Fuß auf den Weg machten. Und auch das Bild von Aylan Kurdi durchkreuzte den Versuch, die Grenzpolitik als gewaltfrei erscheinen zu lassen.
Natürlich lief die darauffolgende Debatte Gefahr, ins Emotionale abzugleiten. Das wird der Situation nicht gerecht und ist mittelfristig für die Fragen, wie Europa mit seinen Grenzen umgehen soll, nicht hilfreich. Die aufgeworfenen Fragen verlangen nicht Mitleid sondern Rechtfertigung. Es geht nicht um Gefühle, sondern um Politik, und zuallererst geht es um die Frage, nach welchen Grundsätzen und mit welcher Vision die Europäische Union eigentlich handelt. Das Sprachlos-Machen der Abgewiesenen erlaubte es der EU letztlich auch, zu diesen Fragen zu schweigen.
Auch wenn sich an der Situation im Mittelmeer nichts geändert hat, sind in diesen Tagen die Augen auf die Ereignisse inmitten Europas gerichtet. Ereignisse, welche die Brutalität vorführen, die es mit sich bringt, wenn man Menschen, deren Anspruch auf Asyl weitgehend unbestritten ist, davon abhalten will, diesen Anspruch geltend zu machen. Die Bilder von Zäunen und Tränengaseinsätzen machen eine Gewalt sichtbar, die es oft geschafft hat, sich hinter eleganterer Abriegelung zu verbergen. Das soll das Vorgehen der ungarischen Regierung in keiner Weise entschuldigen, und die unerträglich fremdenfeindliche Rhetorik Orbans macht es leicht, Ungarn als Problem im europäischen Asylsystem darzustellen.
Es liegt aber viel Scheinheiligkeit in der Aufforderung, Ungarn solle sich gefälligst an seine Pflichten aus der Dublin-Verordnung halten. Das System der Zuständigkeitsteilung hat von Beginn an Länder an den südlichen Grenzen Europas übermäßig belastet. Nachdem die Mängel des Systems deutlich und vom EGMR und EuGH gerügt worden waren, ist Griechenland seit Ende 2012 von Rückführungen ausgenommen, und bildet Ungarn gewissermaßen den südlichen Rand des Dublin-Systems. Auf einer Fluchtroute, die sich daraus ergibt, dass noch immer keine legalen Zugangswege zu Asyl bestehen. Die geographische Lage der Mitgliedsstaaten verteilt die Argumentationspositionen ungleich.
An den Zäunen Ungarns, am Tunneleingang in Calais, an den wieder kontrollierten Grenzen mitten in Europa ist also die Gewalt des physischen Abweisens angekommen, die weitgehend unsichtbar blieb, so lange sie sich nur im Mittelmeer abspielte. So tritt die Präsenz von Flüchtlingen auch als politische Aussage auf, als Politik des Anwesend-Seins, die der Politik des physischen Fernhaltens entgegentritt. Diese Anwesenheit stellt Fragen, die sich nicht mehr werden wegschieben lassen: Nach einem gerechten Asylsystem in Europa. Danach, ob Europa frei entscheiden kann, wieviel es mit den Folgen des Konflikts in Syrien zu tun haben will. Und auch wenn ein großer Teil der Ankommenden gegenwärtig aus Syrien kommt, so geht es bei der Frage, inwieweit Europa seine Grenzen verschließen darf, noch um deutlich mehr: Um globale Ungleichheit, die ein unhaltbares Maß erreicht hat. Darum, dass die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen nach der Genfer Konvention und anderen Fliehenden brüchig geworden ist. Und es geht um die Frage, wer über diese Abgrenzungen in Zukunft legitimerweise wird entscheiden können.
Dieser Beitrag ist parallel auf dem Völkerrechtsblog und FlüchtlingsforschungsBlog erschienen.
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