Europa bemüht sich nach wie vor damit, den Anstieg von Flüchtlingen zu bewältigen, wobei mehr als eine Millionen Asylsuchende über das Mittelmeer angekommen ist. Die meisten von ihnen sind Muslime. Diese Tatsache hat zwar die öffentliche und politische Meinung geprägt, wird aber selten offen und ehrlich diskutiert. Kann ein Europa mit 28 Mitgliedsstaaten die Verantwortung für eine kleinere Anzahl von Flüchtlingen übernehmen, als momentan alleine im Libanon sind? Natürlich kann es das. Tatsächlich brauchen die meisten europäischen Länder auch Arbeitskräfte.
Das eigentliche Problem, das unausgesprochen im Raum steht, ist die zugrundeliegende Islamfeindlichkeit. Die europäischen Mitgliedstaaten wollen muslimische MigrantInnen nicht wirklich willkommen heißen. Dies lässt sich ganz explizit im Fall von Ländern mit stark rechts orientierten Parteien sowie zentraleuropäischem Ländern mit christlichen nationalistischen Regierungen beobachten. Doch die liberale politische Elite in Westeuropa hat bisher vermieden zuzugeben, dass das größte Hindernis für eine kohärente Asyl- und Einwanderungspolitik die öffentliche Angst vor dem Islam ist. Rechtsextreme Parteien schüren diese Ängste und tragen zur Fremdenfeindlichkeit bei. Das restliche politische Spektrum schweigt jedoch meist zu diesem Thema.
Letztendlich kann es nicht sein, dass Europa glaubt, mit dem Anstieg von MigrantInnen nicht umgehen zu können. In der Vergangenheit ist es Europa auch mit weitreichenden Flüchtlingsbewegungen gelungen. Während des Kalten Krieges zum Beispiel flohen Millionen von Menschen von Ost- nach Westeuropa vor dem Kommunismus. In den 1980er und 1990er Jahren nahm Europa Hunderttausende vietnamesische Flüchtlinge und in den 1990er Jahren eine große Zahl von Geflüchteten aus Bosnien und dem Kosovo auf. Darunter waren auch viele Muslime – doch das war bevor der Islam politisch ‚giftig‘ wurde. Weitaus größere politische Skepsis gibt es gegenüber denjenigen, die vor ähnlichen Konflikten in Afghanistan, im Irak und inzwischen auch in Syrien fliehen.
In jüngster Zeit haben der Terroranschlag in Paris und die Berichte über sexuelle Übergriffe und Raub in Köln zu entscheidenden Wendungen in der Asylpolitik geführt. In Köln berichteten mehr als 100 Frauen und Mädchen davon, dass sie in der Silvesternacht von Männergruppen belästigt wurden. Die Behörden identifizierten die Angreifer als nordafrikanische oder arabische Männer; syrische Flüchtlinge wurden sofort mit einbegriffen. Die Gegenreaktionen waren äußert schnell und die öffentlicher Meinung – selbst im relativ migrantenfreundlichen Deutschland – wandte sich gegen Flüchtlinge. Die meisten Länder gingen zwar nicht so weit wie die Slowakei, die verkündete, nur noch christliche Flüchtlinge aufzunehmen, dennoch wird die europäische Politik von einer grundlegenden Angst vor dem Islam gelenkt.
Allgemein gesagt: Europas PolitikerInnen haben es nicht nur versäumt eine Vision zu formulieren, wie die Bevölkerung über Islam in Europa denken sollte, sondern auch Begriffe wie „Flüchtlinge“ und „MigrantInnen“ von „Terrorismus“ und „Kriminalität“ zu lösen. Europas Antworten waren konfus und heuchlerisch. Viele Länder haben sich verpflichtet, Zehntausende abzuschieben, obwohl sie wissen, dass dies logistisch nicht praktikabel ist. PolitikerInnen haben sich davor gedrückt, etwas Spezifisches über den Islam oder die Integration zu sagen, aus Angst vor künftigen Wahlniederlagen oder medialen Urteilen. Zudem sind in ganz Europa Politikstrategien entstanden, die liberalen Werten grundlegend widersprechen.
