Appellierende Überlegungen für die beschwingte Flucht- und Flüchtlingsforschung

Nach einem Boom des Forschungsfeldes befindet sich die Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland an einem Wendepunkt. Für ihre nachhaltige Etablierung gibt es wichtige Gründe, aber auch entscheidende Herausforderungen. Sie bedarf neben theoretisch-konzeptioneller Innovation, einer Verbindung von lokalen, nationalen und globalen Perspektiven sowie disziplinärer wie interdisziplinärer Verständigung auch einer Herausbildung wissenschafts- und hochschulpolitischer Strukturen. Das Netzwerk Fluchtforschung nimmt eine wichtige Rolle in diesen Prozessen ein, doch die Zukunft der Flucht- und Flüchtlingsforschung wird durch die beteiligten Wissenschaftler*innen bestimmt.

 

Vor nunmehr fünf Jahren wurde auf einer kleinen Tagung in Berlin das Netzwerk Flüchtlingsforschung gegründet, das von seinen Mitgliedern vor Kurzem in Netzwerk Fluchtforschung umbenannt wurde. Viel ist in dem Bereich, dem sich das Netzwerk widmet, seit 2013 passiert. Damals war nicht absehbar, welche Relevanz das Forschungsthema gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich haben würde. Allein die Idee einer Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland schien geradezu absurd. Die Absicht bei der Gründung des Netzwerks war daher anfangs lediglich jene, die in Deutschland zu allen Aspekten von Flucht und Flüchtlingen forschten, miteinander zu verbinden und ihnen Gelegenheit zum Austausch zu geben. Dieses Ziel besteht nach wie vor. Doch Ende 2013 hatte das Netzwerk 26 Mitglieder. Inzwischen haben sich kumulativ über 360 Forschende als Mitglieder registriert.

Die Forschungsgruppe Wahlen zeigt mit ihren Umfragen, dass seit 2014 in der deutschen Öffentlichkeit die Themen Flüchtlinge und Migration mit Abstand als die wichtigsten Herausforderungen in Deutschland gelten. Als dieses Interesse begann und mehr und mehr Fragen in den Medien und der Politik aufkamen, wer die Neuankommenden, die Asyl suchen, seien, oder wie die weltweite oder europäische oder deutsche Fluchtsituation eingeschätzt werden könne, war die deutsche Wissenschaftsgemeinschaft denkbar schlecht aufgestellt.  Grundlegende Erkenntnisse, zumal an spezifischen Hintergründen und Zusammenhängen, waren kaum vorhanden. Um die gesellschaftlichen Implikationen von Flucht zu verstehen, fehlte trotz verschiedentlicher relevanter Forschungen ein Forschungsfeld, in dem die Komplexität des Themas zusammengeführt werden konnte.

Angesichts dessen vollbrachten Forschende seit 2014/15 Außerordentliches. Wie die Zivilgesellschaft – nicht selten in Verbindung mit ihr oder sie untersuchend – stellte sich die Forschung der Aufgabe, in kurzer Zeit Wissen und Erkenntnisse über die Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen von Vertreibung, Flucht, Ankunft und Integration von Flüchtlingen zu generieren. So entstanden in den letzten Jahren viele neue Ansätze und Themen mit Bezug zu Flucht und Flüchtlingen, die zu spannenden Forschungsprojekten führten. Von 2013 auf 2016 hat sich die Anzahl neu begonnener Projekte im Bereich der Flucht- und Flüchtlingsforschung verfünffacht. Und das Interesse der Forschung an dem Thema hält an.

Dabei ist die Flüchtlingsforschung in Deutschland eigentlich gar nicht neu. Schon 1950 entstand eine organisierte internationale Flüchtlingsforschung (die „Association européenne pour l’étude du problème des réfugiés“, AER; ab 1954 mit dem Ableger „Association for the Study of the World Refugee Problem“, AWR) mit einer starken deutschen Sektion, die sich insbesondere mit Fragen der Integration beschäftigte und heute noch existiert, aber kaum mehr aktiv ist. Schwerpunkt der Flüchtlingsforschung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik waren Flucht und Ankunft der sogenannten Heimatverriebenen. Mit der großen Asyldebatte lebte in Deutschland eine Forschung über internationale Flucht und Flüchtlingsschutz in den 1980er und 1990er Jahren wieder auf.

