Gemeinhin gelten sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität als im Asylrecht angekommmen – wer als (vermeintliche) LGBTIQ-Person verfolgt wird, kann sich auf den Flüchtlingsbegriff berufen. Wie so oft verschiebt sich der Fokus rechtlicher Auseinandersetzung damit in den Bereich von Ermittlung und Beweiswürdigung. Und hier ist noch einiges offen, wie der jüngste Aufruhr um das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gezeigt hat. Der Blogbeitrag nähert sich dem Thema aus drei Perspektiven: (1) Den unionsrechtlichen Grundlagen im Bereich sexueller Orientierung, (2) deren Relevanz für den Bereich geschlechtlicher Identität und (3) einem Blick auf die österreichische Praxis und mögliche Strategien für die Verfahrensführung.
„Weder Ihr Gang, Ihr Gehabe oder Ihre Bekleidung haben auch nur annähernd darauf hingedeutet, dass Sie homosexuell sein könnten“ – zur Zeit ein Satz mit zweifelhafter Berühmtheit. Der britische Guardian, der Sydney Morning Herald, die New York Times oder auch die spanische El País haben darüber berichtet, ‚was in Österreich geht‘ und wie der Asylantrag eines jungen afghanischen Staatsangehörigen abgewiesen wurde, weil er den Erwartungen und Vorstellungen des entscheidenden Beamten nicht genügte. Für „Spott und Empörung“ habe der österreichische Bescheid gesorgt. Auch widerspreche es der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), im Asylverfahren Fragen zu stellen, die ausschließlich auf stereotypen Vorstellungen beruhen. Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) bedauert den Vorfall.
Doch wie lassen sich sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität rechtlich korrekt ermitteln? Eine Frage, die zuletzt auch das ungarische Arbeits- und Verwaltungsgericht Szeged beschäftigt und schließlich den Mitausschlag für die EuGH-Entscheidung C-473/16 gegeben hat. Sie ist am 25.1.2018 ergangen und setzt den Mitgliedstaaten Schranken für die psychologische Begutachtung einer im Verfahren vorgebrachten sexuellen Orientierung.
Ausgehend vom EuGH-Judikaturbestand zur Ermittlung von sexueller Orientierung setzt sich der Blogbeitrag in drei Teilen mit Asylverfahren, sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität auseinander: Teil I widmet sich den bestehenden unionsrechtlichen Vorgaben für die Ermittlung sexueller Orientierung. Teil II fragt, ob sie auch für den Bereich geschlechtlicher Identität gelten und Teil III interessiert sich für Zukunftsperspektiven – auch über die österreichischen Grenzen hinaus.
Angelehnt an die Richtlinien Nr. 9 des United Nations High Commissionar for Refugees (UNHCR) stehen sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität in diesem Blogbeitrag für ein intersektional angelegtes Spektrum von Geschlechtern und Sexualitäten. Es bewegt sich jenseits der Heteronorm (als über heterosexuelles Begehren verknüpftes, binär angelegtes System von Cis-Geschlechtlichkeit). Während sexuelle Orientierung homo-, bi- und pansexuelles/queeres Begehren umfasst, steht geschlechtliche Identität für Trans*-, Inter-* und nicht-binäre/queere Geschlechter.
Teil I: Unionsrechtliche Vorgaben und Schranken im Bereich sexuelle Orientierung
Wer aufgrund einer bestimmten sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität von Verfolgung bedroht ist, kann auch asylrechtlichen Schutz beantragen. Damit ist noch keine global homogene Rechtslandschaft, wohl aber der aus österreichischer – wie deutscher – Perspektive maßgebliche rechtliche Rahmen angesprochen.
Zum Spannungsfeld zwischen Einzelfallprüfung und Grundrechtswahrung
Erste Vorgaben für die Ermittlung und Beurteilung einer vorgebrachten sexuellen Orientierung hat der EuGH im Jahr 2014 in den verbundenen Rechtssachen C-148/13 – C-150/13 gemacht. Hier hat er u.a. Prüfungen für unzulässig erklärt, die sich ausschließlich auf Stereotype stützen (Rz 62 und 73) – wie dem Bild eines grundsätzlich konfliktscheuen oder geselligen Homosexuellen.
