Seit Putins Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 beschäftigen unter anderem zwei Beobachtungen viele Sozialwissenschaftler:innen: Erstens eine nie dagewesene Solidarität der europäischen Staaten und ihrer Bevölkerung mit Geflüchteten aus der Ukraine. Zweitens eine Doppelmoral gegenüber anderen Gruppen Geflüchteter aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder afrikanischen Ländern. Diese beiden Beobachtungen scheinen zumindest teilweise miteinander verwoben zu sein. Die beispiellose Solidarität scheint janusköpfig zu sein, da sie nicht nur die Vorstellung von anderen, unwürdigen Gruppen Geflüchteter verstärkt, sondern auch zu einer Ungleichbehandlung führt. Es ist jedoch an der Zeit, den Moment der Solidarität zu nutzen und auf alle Geflüchtete auszuweiten.
Unzählige Beispiele zeugen von der umfassenden Solidarität der europäischen Staaten und ihrer Bevölkerung mit Geflüchteten aus der Ukraine. Menschen schicken Geld oder Waren an Geflüchtete in Polen, zivilgesellschaftliche Initiativen zur Unterstützung der Geflüchteten schießen wie Pilze aus dem Boden, und viele öffnen ihre Privatwohnungen, um Geflüchtete aufzunehmen. Die EU führte eine Richtlinie über den vorübergehenden Schutz ein, und auch die Schweiz setzte die befristete S-Bewilligung ein – eine Bewilligung, die nach den Jugoslawienkriegen geschaffen worden war, aber noch nie angewendet wurde. Eisenbahngesellschaften – darunter die Schweizerischen Bundesbahnen – bieten Geflüchteten aus der Ukraine kostenlose Fahrten an, eine nie dagewesene Geste.
Während die Zivilgesellschaft zu verschiedenen Zeitpunkten – 2015 oder während der Jugoslawienkriege – natürlich vielfältige Solidaritätsaktionen initiiert hat, zeigen zu diesem besonderen Anlass auch Staaten, Universitäten und Privatunternehmen Unterstützung für ukrainische Geflüchtete. Dieses hohe Maß an Solidarität lässt sich natürlich zum Teil durch die Unmittelbarkeit des Krieges und die Tragödien erklären, die wir jeden Tag erleben. Darüber hinaus ist es unter Fluchtforscher:innen ein bekanntes Muster, dass Nachbarländer im Allgemeinen den größten Teil der Geflüchteten aufnehmen (vor allem im so genannten globalen Süden). Wie ich zeigen werde, kann man jedoch leider auch beobachten, dass derzeit mit zweierlei Maß gemessen wird, was zu einer äußerst ungleichen Behandlung verschiedener Gruppen Geflüchteter führt.
Solidarität gegenüber Menschen, die als weiße, christliche Europäer:innen dargestellt werden
Ein erstes Puzzleteil zum Verständnis dieser allumfassenden Solidarität ist, dass Ukrainer:innen als Europäer:innen dargestellt werden. Mit den Worten von Philippe Corbé, dem Leiter des politischen Dienstes von BFM TV: „Es sind keine Syrer:innen, sondern Flüchtlinge, die aussehen wie wir (…) Wir sprechen von Europäer:innen, die in ihren Autos, wegfahren die wie unsere Autos aussehen und die nur versuchen, ihr Leben zu retten.“ Doch wer als Europäer:in und damit wie ‚wir‘ gilt und zu der Gruppe gehört, die wir als ‚uns‘ bezeichnen, diese Zugehörigkeit ist weder von Natur aus gegeben, noch entspricht es einer Reihe von angeblich objektiven kulturellen oder phänotypischen Merkmalen – schließlich ist Kultur, ähnlich wie race, ein bloßes soziales Konstrukt.
Es handelt sich also vielmehr um eine Frage der Geopolitik, des historischen Erbes, der Grenzziehung und der Kategorisierung, welche alle mit Machtpolitik zu tun haben. Mit anderen Worten: Die Darstellung von Ukrainer:innen als weiße europäische Geflüchtete, die aussehen wie wir, stärkt das Gefühl der Zugehörigkeit und Solidarität innerhalb Europas (es scheint, dass viele Europäer:innen immer noch an diese Vorstellung anknüpfen, die mit der Realität der hochgradig diversifizierten europäischen post-migrantischen Gesellschaften kollidiert), während gleichzeitig eine Hierarchie etabliert wird und nicht-weiße Geflüchtete ausgeschlossen werden, die a priori als Nichteuropäer:innen gelten.
Es lassen sich auch Spuren des früheren Narrativs des Kalten Krieges erkennen, das auf einer moralischen und geopolitischen Hierarchisierung zwischen dem Westen/Europa und dem Osten/der Sowjetunion, d. h. den bösen Anderen, beruht. Zudem hat der Einmarsch Putins in die Ukraine dieses Narrativ wiederbelebt, was sich zum Beispiel in den zahlreichen Anspielungen auf den sowjetischen Einmarsch in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968 zeigt (ein Beispiel dafür ist die Schweizer Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Leiterin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD). Nach dieser wiederbelebten narrativen Logik gehören die Ukrainer:innen zu ‚uns‘, den Europäer:innen, während die Ukraine während des Kalten Krieges ironischerweise Teil des „bösen Anderen“ war (Achermann 2022).
