Die Umbenennung „Flüchtlingsforschung“ in „Fluchtforschung“ ist ein Gewinn für das Netzwerk. Hierfür gibt es analytische und normative Argumente.
Die Umbenennung des Netzwerks „Flüchtlingsforschung“ in Netzwerk „Fluchtforschung“, die während der Mitgliederversammlung am 4. Oktober 2018 in Eichstätt mit deutlicher Mehrheit beschlossen wurde, ist in doppelter Hinsicht begrüßenswert. Erstens beschreibt der neue Name analytisch viel treffender, was sowieso bereits im Netzwerk bearbeitet wird. Zweitens hat die Umbenennung ein expressives Moment, indem sie pragmatisch dazu beiträgt, unproduktive Gräben im weiteren Feld der Migrationsforschung zuzuschütten.
Weg vom „Flüchtling“ – hin zum komplexen Phänomen der Flucht: das analytische Moment der Umbenennung
Seit seiner Gründung galten Großbritannien und Kanada für das Netzwerk „Flüchtlingsforschung“ als Vorbild, wo bereits seit den 1980ern ein eigenständiges Forschungsfeld der „Refugee Studies“ inklusive renommierter Forschungszentren wie dem Refugee Studies Centre in Oxford entstand. Es ist nicht zuletzt dieser Referenz geschuldet, dass das deutsche Pendant zunächst mit der wörtlichen Übersetzung operierte. Allerdings lohnt es sich, die dortigen Diskussionen über Begrifflichkeiten und Grenzen der (Sub-)Disziplin nachzuverfolgen, die dazu geführt haben, dass mittlerweile zumeist von „Refugee and Forced Migration Studies“ die Rede ist. Diese Bezeichnung geht bewusst über die Engführung des internationalen Flüchtlingsstatus hinaus und schließt verschiedene Formen der „Zwangsmigration“ mit ein.
Das deutsche Wort „Flucht“ umfasst diese semantische Breite und trägt dazu bei, die Komplexität des Phänomens in den Blick zu nehmen: Flucht zeichnet sich schließlich gerade dadurch aus, dass Akteure, Institutionen und Diskurse in komplexer und oft widersprüchlicher Weise ineinandergreifen. Selbstverständlich nimmt die umkämpfte rechtliche Kategorie des „Flüchtlings“, die seit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und ihrem ergänzenden Protokoll von 1967, das Rückgrat des internationalen Asylregimes darstellt, eine zentrale Rolle darin ein.
Allerdings ist die Debatte über die von vielen als anachronistisch empfundene Reduktion auf gezielte individuelle Verfolgung in der Genfer Flüchtlingskonvention Jahrzehnte alt. In einem globalisierten Zeitalter mit unzähligen Konflikten, Folgen des Klimawandels und einer kapitalistischen Produktionsweise ist individuelle Verfolgung nur ein Fluchtgrund unter vielen. Angesichts seiner faktischen Schutzfunktion ist der Flüchtlingsbegriff von unschätzbarem Wert. Gleichzeitig wohnt ihm ein fundamentales Dilemma inne, das angesichts multipler Gründe der Fluchtmigration umso schwerer wiegt. Die Migrationsregime in den meisten demokratisch verfassten Gesellschaften stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen- und sicherheitspolitischen Eigeninteressen einerseits und humanitären und menschenrechtlichen Verpflichtungen andererseits. Folglich wird in politischen und juristischen Diskursen grundlegend zwischen erwünschten und unerwünschten Migrant*innen unterschieden.
In Bezug auf letztere wiederum zwischen Flüchtlingen mit legitimen Motiven der Wanderung und den anderen, denen legitime Motive abgesprochen werden. In dieser der Kategorie des Flüchtlings inhärenten Funktion verdichtet sich ein Kernparadox des Asyls, das mit der Anerkennung Weniger gleichzeitig den Ausschluss Vieler legitimiert. Dabei wurde vielfach betont, dass diese Unterscheidung sowohl empirisch als auch moralisch problematisch ist.