Um ‚auf der sicheren Seite zu sein‘ könnte sich die Verfahrensführung nun ausschließlich auf die individuelle und persönliche Situation der Antragsteller*innen konzentrieren (siehe Rz 57 sowie Art 4 Qualifikationsrichtlinie). Dabei steht sie allerdings vor einem Problem: Mit der individuellen und persönlichen Situation betreffend sexuelle Orientierung ist ein grundrechtlich sensibler Bereich angesprochen. Um ihn zu schützen, hat der EuGH in der Entscheidung C-148/13 – C-150/13 auch hier Ermittlungsschranken gesetzt. Unzulässig sind detaillierte Fragen zu sexuellen Praktiken. Bildmaterial zu sexuellen Handlungen darf zudem nicht als Beweismittel akzeptiert werden (Rz 64 und 65).
Verzichtet die Verfahrensführung daher auf eine Prüfung der sexuellen Handlungsebene und versteht Sexualität (wieder) als Element von Identität, schließt sich der Kreis zu den eingangs angesprochenen Stereotypen: Selbst- und Fremdwahrnehmung der anderen (nicht-normativen) Sexualität rücken in den Vordergrund und die Gefahr erhöht sich, die vorgebrachte sexuelle Orientierung anhand von stereotyp geprägten Wahrnehmungs- und Beurteilungsmaßstäben zu beurteilen.
Zum aktuellen Problemfall von Stereotypen
Die Wirkmächtigkeit von Stereotypen hat nicht nur den EuGH beschäftigt. Sie wird auch international problematisiert. So identifiziert die International Commission of Jurists (ICJ) ‚westliche‘ Ausgangsperspektiven als zentrales Hindernis für eine sachgerechte Verfahrensführung. Der 2011 veröffentlichte Fleeing Homophobia Report zeigt wie unterschiedliche Stereotypen die Glaubwürdigkeitsprüfung in den EU-Mitgliedstaaten prägen. Und auch 2017 weist die EU Fundamental Rights Agency (FRA) noch darauf hin, dass ‚stereotypes Alltagswissen‘ in der asylrechtlichen Prüfung von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität ein Problem ist.
Welchen Pattsituationen Verfahrensparteien über stereotype Vorstellungen ausgesetzt sind, hat der jüngste Aufruhr um die österreichische Asylrechtspraxis zum Ausdruck gebracht. So legte der eingangs angesprochene Bescheid dem Antragsteller eine Unterschreitung stereotyper Erwartungshaltungen zur Last: “Es wird berichtet, dass Sie öfter Auseinandersetzungen mit anderen Zimmergenossen hatten. Ein Aggressionspotential ist bei Ihnen also vorhanden, das bei einem Homosexuellen nicht zu erwarten wäre. [Und weiter:] Freunde hätten Sie nicht sehr viele, das steht in Ihrem Bericht ebenso. Sind Homosexuelle nicht eher gesellig?” Wenige Tage später wurde ein – ebenfalls seitens des österreichischen BFA erlassener – Bescheid bekannt, mit dem ein Antrag wegen Übererfüllung stereotyper Erwartungshaltungen abgewiesen wurde: Der Antragsteller wirkte für die Wahrnehmung des BFA “zu mädchenhaft”, was der vorgebrachten Homosexualität die Qualifikation “lediglich gespielt” einbrachte. Beide Beurteilungen bewegen sich in einem widersprüchlichen Verhältnis zu den Vorgaben des EuGH.
Alternative Sachverständigengutachten?