Statistisch gesehen gibt es keine größere Wahrscheinlichkeit, dass Flüchtlinge in Terrorismus oder Kriminalität involviert sind als die Allgemeinbevölkerung. Aber die Wahrnehmung ist von großer Bedeutung. Deutschlands offenes „Einwanderungsexperiment“ wird bereits durch ein altbekanntes Muster bedroht: Ein negatives Ereignis tritt ein, welches Flüchtlinge miteinschließt, die Medien stürzen sich darauf, die Rechtsextremen mobilisieren sich und die mitte-rechts-orientierten Parteien plädieren immer mehr dafür, die Grenzkontrollen zu verschärfen.
Was es so schwer macht, dieses Muster zu brechen, ist, dass es immer weniger Politiken des Zentrums gibt. PolitikerInnen der Mitte fürchten um ihren Stimmanteil; im Vereinigten Königreich beispielsweise ähneln die Dynamiken zwischen dem Oppositionsführer Jeremy Corbyn und dem konservativen Premierminister David Cameron der polarisierten politischen Atmosphäre der 1980er Jahre, als Margeret Thatcher Premierministerin war. Der Rückgang des politischen Zentrums wurde zum Teil durch sein eigenes Versagen verursacht, überzeugende Antworten auf Fragen der Globalisierung, Einwanderung und Integration zu finden. Die Linke spielt indessen die rhetorische Karte der bedingungslosen Aufnahme, während die Rechte die rhetorische Karte der Sicherheit spielt.
Die Polarisierung der Debatte hat einen Sprachmangel hinterlassen, durch den die übrigen moderaten PolitikerInnen ausdrücken können, wie EuropäerInnen über den Islam, Flüchtlinge und Migration denken sollten. Der Ausgangspunkt muss eine klare Artikulation und Bekräftigung liberaler Werte sein.
Grundsätzlich baut Europa auf dem gemeinsamen Glauben an die Freiheit jedes Einzelnen. Europäische Werte beinhalteten daher historisch den Einsatz für Menschenrechte, Demokratie, Geschlechtergleichheit, Redefreiheit, Religionsfreiheit und das Recht auf Asyl. Die meisten EuropäerInnen glauben immer noch an diese Werte, aber sie werden spärlich umgesetzt.
Zunächst einmal sollten EuropäerInnen kollektive Bestrafungen vermeiden. In Bornheim (Deutschland) wurde nach den Berichten über sexuelle Übergriffe allen männlichen Flüchtlingen der Zutritt zu öffentlichen Schwimmbädern verweigert. Diese Art der Politik sollte nicht akzeptiert werden. Selbstverständliche müssen Menschen, die nach Europa kommen, sich an die Gesetze und soziale Normen halten, aber Menschen sollten als Individuen verurteilt und bestraft werden.
Zweitens sollte Europa nicht schwanken und weiterhin an der Religionsfreiheit festhalten. In einer liberalen Gesellschaft müssen Menschen glauben dürfen, was sie wollen. Doch viele europäische Politiken sind implizit diskriminierend. In Cardiff (Vereinigtes Königreich) wurden AsylbewerberInnen dazu verpflichtet, stets rote Armbänder zu tragen – eine Maßnahme mit grauenhaften historischen Parallelen.
Drittens müsste sich Europa mehr bemühen, die Redefreiheit zu wahren. Eine Idee als „religiös“ zu bezeichnen, macht sie nicht unantastbar für Debatten und Kritik. Obwohl Hassreden eine Schwelle überschreiten, die eine Regulierung verlangt, sollten bloße Beleidigungen nicht unter Strafe gestellt werden. Charlie Hebdo’s Darstellung von Aylan Kurdi, dem dreijährigen syrischen Junge, der im Mittelmeer ertrank, als einen erwachsenen lüsternen Mann, sorgte für Empörung. Dabei war die Intention satirisch: diejenigen zu verspotten, die glauben, dass alle syrischen Flüchtlinge sexuell übergriffig werden. Darüber hinaus sollten PolitikerInnen der Versuchung widerstehen, Redefreiheit in Universitäten zu beschränken. Im Vereinigten Königreich zum Beispiel enthält ein Antiterrorismus-Gesetz fehlgeleitete Maßnahmen auch für Universitäten.