Anstelle der dominanten rechtspositivistischen Assoziation des Begriffs Flüchtling, beschreibt Flucht allgemeiner eine Reaktion auf existentielle Bedrohungen oder als unzumutbar empfundene Situationen. Es bezieht also begrifflich all diejenigen ein die aus der Flüchtlingskategorie rausfallen und entweder einen alternativen Status (subsidiärer Schutz oder Abschiebeverbot) erhalten oder denen ein Bleiberecht gänzlich abgesprochen wird, obwohl sie Schutz benötigen. Dies trifft beispielsweise auf viele Geflüchtete aus den Balkanstaaten oder aus verschiedenen afrikanischen Ländern zu, in denen sich autoritäre oder abwesende Staatlichkeit, patriarchale Traditionen oder die Schattenseiten der Globalisierung zu einer existentiellen Bedrohung oder unzumutbar empfundenen Situation verdichten.
Die Figur des „Flüchtlings“ ist somit nicht nur Referenzpunkt der erzielten Errungenschaften, wie sie regelmäßig von Befürwortern des Begriffs betont wird, sondern auch angesichts seiner Engführung sowie seiner politischen und diskursiven Funktion eine umkämpfte Kategorie. Albert Scherr hat diesbezüglich angemerkt, dass trotz seiner Umstrittenheit eine sozialwissenschaftliche Klärung des Begriffs bislang weitgehend ausgeblieben sei. Kern einer solchen Auseinandersetzung wäre, dass Begriffe und Normen nicht unbedarft reproduziert, sondern auch auf ihre Genese und Konsequenzen befragt werden. Angesichts seiner Einbettung in (volatile) politische Diskurse sind die Kriterien der Entscheidung, wer als „Flüchtling“ Schutzbedürftigkeit zugesprochen bekommt und wer nicht, weder alternativlos noch statisch. In Deutschland lässt sich beispielsweise eine Veränderung der Entscheidungspraxis empirisch nachzeichnen, die trotz unveränderter Bedrohungslage in Syrien eine Abnahme der Flüchtlingsanerkennung und eine Zunahme an geringeren Schutzstufen (subsidiärer Schutz, humanitäres Bleiberecht) zur Folge hat.
Die Figur des „Flüchtlings“ ist also flankiert von institutionellen Praktiken, Diskursen und Erfahrungen, die sich der Reduktion auf den ab- oder anerkannten Status als „Flüchtling“ entziehen. Tatsächlich arbeiten viele Netzwerkmitglieder zumindest unter anderem zu den Mechanismen des Ausschlusses vom Flüchtlingsschutz, zu dessen Konsequenzen und zu verschiedenen Praktiken des Widerstands. Die Vielfalt an Perspektiven, die das Netzwerk so relevant und anregend machen, sind viel treffender in einer analytisch breiteren Fluchtforschung umrissen. Dies unterstreicht nicht zuletzt das Selbstverständnis auf der netzwerkeigenen Internetseite, das explizit keine thematische und kategoriale Engführung anstrebt.
Befürworter des Flüchtlingsbegriffs (nicht zuletzt im Netzwerknamen) führen ins Feld, dass die explizite Nennung gleichzeitig ein dezidiertes Statement zur Verteidigung der politisch erkämpften Schutzkategorie vor ihrer Erosion sei. Angesichts der genannten Widersprüchlichkeit der Kategorie ist sie jedoch interpretationsbedürftig. Dies kann, ja muss im Rahmen einer Fluchtforschung erfolgen. Ein expliziter Rekurs im Titel und damit eine a priori Setzung ist einer notwendigen offenen, kritischen und konstruktiven sozialwissenschaftlichen Klärung, wie sie Albert Scherr zurecht fordert, eher abträglich.
Unproduktive Gräben zuschütten: das inklusive Moment der Umbenennung
Über die genannten analytischen Gründe hinaus wird der Begriff „Flüchtling“ jenseits seiner rechtlichen Funktion von verschiedenen Personen und Gruppen abgelehnt und durch Alternativen wie das Partizip „Geflüchtete*r“ oder den Anglizismus „Refugee“ ersetzt. Argumentiert wird unter anderem mit einer vermeintlichen pejorativen und verdinglichenden Konnotation des Suffixes –ing. Andrea Kothen, Mitglied der Geschäftsführung von Pro Asyl sieht den Begriff „Flüchtling“ „angeklagt“ – wohlgemerkt von links – und verteidigt ihn aufgrund seines historischen und rechtlichen Bedeutungsgehaltes erst recht.
