Die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Eindämmungsmaßnahmen betreffen zentrale Bereiche des alltäglichen Lebens vieler Menschen, auch geflüchteter Jugendlicher. Dies gilt insbesondere für ihre Bildungsteilhabe. In diesem Beitrag wird die Bildungssituation geflüchteter Jugendlicher unter den aktuellen Bedingungen beleuchtet. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Ungleichheitsdimensionen im Digitalen und aktuellen Verschärfungen von Bildungsbenachteiligung. Es zeigt sich dabei, dass die spezifischen Unterstützungsbedarfe geflüchteter Jugendlicher als heterogener Zielgruppe unter den Bedingungen von Homeschooling nur eingeschränkt berücksichtigt werden und ein weitreichendes Exklusionsrisiko besteht.
Im Zuge der COVID-19-Pandemie wurden ab März 2020 in sämtlichen Bundesländern Schulen über Wochen geschlossen und erst kurz vor den Sommerferien wieder geöffnet. Lehrkräfte waren und sind weiterhin mit der Herausforderung konfrontiert, das Unterrichtsgeschehen (zumindest teils) digital aus der Ferne zu gestalten. Auch wenn die Wiederaufnahme eines ‚regulärer‘ Schulbetrieb seitens der Länder angestrebt wird, bleibt offen, wie dauerhaft entsprechende Maßnahmen angesichts einer möglichen zweiten Infektionswelle der nächsten Monate sein können. Zwar wird vor diesem Hintergrund im öffentlichen Diskurs auf die Chancen digitaler Bildung für Schüler*innen von zu Hause und auf die Förderung von digitalem Lernen wie noch nie zuvor verwiesen, jedoch werden die Auswirkungen des Unterrichts auf Distanz für geflüchtete Jugendliche im öffentlichen Diskurs nur am Rande erwähnt. Erwähnenswert bleibt immerhin, dass angesichts bisheriger Desiderate im Kontext digitaler Bildungsangebote (z.B. mangelnde Kenntnisse von Lehrkräften und Eltern im Umgang mit digitalen Medien) und uneinheitlichen Digitalisierungs- und Lockerungsstrategien in den Bundesländern vor den sozialen Folgen der Schulschließungen (z.B. Ungleichheiten im Bildungserfolg und der Kompetenzentwicklung) in öffentlichen Debatten gewarnt wird.
Es darf vor diesem Hintergrund einmal mehr festgestellt werden, dass die neue ‚Digitaloffensive‘ zu spät kommt und hinterfragt werden, inwiefern die spezifischen Bedarfe von geflüchteten Jugendlichen mit den damit verbundenen Anforderungen (z.B. gezielte Sprachförderung, enge Betreuung, Bewältigung von psychischen Belastungen, mangelnde technische Ausstattung etc.) mitbedacht werden. Auch die Kinder- und Jugendhilfe, die nicht nur unter diesen Umständen eine wichtige Funktion in der Unterstützung benachteiligter Jugendlicher übernimmt, ist derzeit weiterhin in ihren Möglichkeiten eingeschränkt, um geflüchtete Jugendliche zu unterstützen. In Anbetracht des Wegfalls an bzw. reduzierten Zugangs zu Hilfesystemen nimmt das Risiko zu, dass sich bereits bestehende (digitale) Benachteiligungen bei geflüchteten Jugendlichen verschärfen. Bisher liegen in Deutschland kaum empirische Befunde zu bestehenden Ungleichheitslagen und möglichen Bildungsbenachteiligungen als sozialen Folgen im Kontext der COVID-19 Pandemie vor. Die bisherige Forschung weist übereinstimmend jedoch darauf hin, dass sich soziale Ungleichheiten im Digitalen fortschreiben (Iske/Kutscher 2020; Paus-Hasebrink et al. 2019). Wenn, wie eine Studie der Deutschen Telekom (2020) zeigt, infolge der gegenwärtigen Situation also Schüler*innen zunehmend auf ihre häuslich vorhanden Ressourcen (z.B. Zugang zu Hardware, elterliche Unterstützung) angewiesen sind, dann stellt sich die Frage wie sich diese Situation für geflüchtete Jugendliche gestaltet.
Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Schulausbildung von geflüchteten Jugendlichen
Während manche Jugendlichen unter den Geflüchteten mit den Veränderungen des Schulalltags gut zurechtkommen, stehen andere vor erheblichen Problemen, die auch von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften berichtet werden. Als hierfür vordergründig und problematisch erweisen sich – wie im Zuge eines ethnographischen Forschungsprojekts herausgearbeitet werden konnte – in der COVID-19 Krise insbesondere vier Dimensionen (Hüttmann et al. 2020):
- Fehlende technische Ausstattung
- begrenzte Medienerfahrungen
- Eingeschränkte Sprachkenntnisse
- Unzureichendes personelles Unterstützungssystem
Für die Bearbeitung von digital zugesandten Aufgaben und die Teilnahme an digitalen Unterrichtsformaten werden technische Geräte wie Laptop oder Computer, Software sowie ein stabiler Internetzugang benötigt. Häufig sind diese Voraussetzungen auf Seiten der geflüchteten Jugendlichen jedoch nicht gegeben; vor allem Geräte (z.B. Computer/Notebook und Drucker) fehlen. Das meist vorhandene Smartphone wird von Lehrkräften wie Jugendlichen als unzureichend zur Aufgabenbearbeitung wahrgenommen und ist in der Regel nur begrenzt bei komplexeren Aufträgen und Aufgabenstellungen dienlich. Erschwerend hinzu kommt, dass Lehrkräfte in vielen Fällen nicht wissen, welche technische Ausstattung ihren Schüler*innen im Privaten zur Verfügung steht. Dies wäre jedoch notwendig, um bei fehlenden technischen Zugängen alternative Bearbeitungswege herzustellen und Benachteiligungen zu begegnen.
Es zeigt sich zudem, dass – je nach kulturellem und sozialen Kapital (Bourdieu 1983) – teils limitierte Mediennutzungserfahrungen der geflüchteten Jugendlichen und damit verbundene Anwendungsproblematiken exkludierende Auswirkungen auf die Teilnahme an digitalen Schulformaten haben. Während manche der Lehrkräfte wahrnehmen, dass insbesondere jüngere (nicht nur geflüchtete) Schüler*innen über weniger Erfahrungen im Umgang mit digitalen Medien als ihre MitschülerInnen verfügen, beschreiben die geflüchteten Jugendlichen selbst zum Teil eine Überforderung im Umgang mit digitalen Lehrplattformen, Programmen und der Kommunikation via Mails mit Lehrkräften. Die Verantwortung für den reibungslosen technischen Ablauf, der zur Unterrichtsteilnahme befähigt, kann dabei bereits bestehenden Belastungen und Benachteiligungen der Jugendlichen verstärken.
Neben diesen „technischen Hürden“ kommen eingeschränkte Sprachkenntnisse als potenziell begrenzende Faktoren für die Teilnahme der geflüchteten Jugendlichen am digitalen Schulunterricht hinzu. Offenkundig ist, dass viele der geflüchteten Jugendlichen in Abhängigkeit von ihrer Aufenthaltsdauer in Deutschland mit sprachlichen Barrieren konfrontiert sein können und gezielte fachliche Sprachförderung bei der Bearbeitung von Aufgaben benötigen. Dies ist unter Bedingungen von COVID-19 kaum leistbar, weswegen einige Jugendliche beschreiben, dass sie auf Grund mangelnder Sprachkenntnisse Aufgaben nicht bearbeiten können. Lehrkräfte beschreiben im gleichen Zug, dass die hierfür benötigte intensive Betreuung durch Lehrkräfte – anders als im Präsenzunterricht – digital nicht leistbar sei.
Erschwerend hinzu kommt, dass insbesondere geflüchtete Jugendlichen verstärkt davon betroffen sein können, im privaten Bereich nicht über die personalen Ressourcen zur Überwindung sprachlicher (und auch technischer) Barrieren zu verfügen. Dies ist der Fall, wenn Eltern, Familienangehörige oder andere Bezugspersonen ebenfalls nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen oder sie bzw. pädagogische Fachkräfte im Aufnahmeland gar nicht erst als Ansprechpartner*innen für inhaltliche und technische Fragen zum digitalen Schulalltag zur Verfügung stehen. Pädagogische Fachkräfte beschreiben zudem, dass von geflüchteten Jugendlichen in Zeiten von Homeschooling eine enorme Selbstorganisationskompetenz gefordert wird. Verstärkt benachteiligend betrifft dies unbegleitete Geflüchtete, die bereits eigenständig und allein wohnen und dadurch potenziell weniger institutionelle Unterstützung erfahren als in beispielsweise stationären Wohngruppen. Eine Verknüpfung von Kinder- und Jugendhilfe mit dem Kontext Schule kann sich bei den genannten Schwierigkeiten zwar als kompensierend erweisen, jedoch ist diese nicht grundsätzlich gegeben. An den Stellen, an denen Kompensationsweisen für vorhandene Ungleichheiten deutlich werden, zeigt sich, dass diese zumeist nicht über digitale Formate, sondern über subjektive Fähigkeiten der Jugendlichen selbst und insbesondere deren soziale Beziehungen realisiert werden. Dies ist etwa konkret der Fall, wenn Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte digitale Aufgaben in analoger Form zugänglich machen und sich an den spezifischen Lebensumständen der geflüchteten Jugendlichen orientieren. Damit wird eine erfolgreiche Bewältigung der potenziell exkludierenden Lage auf die jungen Geflüchteten als Individualproblem verlagert.