Ein Ausweg könnte in der Heranziehung von Sachverständigen gesehen werden. Aber auch hier sind unionsrechtliche Vorgaben und Schranken zu beachten: Bereits im Jahr 2014 war der EuGH zu C-148/13 – C-150/13 mit so genannte phallometrische ‚Tests‘ befasst. Sie stellen auf körperliche Reaktionen zu pornographischen Inhalten ab (Rz 62). Diese ‚Tests‘ qualifizierte der EuGH kategorisch als Verletzung der durch Art 1 GRC absolut geschützten Menschenwürde (Rz 65).
Zu C-473/16 war dann im Jahr 2018 ein psychologisches Gutachten Thema. Es bediente sich projektiver Persönlichkeitstests, die vom Umgang mit Bildmaterial auf Persönlichkeitsmerkmale (hier: die sexuelle Orientierung) schließen wollen. Zu ihnen zählen etwa der mit Tintenkleksen arbeitende Rohrschach Test oder der ‚Zeichne einen Menschen im Regen‘-Test (Rz 22).
Diese projektiven Persönlichkeitstests hat der EuGH für rechtswidrig erklärt. Anders als im Fall der phallometrischen ‚Tests‘ (C-148/13 – C-150/13) hat er sich dazu im Wesentlichen auf Art 7 GRC (Recht auf Achtung des Privatlebens) gestützt. Im Gegensatz zur Menschenwürde (Art 1 GRC) ist nicht jeder Eingriff in das Privatleben rechtswidrig. Erst wenn ein solcher Eingriff unverhältnismäßig erfolgt, verstößt er gegen Art 7 GRC. Im Fall der psychologischen Begutachtung sexueller Orientierung hat der EuGH die Verhältnismäßigkeit entlang der Frage beurteilt, ob das Gutachten für die Erreichung eines zulässigen Ziels – hier: Ermittlung der Flüchtlingseigenschaft – geeignet und erforderlich ist (Rz 56). Für die projektiven Persönlichkeitstest hat er das verneint, Gutachten zur Überprüfung der Umstände und Tatsachen im Zusammenhang mit einer vorgebrachten sexuellen Orientierung (im Rahmen der grundrechtlichen Schranken) aber nicht generell für unzulässig erklärt. Im Zusammenhang seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung finden sich – über die Grenzen der projektiven Persönlichkeitstests hinaus – Maßstäbe für die Verfahrensführung:
In der Frage, ob überhaupt ein Gutachten eingeholt wird, gilt es zu beachten, dass die Flüchtlingseigenschaft nach Art 10 Abs 2 QualifikationsRL auch aufgrund unterstellter sexueller Orientierung erfüllt sein kann (Rz 31). Die Begutachtung der ‚echten‘ sexuellen Orientierung kann sich also bereits aus diesem Gesichtspunkt erübrigen. Außerdem bedürfen kohärente und plausible Aussagen gemäß Art 4 Abs 5 QualifikationsRL grundsätzlich keines Nachweises – und dementsprechend keiner gutachterlichen Überprüfung (Rz 68).
Weiter müssen die Mitgliedstaaten ausreichend Personal zur Verfügung stellen, das über die Fachkompetenz verfügt, Asylanträge im Zusammenhang mit sexueller Orientierung zu beurteilen (Rz 67). Als geeignet kommt ein Gutachten schließlich nur dann in Frage, wenn es „nach den von der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft anerkannten Normen als hinreichend zuverlässig“ (Rz 58) gilt (lege artis Anforderung).Wird im Einzelfall ein Gutachten eingeholt, darf sich die Entscheidung über den Asylantrag nicht allein auf die Ergebnisse eines Gutachtens stützen und im Fall einer Überprüfung der Glaubwürdigkeit darf die entscheidende Instanz „erst recht“ (Rz 42) nicht an diese Ergebnisse gebunden sein. In jedem Fall darf ein entsprechendes Gutachten nur mit Einwilligung der Antragsteller*innen eingeholt werden (Rz 53).
Teil II: Was bedeutet das für geschlechtliche Identität?