Es gibt plausible Gründe für die Verwendung des Begriffs, genauso wie es plausible Gründe für dessen Vermeidung gibt. Oftmals liegen die Argumente gar nicht so weit auseinander. Gemein ist ihnen das Anliegen der Verteidigung des Rechts auf Asyl, der Anerkennung der Menschen und ihrer Geschichten und (manchmal) ebenfalls der Versuch, den rechtspositivistischen Begriff des Flüchtlings zu erweitern. Nichtsdestotrotz ist die Debatte der Terminologie zu einer im Kern unproduktiven Gretchenfrage verkommen. Die Umbenennung soll also keineswegs den Begriff „Flüchtling“ tabuisieren, sondern Gräben schließen, die im wissenschaftlichen Diskurs entstanden sind.
Um dies zu verdeutlichen, lohnt sich der Verweis auf einen weiteren Kritikstrang am Begriff „Flüchtling“, der auf Hannah Arend zurückgeht und weniger den spezifischen Begriff, als seine essentialisierende Funktion in den Mittelpunkt stellt. In ihrem vielzitierten Essay „Wir Flüchtlinge“ argumentiert sie: „Vor allen Dingen mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt“ und verweist dabei auf die ungleiche Definitionsmacht einerseits sowie Essentialisierung und Ausschluss durch „Othering“ andererseits.
Nicht zuletzt aus diesem Grund ging es konsequenterweise nie darum, das Netzwerk in Netzwerk „Geflüchtetenforschung“ oder ähnliches umzubenennen. Dies wäre in der Tat eine weitestgehend kosmetische und neuerlich exkludierende Änderung. Auch und gerade im Rahmen einer Fluchtforschung kann und sollte eine Auseinandersetzung um Begriffe in der Tradition einer (selbst-) kritischen und debattenfreudigen Wissenschaft erfolgen. Dafür ist die Umbenennung ein pragmatischer Schritt, der Differenzen nicht ausräumt, aber einen weniger belasteten Raum des Austausches öffnet.
Ausblick: Für ein analytisch offenes und debattenfreudiges Netzwerk „Fluchtforschung“
Forschung zu einem Gegenstandsbereich, der so stark in politische und juristische Diskurse und damit notwendigerweise in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet ist, profitiert von einer dezidiert kritischen Perspektive, die den Begriff des „Flüchtlings“ in seinem juristischen Korsett der (ohne Frage zentralen) Genfer Konvention von 1951 befragt um zu seiner Öffnung beizutragen. Dazu bietet ein Netzwerk Fluchtforschung, das Akteur*innen, Diskurse und Strukturen zusammendenkt einen vielversprechenden Ansatzpunkt. Die zusätzliche analytische Schärfe und das Angebot zu Inklusion und Dialog, die der Umbenennung innewohnt, wird das Netzwerk stärken und für die Zukunft wappnen. Denn es ist davon auszugehen, dass das öffentliche und akademische Interesse am Themenfeld nach dem Hype rund um den langen Sommer der Migration nachlassen wird, sobald die Honigtöpfe in Form von (kurzfristigen) Projektförderungen leergeschleckt sind. In dieser Phase der Konsolidierung kann es hilfreich sein, die Debatten, die bereits im Netzwerk geführt werden, fortzusetzen und den Kreis für diejenigen Stimmen zu öffnen, die sich, sei es aus normativen oder analytischen Gründen am Begriff der Flüchtlingsforschung reiben. Dies kann ebenfalls dazu beitragen, die Fluchtforschung noch stärker mit der breiteren Migrationsforschung zu verzahnen und im Dialog die Schnittmengen und spezifischen Expertisen zu begreifen und jeweils zu stärken.