Letzten Endes muss Europa das Recht auf Asyl beschützen. Europäische PolitikerInnen müssen deutlich machen, warum Flüchtlinge eine unverkennbare und privilegierte Kategorie von MigrantInnen sind. Deutschland hat vorgeschlagen, diejenigen abzuschieben, die aufgrund einer Straftat verurteilt wurden. Das ist angemessen, jedoch mit einer Ausnahme: Flüchtlinge sollen nicht in Länder zurückgeführt werden, in denen ihnen Verfolgung droht. Die europäischen Werte schreiben vor, dass niemand, was auch immer er oder sie getan hat, jemals Verfolgung, Folter oder grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein sollte. Und dennoch gibt es eine zunehmende offene Debatte über die Abschiebung von Flüchtlingen. Zudem haben europäische Staaten strengere Richtlinien erlassen, um AsylbewerberInnen abzuschrecken, darunter Dänemarks Entscheidung, Flüchtlingen das Recht auf Eigentum zu verweigern und zeitliche Beschränkungen für den Familiennachzug zu verhängen.
Die Sicherheitsbedrohungen, die Europa erfährt, sind real. Der selbsternannte Islamische Staat (auch bekannt als ISIS) und andere terroristische Gruppen bedrohen Leben und Werte. Viele der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, fliehen selbst vor der Gewalt des ISIS. Der richtige Weg, um sicherheitspolitischen Herausforderungen zu begegnen, ist ein besserer Geheimdienst und Strafverfolgungen, und nicht etwa die Beschränkungen des Asylrechts. Das Vereinigte Königreich hat in den letzten 10 Jahren aufgrund seines ausgezeichneten Geheimdienstes Terroranschläge verhindern können, und nicht aufgrund seiner Einwanderungspolitik. Die Stärkung dieser Dienste, anstatt liberale Werte zu untergraben, ist die beste Antwort auf Terror.
Die letzte schwierige Frage, die sich EuropäerInnen vielleicht stellen: Ist der Islam vereinbar mit liberalen Werten? Generell ja. In der Ausgestaltung von Politiken wären PolitikerInnen gut beraten, den Islam nicht als inkompatibel mit dem Liberalismus zu betrachten, sondern vielmehr mit religiösen VertreterInnen zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass diese beiden Aspekte sich vereinen lassen.
Fragen der Migrationssteuerung und Integrationspolitik sind gerechtfertigte soziale Belange, doch ihnen muss mit einer informierten und rationalen Debatte begegnet werden. Vor dem Hintergrund des inkohärenten und konfusen Denkens braucht Europa eine neue Politik der Mitte. Diese muss auf Liberalismus bauen und sowohl die Fremdenfeindlichkeit der Rechtsextremen als auch den moralischen Relativismus der Linkextremen überwinden. Die Stärke des politischen Zentrums hängt von seiner Fähigkeit ab, praktikable Wege aufzuzeigen, um die in Europa aufkommende Politik der Angst in die richtige Richtung zu lenken. Nur dann wird Europa in der Lage sind, sich offen und ehrlich damit auseinanderzusetzen, wie mit Flüchtlingen und Migration in einer sich änderten Welt umzugehen ist.
Dieser Beitrag ist ursprünglich im Englischen unter dem Titel The Elephant in the Room. Islam and the Crisis of Liberal Values in Europe in Foreign Affairs erschienen.
Vielen Dank an Dorothee Fees, Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg für die Übersetzung!