Wie verhält es sich nun mit dem Bereich geschlechtlicher Identität? Ist die (psychologische) Begutachtung hier (ohne weiteres) zulässig?
Zum Interpretationskontext der Yogyakarta Prinzipien (plus 10)
Gegen eine solche Annahme spricht schon, dass der EuGH in seiner letzten Entscheidung zur psychologischen Begutachtung (C-473/16) auf einen menschenrechtlichen Interpretationskontext zurückgegriffen hat, der sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität gleichsam anspricht: die Yogyakarta Prinzipien.
Sie beleuchten Menschenrechte aus LGBTIQ-spezifischer Perspektive, wurden im Jahr 2007 veröffentlicht und 2017 unter dem Titel ‚plus 10‘ ergänzt. Neu sind u.a. die Begriffe ‚Sex Characteristics’ und ‚Gender Expression’, über die nicht zuletzt die Rechte inter*geschlechtlicher Menschen inkludiert wurden. Verfasst wurden die Yogyakarta Prinzipien von internationalen Expert*innen. Die Prinzipien selbst sind jeweils nicht rechtsverbindlich, sondern (allenfalls) das angesprochene Menschenrecht.
Der EuGH hat die Yogyakarta Prinzipien in seiner Entscheidung zur psychologischen Begutachtung (C-473/16) als internationalen Interpretationskontext herangezogen. Konkret hat er sich auf Prinzip 18 bezogen, wonach niemand aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität zu einer psychologischen (oder medizinischen) Untersuchung gezwungen werden darf (Rz 62). Auch darauf basierend hat der EuGH die Begutachtung im Asylverfahren – selbst bei Einwilligung – als schweren Eingriff in das Privatleben gewertet.
(Un)Zulässigkeit sachverständiger Gutachten im Bereich geschlechtlicher Identität
Vor diesem Hintergrund ist schließlich eine genauerer Blick auf die EuGH-Entscheidungen zu C-148/13 – C-150/13 und C-473/16 zu werfen. Das erste Urteil verfügt für den Bereich geschlechtlicher Identität insofern über eingeschränkte Aussagekraft, als es mit phallometrischen ‚Tests‘ zur Überprüfung von Homosexualität eine sehr spezifische Konstellation behandelt. Sollten solche Tests im Bereich geschlechtlicher Identität Anwendung finden, werden sie allerdings ebenso als Verletzung der – absolut geschützten Menschenwürde – einzustufen sein.
Bedeutsamer ist die Frage, ob die psychologische Begutachtung der geschlechtlichen Identität eine Verletzung des Rechts auf Privatleben (Art 7 GRC) darstellt (C-473/16). Einige Aspekte sprechen dafür: Ebenso wie die sexuelle Orientierung bildet die geschlechtliche Identität einen höchstpersönlichen, durch das Recht auf Privatleben geschützten Bereich (vgl. EGMR, Christine Goodwin vs UK, 28957/95 sowie auch EuGH, C-473/16, Rz 61). Zu bedenken ist ebenfalls, dass Transsexualität in der jüngst veröffentlichten Diagnoseklassifikation ICD-11 aus dem Bereich psychischer Störungen gestrichen wurde.
Auch die Maßstäbe der zu C-473/16 vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung scheinen nicht zwangsläufig auf den Bereich sexueller Orientierung beschränkt. So stützt der Gerichtshof den Eingriff in das Privatleben (Art 7 GRC) einerseits darauf, dass die Begutachtung unter einem existenziellen Druck erfolgt. Dieser Druck ergibt sich aus der Position einer um Asyl suchenden Person (Rz 53), nicht aus der vorgebrachten sexuellen Orientierung. Andererseits hat der EuGH, wie angesprochen, die Yogyakarta-Prinzipien ‚ins Spiel gebracht‘, die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität gleichsam ansprechen.