Gefährdete Bildungsteilhabe: Implikationen für Schule und Politik
Es ist offensichtlich, dass die vier Dimensionen wirkmächtige Hindernisse für die Verwirklichung schulischer Bildungs- und Teilhabeprozesse bei einem Teil der Jugendlichen darstellen. Erkennbar werden in der aktuellen Situation die Angewiesenheit auf individuelle Fähigkeiten, (Mediennutzungserfahrungen und Sprachkenntnisse), (infra)strukturelle/n Bedingungen (technische Ausstattungen) und soziale Rahmenbedingungen (personales Unterstützungssystem). Die spezifischen Bedarfe dieser heterogenen Zielgruppe werden im digitalen Alltag des Homeschoolings nur sehr begrenzt berücksichtigt und entsprechen den Benachteiligungsmechanismen, denen sich derzeit auch sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund gegenübersehen. Somit zeichnet sich in der gegenwärtigen Schul- und Unterrichtskonzeption, in der digitale Formate als Ersatz des Präsenzunterrichts verwendet werden, ein deutliches Exklusionspotenzial ab, das bereits bestehende digitale Ungleichheiten verschärfen kann. Vor diesem Hintergrund ist das Gelingen von Bildungsteilhabe junger Geflüchteter unter Bedingungen der COVID-19-Pandemie höchst kontingent und infrage gestellt.
Hieran zeigt sich die Dringlichkeit einer landes- bzw. bundesweiten Verständigung zur Bewältigung der (digitalen) Herausforderungen und insbesondere der Thematisierung von Teilhabeaspekten im Digitalisierungsdiskurs im Kontext Schule. Dies zieht vielfältige Konsequenzen nach sich, denn neben der flächendeckenden Ermöglichung des technischen Zugangs zur Teilhabe am digitalen Unterricht benötigen Lehrkräfte Unterstützung zur Schaffung digitaler Angebote, die sich auch an den spezifischen Bedarfen von geflüchteten Jugendlichen orientieren. Dafür ist einerseits ein Bewusstsein über die Lebenssituation und Unterstützungsbedarfe der jungen Geflüchteten erforderlich. Andererseits dürfen die zeitliche und konzeptionelle Umsetzung und Anpassung von digitalen Lehrangeboten nicht einfach vorausgesetzt und auf individueller Ebene den Entscheidungen einzelner Schulen und Lehrkräfte überlassen sein. Stattdessen ist es erforderlich, digitale Bildung nicht nur in schulischen Kontexten, sondern auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zu verankern, um (auch digitale) Bildungsqualität zu gewährleisten und potenzieller Exklusion zu begegnen.
Eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule kann außerdem ermöglichen, einerseits die spezifischen Bedarfe der Jugendlichen in die Schule hinein zu kommunizieren und für sie bearbeitbar zu machen. Andererseits kann so ermöglicht werden, dass schulische Problemlagen und Herausforderungen im sozialpädagogischen Unterstützungskontext bekannt sind und diesen gemeinsam entgegengewirkt werden kann. Auf diese Weise eröffnen sich für geflüchtete Jugendliche Verwirklichungschancen für digitale Bildungsteilhabe auch unter den stark herausfordernden Bedingungen.
Dieser Blogbeitrag ist Teil der Reihe Folgen von COVID-19 für Flucht und Geflüchtete auf dem FluchtforschungsBlog.
Die Dimensionen wurden im Rahmen des derzeit laufenden Forschungsprojekts „Bildungsteilhabe Geflüchteter im Kontext digitalisierter Bildungsarrangements“ der Universität zu Köln und der Leuphana Universität Lüneburg, gefördert durch das BMBF (Laufzeit 2019-2022) entwickelt. Wir danken an dieser Stelle auch den Projektmitarbeitenden Antonia Dold, Felix Lemke und Til Mülheims für ihre Mitarbeit und Beiträge im Forschungsprojekt.