Doch anders als im englischsprachigen Raum, wo die Refugee and Forced Migration Studies seit den frühen 1980er Jahren institutionalisiert wurden, hingen in Deutschland die Phasen hoher Forschungsintensität – wie auch in den letzten Jahren – an der gesellschaftlichen und politischen Relevanz des Themas. Zwischen diesen Phasen gab es nur vereinzelt in der Migrationsforschung, der Friedens- und Konfliktforschung, in der Forschung über Entwicklungspolitik und anderen Forschungsfeldern Studien über Flucht und Flüchtlinge. Die Anwendungsbezogenheit, der Wissenstransfer und das dialogische Forschen mit Politik und Praxis treiben und prägen bislang die Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland.

Dem Blick auf Anwendung und Bezug auf Praxis und Politik wohnen eine Unmittelbarkeit und Kurzfristigkeit inne. Dabei wird das Thema Flucht relevant bleiben, Europa wird – wenn die Geschichte ein Indikator ist – in nicht allzu ferner Zukunft wieder mehr Fluchtmigration erleben. Die Wissenschaft darf nicht wieder in einen Dornröschenschlaf verfallen, um dann erneut unvorbereitet zu sein, wenn es einen Wissensbedarf gibt. Die Erkenntnisse und strukturellen Errungenschaften der letzten Jahre dürfen nicht verloren gehen. Auch das ist nun ein Ziel des Netzwerks Fluchtforschung. Im Blick auf ihre Relevanz soll es die Langfristigkeit der Flucht- und Flüchtlingsforschung und die Nachhaltigkeit des Forschungsfelds fördern.

Immer deutlicher wird in letzter Zeit, da Flüchtlingspolitik sich verstärkt auf Meinungen, Wunschdenken und Gewalt zu stützen und von der Realität zu entfernen scheint, die Notwendigkeit einer evidenzbasierten Politik. Dies bedeutet für die Flüchtlingsforschung zunächst – ehe überhaupt Fragen des Wissenstransfers relevant werden: was sind eigentlich die Grundlagen unserer Forschung? Wie schaffen wir Evidenz, Fakten und Wissen, gerade in einem ethisch fragilen und politisch so umkämpften Feld? Nicht nur zu welchem Ende, sondern auch: wie überhaupt betreiben wir eigentlich Flucht- und Flüchtlingsforschung?

Ich denke, dass wir uns hier an einem wichtigen Zeitpunkt befinden. Es wird sich jetzt in diesen Jahren entscheiden, ob – dialektisch gesprochen – ein Umschlag von der Quantität der Flucht- und Flüchtlingsforschung, also der Vielzahl an Forschenden und Forschungsprojekten, in ihre Qualität eigener Ansätze und Strukturen stattfinden wird. Kann der Impuls des Booms neu entstandener Projekte nutzbar gemacht werden, um institutionelle Rahmenbedingungen und theoretisch-konzeptionelle Grundlagen zu schaffen?

Ob das gelingt, liegt nicht zuletzt an den Mitgliedern des Netzwerks Fluchtforschung. Nur durch und mit den Forschenden in dem Bereich kann die Flucht- und Flüchtlingsforschung langfristig etabliert werden. Doch um die Qualität des Forschungsfeldes inhaltlich wie auch strukturell gewähren zu können, bedarf es einer Reihe von Anstrengungen und neuer Fokussierungen. Ich möchte drei inhaltliche Aspekte kurz benennen, die ich für eine Etablierung für zentral halte. Dies wird mich dann noch auf einen vierten strukturellen Punkt kommen lassen.

