In der Flüchtlingspolitik fällt häufig das Schlagwort „Sicherheit“. Dabei geht es meist um die (vermeintliche) Bedrohung der Aufnahmestaaten, seltener um die Sicherheit von Flüchtlingen. Um letztere angemessen zu adressieren, führt eine menschenrechtliche Perspektive weiter. Sie nimmt sowohl einige zentrale Fluchtursachen als auch Bedrohungen für Schutzsuchende während der Flucht in den Blick. Schließlich lassen sich so auch Gefahren ansprechen, die durch Verstöße gegen Flüchtlingsrechte in den Aufnahmestaaten drohen, etwa in Europa.
„Sagen Sie jetzt nicht Sicherheit“ verlangte Fabian Hanschen schon vor zwei Jahren in seinem Blogbeitrag zur deutschen Asyldebatte. Noch immer möchte man diese Aufforderung in die politischen und öffentlichen Kontroversen hineinrufen. Denn allzu oft steht dann nicht die Sicherheit der Flüchtenden im Fokus, sondern „unsere“ Sicherheit, die durch die Schutzsuchenden vermeintlich in Gefahr gerät; entweder aus einem diffusen Bedrohungsgefühl heraus, das „unsere“ Gesellschaftsordnung unterwandert würde, oder im Sinne einer konkrete Gefährdung durch Terrorismus und Kriminalität. So geraten unter dem Schlagwort „Sicherheit“ die Schutzsuchenden selbst und ihre Belange leicht aus dem Blick. Dabei sind sie nicht nur spezifischen Gefährdungen ausgesetzt, sondern vor allem auch TrägerInnen von Rechten. Letzteres sollte in der öffentlichen Debatte betont werden und nicht zwischen (vorgeblichen) Sicherheitsargumenten verloren gehen.
Sicherheit und Sicherheitsforschung im Kontext von Flucht und Migration
Tatsächlich ist die Verknüpfung der Themen Sicherheit und Migration keineswegs neu. Die politikwissenschaftliche Debatte um die (vermeintliche) „Versicherheitlichung“ der Flüchtlings- und allgemeiner der Migrationspolitik ist beispielsweise schon mindestens 20 Jahre alt. Gerade nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden solche Prozesse intensiv erörtert. Dabei standen die Sicherheit von Staaten im Fokus, meist der westlichen Aufnahmeländer, und deren Versuche, Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen unter Verweis auf Sicherheitsbedenken zu rechtfertigen. Vor allem in der Friedens- und Konfliktforschung werden Flüchtlingsbewegungen auch als Unsicherheitsfaktor für Nachbarländer von Konfliktgebieten analysiert. Anrainerstaaten sind in der Regel die ersten und primären Zufluchtsorte. Bereits latent vorhandene Konflikte in solchen Erstaufnahmestaaten können durch Flüchtlingsbewegungen verschärft werden, etwa auf Grund (noch) knapper werden Ressourcen oder demographischer Veränderungen. Auch die Mobilisierung, Politisierung und Militarisierung in Flüchtlingslagern stellen einen wichtigen Forschungsgegenstand dar.
Wessen Schutz?
In jüngster Zeit wurden derartige Gefährdungslagen aber auch in Bezug auf europäische Staaten öffentlich thematisiert. Verlautbarungen des sogenannten Islamischen Staats, man habe mit den Flüchtlingen tausende Kämpfer nach Europa geschleust, sorgten für Wirbel. Zwar wiesen deutsche Sicherheitsorgane solche Befürchtungen klar zurück, betonten aber, dass durchaus Versuche einheimischer Islamisten zu beobachten seien, die ankommenden Flüchtlinge für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Auch Befürchtungen, Flüchtlinge könnten Konflikte aus ihrer Heimat in Deutschland weiterführen, wurden laut.
Weit weniger thematisiert wurden Sicherheitsaspekte in der politischen Debatte bislang unter einer Perspektive der menschlichen Sicherheit, also der Sicherheit der Schutzsuchenden. Dabei werden diese selbst in „sicheren“ Staaten wie Deutschland noch Ziel von Aggression, wie die vielen rassistischen Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte überdeutlich machen. Obwohl in den letzten Monaten einige Debattenbeiträge mit Bezug zur menschlichen Sicherheit aufkamen, konzentrierten sie sich allerdings beinahe ausschließlich auf Schleuser, die eine Bedrohung für die Fliehenden darzustellen scheinen.
In ihrem 10-Punkte-Plan vom April 2015 setzte die Europäische Kommission die Bekämpfung von Schleppern ganz oben auf die Liste. Angelehnt an die Militäroperation Atalanta, die der Piraterie-Bekämpfung vor Somalia dient, stand sogar die Zerstörung von Schmugglerbooten als Maßnahme im Raum. Unerwähnt blieb in dem 10-Punkte-Plan freilich die Tatsache, dass Flüchtlingen mangels legaler Alternativen keine Wahl bleibt, als auf Schlepperdienste zurückzugreifen, um in die Europäische Union zu gelangen. So hat sich gezeigt, dass gerade verstärkte Grenzsicherung in bestimmten Regionen nicht zur Einstellung solcher Dienste, sondern zur Verlagerung von Routen führt, die dann häufig noch länger, gefährlicher und teurer für die Flüchtlinge werden. Unter dem Blickwinkel der menschlichen Sicherheit ist die Bekämpfung der Schleuser also durchaus ambivalent.
