Civic stratification, Geflüchtete mit Duldung und unklare Identität

von Franziska Schreyer und Angela Bauer

Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.
Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals.
Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird. (Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche)

Geflüchteten, die aufenthaltsrechtlich in Deutschland nur geduldet sind, wurde der Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und damit zum Aufstieg in der Hierarchie der civic stratification teils eröffnet. Ausgeschlossen sind aber oft diejenigen, deren Identität als „ungeklärt“ gilt. Der Beitrag informiert über die aufenthaltsrechtliche Situation dieser Gruppe Geflüchteter und beleuchtet das Phänomen der unklaren Identität und dessen Hintergründe. Diese reichen von fluchtbedingten und rechtlichen Aspekten über kulturelle Faktoren bis hin zum Handeln von Herkunfts- und Zielland.

Geflüchtete mit Duldungsstatus – ein Überblick

Menschen mit Duldung sind Geflüchtete ohne Aufenthaltserlaubnis, die – oft nach abgelehntem Asylantrag – eigentlich ausreisen müssten (§ 60a Aufenthaltsgesetz AufenthG). Etwa wegen gewaltsamen Konflikten im Herkunftsland, Reiseunfähigkeit wegen Krankheit oder fehlender Verkehrsverbindung, familiärer Bindungen zu Personen in Deutschland oder fehlenden Personendokumenten wird ihre Abschiebung aber vorläufig ausgesetzt und ihr Aufenthalt in Deutschland aufenthaltsrechtlich „geduldet“.

Der Deutsche Bundestag weist zum Stichtag 30.06.2020 220.907 Personen mit einer Duldung aus. Hauptherkunftsländer sind Afghanistan, der Irak, die Russische Föderation, Serbien und Pakistan. Knapp 40 Prozent aller Personen mit Duldung leben seit bis zu drei Jahren und vierzehn Prozent seit mehr als sechs Jahren in Deutschland. Rund 60 Prozent sind jünger als 30 Jahre. Knapp ein Drittel sind Mädchen und Frauen.

Menschen mit dem prekären Status der Duldung waren lange in hohem Maße von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen und der Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt war ihnen weitgehend verwehrt. Ökonomische wie humanitäre Gesichtspunkte führten aber beginnend in diesem Jahrhundert zu einer teils geänderten Integrationspolitik. Insbesondere sollten eine Reihe rechtlicher Änderungen ab dem Jahr 2009 den Zugang von Teilgruppen junger Menschen mit Duldung zu Ausbildung erleichtern (Schreyer/Bauer/Kohn 2015). Nach § 60c AufenthG kann aktuell unter bestimmten Voraussetzungen eine „Ausbildungsduldung“ für die gesamte Zeit der Ausbildung erteilt werden. Unabhängig von Ausbildung bzw. Alter kann nach § 60d AufenthG eine „Beschäftigungsduldung“ für 30 Monate erteilt werden, auch wenn es sich nicht um qualifizierte Tätigkeit handelt.

Für diejenigen mit erfolgreicher (beruflicher) Integration wurden mit dem § 19d AufenthG rechtliche Möglichkeiten des Wechsels aus der prekären Duldung in eine Aufenthaltserlaubnis geschaffen. Weitere Möglichkeiten für gut integrierte Jugendliche sowie Erwachsene mit Duldung, in eine Aufenthaltserlaubnis zu wechseln, bieten die § 25a und § 25b AufenthG. Längerfristig kann für ehemalige „Geduldete“ sogar die deutsche Staatsbürgerschaft möglich werden (vgl. diesen IAB-Bericht). All diese rechtlichen Statusverbesserungen setzen aber eine geklärte Identität bzw. Mitwirkung an deren Klärung voraus.

Civic stratification und unklare Identität

Westliche Einwanderungsgesellschaften stratifizieren Geflüchtete ungleich entlang ihrer jeweiligen aufenthaltsrechtlichen Statusposition. Diese bestimmt den Zugang zu sozialen und politischen Rechten sowie zum Grad der Aufenthaltssicherheit (vgl. z. B. Thym 2018; Söhn 2013). Geflüchtete mit Duldung sind in dieser Hierarchie weit unten platziert, nur noch über den Einwandernden ohne legalen Status stehend (Mohr 2005). Der skizzierte Politikwechsel eröffnet rechtlich die Möglichkeit des Aufstiegs in dieser civic stratification – längerfristig bis hin zum citizen mit vollen sozialen und politischen Rechten.