1. Es ist Zeit für die Intensivierung theoretischer, konzeptioneller und methodischer Reflektionen. Keineswegs hat es diese bislang gar nicht gegeben. Aber sie kamen angesichts der unmittelbaren Erwartungen an die Flucht- und Flüchtlingsforschung in der Phase des Booms zu kurz. 2016 war ein Drittel aller neu begonnenen Forschungsprojekte im Bereich der Flucht- und Flüchtlingsforschung auf nicht länger als ein Jahr angelegt, zwei Drittel der neuen Projekte sollten nicht länger als zwei Jahre dauern. So blieb kaum Zeit für Grundlagenforschung, für fundamentale Fragen.

Wenn die Wissenschaft aber ihre Fragestellungen und Kategorien aus politischen Notwendigkeiten schöpft, anstatt aus Forschungen und ihren Desideraten, mit dem Ziel zu intervenieren anstatt aus theoriegeleiteten Problemstellungen und Thesen, dann gefährdet Anwendungsorientierung nicht nur die Wissenschaftlichkeit des Feldes, dann werden auch die Ergebnisse und Erkenntnisse fragwürdig, die Orientierung für Politik und Praxis bieten sollen.

Es kann kein Verständnis von Flucht ohne eine Theorie des Sozialen geben; keine Analyse von Vertreibung ohne Gesellschaftskritik; keine Thematisierung von Flüchtlingen ohne eine Theorie des Politischen. Die Theoretisierung der Flucht- und Flüchtlingsforschung erfüllt dabei mehrere Notwendigkeiten: 1. Sie bietet eine Distanzierung von der Unmittelbarkeit der Anwendungsorientierung; 2. sie hilft der empirischen Forschung, die Komplexität des Gegenstandes zu konzeptualisieren und somit besser untersuchen zu können; 3. sie trägt neue Konzepte zurück in die Theorieentwicklung beteiligter Disziplinen; 4. sie bietet eine Identitätsstiftung für das Forschungsfeld. Eine Aufgabe der kommenden Jahre wird es daher sein, im Dialog von Theorie und Empirie verstärkt über Konzepte, Kategorien und Methoden zu reflektieren und dafür auch im Netzwerk Fluchtforschung einen Raum zu bieten.

2. Dabei gilt es, unseren Blick zu weiten und die Phänomene, denen wir uns widmen, im globalen und transnationalen Kontext zu betrachten. 2016 lag der geographische Fokus von nur 20 Prozent neuer Projekte nicht auf Deutschland. Und das obwohl 85 Prozent aller Flüchtlinge im Globalen Süden leben. In der Flüchtlingsforschung muss man beachten: Es gibt keinen Norden ohne Süden; keine Integrationsforschung ohne auch auf die Herkunftsregionen zu schauen; keine lokale Flüchtlingspolitik, die nicht auch international ist; eine Region wie Europa kann nicht ohne das Globale verstanden werden. Dies bedeutet nicht, dass jedes Forschungsprojekt alles im Blick haben muss oder kann. Es bedarf eines Verständnisses der Zusammenhänge und Verbindungen – sei es durch Migration, Netzwerke oder andere Prozesse –, die Aspekte von Flucht, die wir untersuchen, zwischen Regionen in Beziehung setzen. Es bedarf eines Bezugs und eines Vergleichs der Forschungen in unterschiedlichen Regionen und dafür eines Austauschs, wie wir ihn im Netzwerk Fluchtforschung ermöglichen wollen.

3. In allen Disziplinen finden in den letzten Jahren Studien mit Bezug zu und wissenschaftliche Auseinandersetzungen über Flucht und Flüchtlinge größere Berücksichtigung. Doch noch spielen sie randständige Rollen in der weitgehend disziplinär organisierten Wissenschafts- und Hochschulpolitik Deutschlands, sei es in Berufungen und der Zusammensetzung von Instituten und Abteilungen von Forschungseinrichtungen oder in der Berücksichtigung durch Lehre, Fachbücher und Konferenzen. Flucht- und Flüchtlingsforschung bietet wichtige Zugänge zu den Disziplinen, die weitgehend vernachlässigt werden. Das Thema in Forschungsinstitutionen und Fachgesellschaften zu stärken und die Erkenntnisse über unsere Themen in die eigenen Disziplinen zu tragen, ist Voraussetzung dafür, dass das Forschungsfeld in der Wissenschaftslandschaft Anerkennung findet.