Schließlich ist gemäß Art 10 Abs 2 QualifikationsRL auch die unterstellte geschlechtliche Identität relevant für die Erfüllung der Flüchtlingseigenschaft und die Ermittlung der ‚echten‘ geschlechtlichen Identität kann sich – ebenso wie im Fall der sexuellen Orientierung – erübrigen. Die Vorgaben zur Einzelfallprüfung (Art 4 QualifikationsRL) greifen auch im selben Ausmaß. Ein widerspruchsfreies Vorbringen wird daher keiner gutachterlichen Bestätigung bedürfen und es ist nicht davon auszugehen, dass ein – im Rahmen der rechtlichen Vorgaben zulässiges – Gutachten als bindend/einzige Entscheidungsgrundlage verstanden werden darf.
Teil III: Konsequenzen und Perspektiven für die Zukunft
Welche Konsequenzen können sich aus der Entscheidung C-473/16 für nationale Verfahrenskontexte ergeben? Und inwieweit lässt sich eine vorgebrachte sexuelle Orientierung/geschlechtliche Identität überhaupt rechtlich zulässig überprüfen?
Begutachtungspraxis am Beispiel Österreich
Während sich in der österreichischen Asylrechtspraxis weder phallometrische noch projektive Persönlichkeitstests finden, scheinen sehr wohl psychologische Gutachten zur sexuellen Orientierung auf; vereinzelt auch psychiatrisch-neurologische Gutachten zur geschlechtlichen Identität (AsylGH, D7 311918-1/2008). Die Gutachten betreffend sexuelle Orientierung sind ungleich häufiger vertreten und weisen ein gemeinsames Begründungselement auf:
„Die Befundung basiert auf den heutigen Erkenntnissen der Human- und Sexualwissenschaften, auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Coming-Out-Prozess gleichgeschlechtlich sowie bisexuell empfindender Menschen (Coleman, 1982 u. Cass, 1984), auf den neuesten Studien zum Sexualverhalten von Männern und Frauen (z.B. Kinsey-Skala), auf den Erkenntnissen zum Raster der sexuellen Orientierungen (Klein et al., 1985), auf dem Konzept und der Technik der sexualtherapeutischen Einzelexploration nach dem Hamburger-Modell (Hauch, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, 2006) sowie jahrelanger psycho- und sexualtherapeutischer Erfahrung vor allem in den Schwerpunktbereichen sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten. […] Der Entwicklungsprozess des Coming-out […] umfasst auf der einen Seite einen innerpsychischen Vorgang, nämlich das Gewahrwerden und schließlich die Gewissheit, lesbisch, schwul oder bisexuell und nicht heterosexuell zu sein, und auf der anderen Seite eine soziale Dimension, bei der es um den Weg geht, sich entsprechend der sexuellen Orientierung zunehmend auch in der Öffentlichkeit zu präsentieren und einen eigenen Lebensstil zu finden.“ (Vgl. etwa BVwG, W199 1424365; BVwG, W199 1436548 sowie etwa AsylGH, C5 257855).
Diese Befundung erscheint in zweierlei Hinsicht problematisch: Mit Blick auf die lege artis-Anforderung fällt auf, dass die herangezogenen Quellen älteren Datums sind. Teilweise liegen sie vor 1990 und fallen damit in den Zeitraum, in dem Homosexualität noch als Krankheit in der Diagnoseklassifikation ICD-9 aufschien. Der gebrauchte Geschlechterbegriff ist binär angelegt und fällt damit hinter die Begriffsstandards der UNHCR-RL Nr. 9 zurück.
Kritisch erscheint auch die implizite Voraussetzung, dass homo- und bisexuelle Personen über die Möglichkeit und (qua Identität) den Wunsch verfügen, ihre sexuelle Orientierung öffentlich zu präsentieren und einen eigenen (nicht-normativen) Lebensstil zu finden. Sie dürfte auf einer Verallgemeinerung therapeutischer Erfahrungen und Literaturrecherche in ‚westlichen‘ Kontexten zurückzuführen sein, die (asylrechtlich relevanten) Lebenssachverhalten nicht zwangsläufig gerecht wird.