Dieser Aufstieg ist aber versperrt, wenn Menschen mit Duldung behördlicherseits „ungeklärte Identität“ und unzureichende Mitwirkung an deren Klärung zugeschrieben wird und dies der ursächliche Grund dafür ist, dass eine Abschiebung nicht vollzogen werden kann (Bauer/Schreyer 2019). Für „Personen mit ungeklärter Identität“ wurde im August 2019 ein neuer Duldungstitel (§ 60b AufenthG) eingeführt, mit dem verschiedene Sanktionen einhergehen. Dazu zählen Kürzung von Sozialleistungen, Wohnsitzauflagen und Ausbildungs- und Erwerbstätigkeitsverbote. Ein Aufstieg in der civic stratification ist mit diesem Duldungstitel kaum möglich.

Schreiben (Ausländer-)Behörden Menschen mit Duldung „ungeklärte Identität“ zu, liegen ihnen in der Regel keine gültigen Personendokumente vor und sie zweifeln Angaben dieser Menschen zu ihrer Identität zumindest teilweise an. Differenzierte Daten zum Umfang des Phänomens liegen nicht vor; der Deutsche Bundestag gibt an, dass zum Stichtag 30.06.2020 91.383 Menschen wegen „fehlender Reisedokumente“ geduldet wurden.

Auf Basis einer Implementationsstudie zur betrieblichen Ausbildung von jungen Geflüchteten mit Duldung werden im Folgenden Hintergründe einer unklaren Identität von Geflüchteten skizziert. Das Forschungsprojekt wurde vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt. In dessen Rahmen wurden 34 Expertinnen und Experten aus Beratungsstellen, Ausländerbehörden und dem Schulsystem auf Basis von Leitfäden interviewt; speziell zum Thema der unklaren Identität wurden ergänzende Informationen bei drei Geflüchteten eingeholt. Bei 49 Fachveranstaltungen etwa des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales oder der Jugendhilfe wurden Recherchen durchgeführt. Laufend werden rechtliche Dokumente analysiert.

Dokumente, die Identität nachweisen

Staatsbürgerschaftliche Identität wird in vielen Weltregionen durch Personendokumente nachgewiesen. Deutschen Behörden gelten laut BAMF Ausweispapiere wie Pass oder Personalausweis als hinreichend zur Feststellung der Identität und der Staatsangehörigkeit; unterstützende Aussagekraft schreibt das BAMF Dokumenten wie Familienstammbuch, Führerschein, Heiratsurkunde oder Geburtsurkunde zu (im Folgenden verkürzt: „Personendokumente“). Wie skizziert, ist die Problematik ungeklärter Identität bei Geflüchteten in der Regel damit verbunden, dass den Behörden keine solchen, gültigen Personendokumente vorliegen. Dahinter können sehr verschiedene Gründe stehen, wie im Folgenden ausgeführt wird.

Staatenlosigkeit, Verlust von Dokumenten bei der Flucht, ungültige Dokumente

Manche Geflüchtete besitzen keine Personendokumente, etwa als Staatenlose, deren Zahl laut UNHCR Deutschland aktuell auf ca. 10 Mio. Menschen weltweit geschätzt wird; darunter sind zum Beispiel Kinder, die auf der Flucht geboren wurden. Sind Personendokumente vorhanden, werden sie Interviews mit Beratungsfachkräften zufolge bei der Flucht nicht immer mitgenommen oder sie gehen auf dem bisweilen Jahre andauernden Fluchtweg verloren. Das BAMF verweist darauf, dass manchmal Behörden in Transitstaaten Geflüchteten ihre Identitätsdokumente abnehmen oder Schleuserinnen und Schleuser auf das Vernichten von Identitätsdokumenten pochen. Darüber hinaus würden Dokumente, die Menschen im Rahmen ihres Antrags auf internationalen Schutz Behörden in Europa vorlegen, von diesen manchmal als gefälscht oder anderweitig ungültig eingestuft.