Jedoch nur wenn wir über die Disziplinen hinausdenken, zwischen den Disziplinen kommunizieren und voneinander lernen, dabei auch die Grenzen der Methoden und Kategorien erkennen, mit denen unsere Fächer Flucht und Flüchtlinge fassen, nur dann können wir ein besseres Verständnis unseres Gegenstands gewinnen. Dies ist nicht zuletzt ein Grund für die Existenz des Netzwerks Fluchtforschung. Die Inter- und Multidisziplinarität ist eben nicht nur eine Beschreibung der Flucht- und Flüchtlingsforschung, sondern auch eine Aufgabe.

Für diesen Austausch, um über Forschungen zu diskutieren, aber auch um über den eigenen Tellerrand hinauszusehen, um Komplexität und Multidisziplinarität in der Flucht- und Flüchtlingsforschung ernst zu nehmen, ist das Netzwerk wichtig. Die Realisierung dieser Ziele liegt aber an den einzelnen Forschenden. Und daher noch einmal mein Appell: Nehmen wir diese Gelegenheit für interdisziplinäre Debatten um Theorie wahr, die der Globalität des Themas gerecht werden. Wir brauchen mehr Theorien des Flüchtlings, komplexere Konzepte von Flucht. Es bedarf weiterer methodischer Innovationen, die sowohl ethischen als auch politischen Herausforderungen in der Forschung über Flucht und Flüchtlinge gerecht werden. Auf diese Diskussionen, die die kommenden Jahre in unserem Forschungsfeld prägen sollten, bin ich gespannt.

Dies bringt mich aber auch zu meinem 4. Punkt, den strukturellen Herausforderungen. Um das Forschungsfeld und seine Debatten aufrechtzuerhalten, damit der Boom der letzten Jahre kein Strohfeuer, sondern ein Beginn ist, bedarf es Nachhaltigkeit. Es braucht stabile Institutionen, die mit Lehre, Nachwuchsförderung, Forschung und Vernetzungen eine beständige Weiterentwicklung des Feldes erlauben.  Wir sehen hier verschiedentlich Anfänge, zum Beispiel in Eichstätt mit dem Zentrum Flucht und Migration (ZFM) – das nicht nur unsere diesjährige Konferenz ausrichtete, sondern auch mit Lehre und Professuren eine langfristige Perspektive für die Flucht- und Flüchtlingsforschung eröffnet. Auch Förderung durch das BMBF und eine einschlägige Juniorprofessur an der Universität Osnabrück tragen zum Aufbau des Feldes bei. Letztlich sind es aber die Konferenzen, der FluchtforschungsBlog, die Arbeitskreise im Netzwerk wie auch die Z’Flucht: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung, die als Foren des Austauschs, nicht nur zur Strukturbildung beitragen, sondern auch durch Vernetzung und Kooperation der Forschenden das Feld überhaupt erst konstituieren.

Der Aufbau solcher Strukturen macht deutlich, dass das Forschungsfeld im Engagement seiner Mitglieder nicht nur existiert, sondern lebendig wird. Hierzu trägt die Gründung des Netzwerk Fluchtforschung Vereins auf der Mitgliederversammlung in Eichstätt einen ganz entscheidenden Schritt bei. Mit Ausblick auf eine nachhaltige Institutionalisierung befinden wir uns in einem wichtigen Moment in der jungen Geschichte der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland. Die Etablierung wird aber nur gelingen, wenn wir gemeinsam das Forschungsfeld durch unsere Studien und Projekte, im Dialog mit Politik, Praxis und Öffentlichkeit, im globalen Austausch und mit ständig kritischen Reflektionen als Wissenschaft spannend, engagiert, ethisch und beschwingt gestalten. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.

 

Der Text ist das überarbeite Manuskript der Begrüßung zur Eröffnung der 2. Konferenz des Netzwerks Fluchtforschung in Eichstätt am 4.10.2018.

 

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