Um eine unionsrechtskonforme Einzelfallbeurteilung sicherzustellen, können die Ergebnisse eines solchen Gutachtens in Zukunft wohl nur eingeschränkt herangezogen werden. Dessen Eignung zur Überprüfung der Flüchtlingseigenschaft wird – zumindest – nicht in jedem Fall ausreichen, um den schweren Eingriff in das Privatleben zu rechtfertigen.
Kontakte zur ‚Szene‘ im Herkunfts- und Aufnahmestaat als Ermittlungsalternative?
Eine Ermittlungsalternative bieten schließlich Kontakte zur ‚LGBTIQ-Szene‘ in Aufnahme- und Herkunftsstaat (siehe z.B. BVwG, I403 2169097-1 oder BVwG, W159 2112334-1). Sie ist für eine sachgerechte Verfahrensführung durchaus nutzbar, umschifft sie doch das Dilemma von sexuellen Handlungen und sexueller Identität (Teil I). Einzelfallbezogene Sensibilität ist freilich auch hier geboten: Kontakte zu LGBTIQ-spezifischen Organisationen und Treffpunkten setzen voraus, dass Betroffenen der Beziehungsaufbau möglich war, und dass sie Interesse an einer solchen Kontaktaufnahme hatten.
In Österreich wird dabei zu berücksichtigen sein, dass Beratungsangebote für LGBTIQ-Flüchtlinge noch dünn gesät sind; die einzig spezialisierte Anlaufstelle bildet die Queer Base in Wien. Im Besonderen dort, wo Unterbringung in abgelegenen Strukturen erfolgt, ist die Gefahr von Isolation hoch einzuschätzen. Subjektive Faktoren wie eine Biographie des Versteckens, Scham und Angst können sich entsprechend erschwerend auswirken. Und schließlich gilt es zu beachten, dass fehlendes Interesse an einer Kontaktaufnahme mit LGBTIQ-Organisationen in keinem sachlich zwingenden Zusammenhang mit (etwa) Heterosexualität steht. Dasselbe gilt für den Bereich der Herkunftsstaaten; hier tritt die drohende Verfolgungsgefahr erschwerend hinzu.
Zusammengefasst lässt sich hier der folgende Grundsatz formulieren: Wo Kontakte zur ‚LGBTIQ-Szene’ im Aufnahme- und/oder Herkunftsstaat vorgebracht werden, wird das als Indiz für die Glaubwürdigkeit der vorgebrachten sexuellen Orientierung/geschlechtlichen Identität zu werten sein. Als unzulässig wird der (zwingende) Umkehrschluss zu werten sein. Bloß weil solche Kontakte nicht bestehen, wird nicht automatisch von fehlender Glaubwürdigkeit auszugehen sein.
Freilich sind auch mit der Perspektive auf ‚Szenekontakte‘ nicht alle Probleme ‚vom Tisch‘. Zum Abschluss soll daher auf einen so profanen wie bedeutsamen Hinweis der FRA verwiesen sein: Für sie ist die EU-Asylrechtspraxis nach wie vor zurückhaltend im Umgang mit sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität und greift häufig auf (stereotypes) Alltagswissen zurück. Als mögliche Hilfestellung macht die FRA zu Recht die UNHCR Richtlinien Nr 9 stark. Sie sind für die Vertragsstaaten der GFK beachtlich (Art 35 GFK), bauen mit den Yogyakarta-Prinzipien auf den aktuellen Stand der menschenrechtlichen Debatte auf und stellen der Praxis ein umfangreiches Begriffsrepertoire und konkrete Eckpunkte für eine sachgerechte Verfahrensführung bereit.
Dieser Blogbeitrag basiert auf einer in der Ausgabe 1/2018 der MigraLex – Zeitschrift für Fremden- und Minderheitenrecht erschienenen Entscheidungsbesprechung. Für die wertvolle Unterstützung bei seiner Erstellung bedanke ich mich bei Marie-Luise Hartwig.