Aus Angst vor Abschiebung werden Dokumente nicht vorgelegt oder falsche Angaben gemacht

Expertinnen und Experten aus Beratungsstellen, Ausländerbehörden und Schulen berichten in den Interviews von gültigen Dokumenten, die Menschen mit Duldung aus Angst vor Abschiebung deutschen Behörden oft nicht vorlegen. Auch wirkten sie zum Teil nur begrenzt an Identitätsklärung mit – etwa durch Vorsprachen bei der zuständigen Botschaft oder Kontaktaufnahme mit Einrichtungen im Herkunftsland, was Menschen mit Duldung im Unterschied zu Asylsuchenden rechtlich im Regelfall als zumutbar gilt.

Ein Hintergrund einer nur begrenzten Mitwirkung an Identitätsklärung ist oftmals im Umstand zu sehen, dass eine geklärte Identität eine Voraussetzung für die Ausstellung von Pässen oder Passersatzdokumenten ist. Diese wiederum sind eine Voraussetzung, um eine Abschiebung durchführen zu können. Ohne Dokumente, die die Zugehörigkeit zu einem Herkunftsstaat nachweisen, können Menschen zumindest im Regelfall nicht in diesen rückkehren. Mangels alternativer Möglichkeiten der Aufenthaltssicherung kann das Nicht-Vorlegen von Dokumenten also ein Versuch von Menschen mit Duldung sein, ihre Abschiebung zu behindern und in Deutschland bleiben zu können.

Ebenfalls mit dem Wunsch, in Deutschland möglichst bleiben zu können, kann es auch zu Falschangaben kommen. So berichtet ein Mitarbeiter einer Ausländerbehörde im Interview, dass zum Beispiel einzelne Eltern in der Hoffnung, die Aufenthaltschancen ihrer Familie in Deutschland zu erhöhen, bei Behörden ein falsches Herkunftsland angeben (etwa Syrien statt Libanon).

Opfer wie Täter legen Identität manchmal nicht ganz offen

Auch potenziell Verfolgte können ein Interesse daran haben, ihre Identität (etwa ihre Vornamen) in Deutschland nicht gänzlich offenzulegen, weil sie zum Beispiel die Bedrohung durch Gruppen aus dem Herkunftsland fürchten. Dies wurde von einer jungen Frau berichtet, die vor drohender Zwangsverheiratung aus einem asiatischen Land nach Deutschland geflohen war.

Grundsätzlich und im Extrem kann Interesse an Verheimlichung der Identität aber auch kriminell begründet sein. Dies könnte in einigen Fällen zum Beispiel für Kriegsverbrecherinnen und Kriegsverbrecher, die das Risiko von Strafverfolgung in Europa minimieren möchten, sowie für terroristische „Gefährder“ gelten. So hatte der Attentäter am Berliner Weihnachtsmarkt laut BAMF seit Juli 2015 an mehreren Orten in Deutschland unter unterschiedlichen Identitäten mehrere Asylgesuche gestellt.

Pass- und Meldewesen in Herkunftsländern

Laut Julian Tangermann besteht selbst bei vorliegenden gültigen Dokumenten absolute Sicherheit nur bei einem etablierten Personenstandswesen im Herkunftsland, welches zum Beispiel Geburten flächendeckend dokumentiert. Ein solches Personenstandswesen könne jedoch nicht überall vorausgesetzt werden. Aus Afghanistan und Äthiopien Geflüchtete berichten im Interview zum Beispiel, dass insbesondere in ländlichen Regionen Hausgeburten nach wie vor verbreitet sind; diese werden staatlicherseits aber oft nicht oder nur verzögert dokumentiert. (Geburts-)Dokumente mit präzisen Angaben liegen so teils nicht vor.