Flüchtlinge als RechteinhaberInnen statt als Sicherheitsobjekte begreifen
Nicht zuletzt aufgrund solcher Widersprüchlichkeiten, die sich unter dem Schlagwort „Sicherheit“ ergeben, bietet eine menschenrechtliche Perspektive einen besseren Ansatz, um Flüchtlingssituationen zu analysieren und zu adressieren. Dabei weist sie starke Berührungspunkte zur Perspektive der menschlichen Sicherheit auf, denn bei beiden steht das Wohlergehen der Schutzsuchenden im Vordergrund. Gleichzeitig aber weitet die Betonung von Menschen- und Flüchtlingsrechten den Blick. Es werden nicht nur einzelne Abschnitte von Fluchtprozessen ins Auge gefasst, etwa die Transitroute. Vielmehr macht eine solche Perspektive sowohl einige zentrale Fluchtursachen deutlich als auch die Gefahren, die während der Flucht drohen, sowie Rechtsverletzungen, die im Zuge der Aufnahme in Drittstaaten unterlaufen können. Außerdem bilden Flüchtlinge hier nicht nur ein – bedrohendes oder bedrohtes – Objekt von Politik. Sie sind weder entpersonalisierte Gefahrenquelle noch passive Opfer, sondern werden als Träger von kodifizierten Rechten anerkannt und somit zu anspruchsberechtigten Akteuren.
Oft sind es (auch) Verstöße gegen fundamentale Menschenrechte, etwa des Rechts auf freie Meinungsäußerung, auf körperliche Unversehrtheit oder Religionsfreiheit im bzw. durch den Heimatstaat, die Menschen zur Flucht zwingen. Beispielsweise stellten in Deutschland 2014 über 13.000 Personen aus Eritrea einen Asylantrag, einem Land, dessen menschenrechtliche Bilanz verheerend ist. Doch auch massive Armut und gesellschaftliche Marginalisierung gehen mit der Verletzung von wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten einher. Eine menschenrechtliche Perspektive erlaubt es somit erstens, die Ursachen erzwungener Migration ganzheitlich in den Blick zu nehmen, und entsprechend an ihrer viel beschworenen „Bekämpfung“ zu arbeiten.
Zweitens lassen sich so die Bedrohungen für Flüchtlinge während des Fluchtprozesses analysieren. Diese umfassen einerseits in der Tat Gewalt durch Schleuser, die Menschen beispielsweise willentlich in Seenot bringen oder durch andere kriminelle Gruppen, die Flüchtlinge und MigrantInnen entführen, misshandeln und deren Angehörige erpressen. Andererseits wird aber auch deutlich, wie Ziel- und/oder Transitstaaten Flüchtlingsrechte verletzen, indem sie den Zugang zu Schutzsystemen untergraben und effektiven und dauerhaften Schutz schuldig bleiben. Beispielsweise wurde europäischen Grenzschützern und Frontex vorgeworfen, das Prinzip der Nichtzurückweisung (non-refoulement) in sogenannten Push-back Aktionen verletzt zu haben. Ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit der Passagiere seien Boote abgedrängt und hilflos zurückgelassen worden. Damit kann den Flüchtlingen Gefahr drohen, letztlich wieder in den Verfolgerstaat zurückgeschickt zu werden.
Zu guter Letzt betont eine menschenrechtliche Perspektive unumstößlich das Recht auf Asyl und den Anspruch von Schutzsuchenden auf ein faires Verfahren. Innerhalb der Europäischen Union wurden hierfür Mindeststandards im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) erarbeitet. Doch die Implementierung des GEAS lässt stark zu wünschen übrig. Kürzlich hat die Europäische Kommission erste Schritte für 40 Verletzungsverfahren gegen 19 Mitgliedsstaaten eingeleitet, denen vorgeworfen wird, die Maßgaben des GEAS bislang nicht ausreichend umgesetzt zu haben. Bereits seit Jahren haben verschiedene europäische Gerichte Verstöße festgestellt. In seinem wegweisenden Urteil im Fall M.S.S gegen Belgien und Griechenland erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2011, die Abschiebung des Klägers nach Griechenland aufgrund der systemische Mängel im dortigen Asylsystem für unzulässig. Bis heute dürfen keine Überführungen von sogenannten Dublin-Fällen – also von Schutzsuchende, für deren Asylantrag nach Maßgabe der Dublin-Verordnung Griechenland zuständig wäre – mehr vollzogen werden.
Rechte sichern
Derartige Schutzlücken für Flüchtlinge lassen sich unter einer menschenrechtlich orientierten Perspektive herausstellen, fallen aber leicht unter den Tisch, wenn Sicherheit zum Dreh- und Angelpunkt der öffentlichen Debatte über Flüchtlinge wird. Sie läuft zunächst einmal Gefahr, Angst vor Flüchtlingen zu schüren, indem sie auf (angebliche) Bedrohungen durch Schutzsuchende verweist, ohne deren Sicherheitsbedürfnisse angemessen zu adressieren.
Der Fokus auf Rechte macht darüber hinaus auch deutlich, dass es nicht nur um den Schutz von Flüchtlingen vor unmittelbaren Bedrohungen von Leib und Leben geht, wie etwa im Rahmen der Seenotrettung. Vielmehr gilt es, zumindest langfristig Rechtsverletzungen in den Herkunftsstaaten zu überwinden, und unmittelbar ihrem Recht auf Schutz effektiv und nachhaltig Geltung zu verschaffen, auch in Europa.
In der Forschung haben Sicherheitsfragen ohne Zweifel ihren rechtmäßigen Platz, Politik und Öffentlichkeit sollten sich dadurch jedoch nicht verleiten lassen, in Debatten über Flüchtlinge zuvorderst „Sicherheit“ zu rufen. Stattdessen sollte ein lautstarkes Bekenntnis zu den Grundrechten aller Menschen gang und gäbe sein.
Der Beitrag ist parallel auf dem Sicherheitspolitik-Blog und dem FlüchtlingsforschungsBlog erschienen.