Kulturelle Unterschiede

Tages- und monatsgenaue Datenangaben etwa zu Geburt und Verheiratung sind nicht in allen Regionen der Welt selbstverständlich. Solchen Angaben wird kulturell nicht überall gleiche Bedeutung zugewiesen, stellt auch Melanie Griffiths in ihrer Studie aus dem Jahr 2012 fest. Laut der im Rahmen des IAB-Projekts befragten Geflüchteten aus Afghanistan und Äthiopien erinnerten sich Familien bei Analphabetismus eher an die Jahreszeit einer Geburt („früher Winter“), weniger an tages- und monatsgenaue Daten. Aufgrund einer anderen Zeitrechnung könne es insbesondere im Falle von Afghanistan zu Unschärfen bei der Umrechnung von Tages-, Monats- und Jahresdaten in die mitteleuropäische Zeit kommen, was bei europäischen Behörden wiederum Zweifel bezüglich der Gültigkeit von Identitätsangaben nähren kann.

Probleme bei Behörden in Europa

Beratungsfachkräfte thematisieren im Interview ferner Mängel bei Behörden. So gingen Dokumente wiederholt in der europaweiten Fluchtverwaltung verloren. Beratungsfachkräfte beobachten oft grundsätzlich großes Misstrauen von Behördenmitarbeitenden gegenüber Geflüchteten (zu „institutionellem Misstrauen“ in der Schweizer Asylverwaltung vgl. Affolter 2017: 154 ff.). Teils berichten sie von Annahmen bzw. Unterstellungen von Behörden, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen haben.

Mangelnde Kooperationsbereitschaft mancher Herkunftsländer

Schließlich kooperieren manche Herkunftsländer und deren Auslandsvertretungen in Deutschland wenig bei der Identitätsklärung und Beschaffung von Personen- und Reisedokumenten. Denn sie sind an der Rückkehr von Geflüchteten oft nicht interessiert, etwa wenn diese politisch oppositionellen Gruppen oder diskriminierten Minderheiten angehören. Zudem können Herkunftsländer von Rücküberweisungen Geflüchteter ökonomisch profitieren. Ohne eine Kooperation seitens der Herkunftsländer ist eine Identitätsklärung nur schwer umzusetzen.

Fazit

Für Geflüchtete mit dem prekären Aufenthaltsstatus der Duldung wurden rechtlich verschiedene Möglichkeiten des Aufstiegs in der Hierarchie der civic stratification geschaffen. Schreiben Ausländerbehörden Menschen mit Duldung selbstverschuldete ungeklärte Identität zu, ist dieser Aufstieg hingegen blockiert.

Hinter ungeklärter Identität können vielfältige Gründe stehen, im schlimmsten Fall kriminelle Motive. Häufiger werden aber Faktoren wie Staatenlosigkeit, Verlust von Dokumenten auf der Flucht oder ein kulturell unterschiedliches Zeitverständnis in Herkunfts- und Zielland vorliegen. Ohne gültige Personendokumente sind Abschiebungen in der Regel nicht möglich. Aus Angst vor einer Abschiebung legen Menschen mit Duldung deutschen Behörden vorhandene Dokumente so oft nicht vor. Aber auch eine mangelnde Kooperation mancher Herkunftsländer und Defizite in europäischen Migrationsbehörden spielen eine Rolle.

Die Gründe hinter unklarer Identität können also auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein und liegen keineswegs immer in der Verantwortung der Geflüchteten selbst. Diese Vielschichtigkeit sollte in der öffentlichen und politischen Diskussion stärker berücksichtigt und diskutiert werden. Eine solche diskursive Öffnung sollte zudem die Frage einbeziehen, inwieweit auch diesen Menschen Teilhabe und Aufstieg in der civic stratification ermöglicht werden kann – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Bedarfen des Arbeitsmarktes und einer in der Pandemie allgemein rückläufigen Einwanderung nach Deutschland (vgl. diese IAB-Videos). Die jüngere politische Entwicklung zielt mit dem oben skizzierten neuen Duldungstitel für „Personen mit ungeklärter Identität“ nach § 60b AufenthG aber in die gegenläufige Richtung, nämlich auf den Ausschluss dieser Menschen.

Dieser aktualisierte und überarbeitete Beitrag ist in ähnlicher Fassung im IAB-Forum erschienen. Er basiert auf dem Aufsatz „Ausländerbehörden und Ungleichheit: Unklare Identität junger Geflüchteter und der Zugang zu Ausbildung“ in der Zeitschrift für Rechtssoziologie.

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