Die Doppelmoral
Wie deutlich wird, hebt diese Darstellung der Ukrainer:innen als Europäer:innen Probleme hervor, die bereits von vielen Wissenschaftler:innen erkannt wurden und die mit dem kolonialen Erbe der europäischen Asylsysteme (Krause 2021) oder allgemeiner mit globalen Hierarchien und Ideologien westlicher Dominanz zusammenhängen, nach denen Europa als dem Rest der Welt überlegen dargestellt wird (Quijano 2008).
Ein Korrespondent von CBS News entschuldigte sich in der NewYorkPost, nachdem er in der Sendung gesagt hatte, dass der Krieg in der Ukraine nicht mit den Kriegen im Irak und in Afghanistan verglichen werden könne, da er die osteuropäische Nation für „zivilisierter“ halte. Während er aus Kiew berichtete, erklärte er, dass die Ukraine, „bei allem Respekt, kein Ort wie der Irak oder Afghanistan sei, wo seit Jahrzehnten Konflikte toben. Dies ist eine verhältnismäßig zivilisierte, verhältnismäßig europäische – auch diese Worte muss ich mit Bedacht wählen – Stadt, in der man so etwas nicht erwarten oder hoffen würde, dass es passiert.“
Abgesehen vom rassistischen und historisch ungenauen Charakter seiner Einmischung verweist dieses Zitat auch auf eine Verschiebung des Gegensatzes zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ im Sinne des Nationalismus hin zu dem, was Brubaker (2018) als „Zivilisationismus“ bezeichnet. Die Idee einer zivilisatorischen Bedrohung durch den Islam führte zu einem identitären „Christentumismus“ und einer säkularen Haltung, die wiederum als eine Verdrehung der altbekannten orientalistischen Darstellungen interpretiert werden kann (Said 1976). In der Tat sagte dies der spanische Vox-Parteivorsitzende ganz unverblümt: „Jeder kann den Unterschied zwischen diesen Strömen und den Invasionen junger Männer im militärischen Alter muslimischer Herkunft, die gegen die Grenzen Europas gerichtet sind, verstehen.“
Diese Hierarchisierung und die Doppelmoral werden auch durch die vielen Zeug:innen deutlich, die von racial profiling von Geflüchteten beim Grenzübertritt nach Polen berichteten (eines von vielen Beispielen hier). Schwarze Geflüchtete wurden zeitweise an der Grenze zurückgewiesen. Wie Elzbieta M. Gozdziak feststellt, kristallisierte sich an der polnisch-ukrainischen Grenze die Gewalt einer rassifizierten Grenzziehung zwischen verdienten und unverdienten Geflüchteten heraus.
Die unmittelbare Gefahr, der die Bevölkerung in der Ukraine ausgesetzt ist, wird diskursiv instrumentalisiert, um eine Grenze zwischen verdienten und unverdienten Geflüchteten zu verstärken. So schreibt die Neue Züricher Zeitung: „Diesmal sind es echte Flüchtlinge (…) Wir sehen das Leid dieser Menschen. Niemand kann die Gefahr leugnen, in der sie sich befinden. Das ist anders als bei vielen Migranten, die in der Vergangenheit als vermeintliche Geflüchtete nach Europa kamen.“ Die Gründe, die andere Geflüchtete haben könnten, um Asyl in Europa zu beantragen, werden durch eine vereinfachende und ungenaue Gegenüberstellung diskreditiert. Die Tragödie der Geflüchteten aus der Ukraine wird missbraucht, um andere Geflüchtete zu diffamieren.
Ein nationalistisches, geschlechtsspezifisches Narrativ
Das Narrativ von den wahren und verdienten Geflüchteten ist zudem stark vergeschlechtlicht und in einer nationalistischen Logik verankert. In demselben Artikel der NZZ heißt es dazu: „Während die Männer in Charkiw und Kiew für ihre Heimat kämpfen und dafür sorgen, dass ihre Frauen und Kinder sich in Sicherheit bringen, waren es in früheren Jahren auffallend oft junge Männer, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen. Sie ließen ihre Familien zurück.“ Viele Wissenschaftler:innen haben auf die Art und Weise hingewiesen, wie Nationalismus und die Logik des Nationalstaates bestimmte Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit hervorbringen. Eine davon ist der männliche Held, der sein Mutter-/Vaterland verteidigt.
Wie Leandra Bias feststellt, werden männliche Körper im Krieg als Waffen eingesetzt. Dieses nationalistische, geschlechtsspezifische Narrativ wird wiederum eingesetzt, um andere männliche Geflüchtete, die aus anderen Kontexten fliehen, zu diskreditieren (siehe auch hier). Darüber hinaus ist eines der stärksten Narrative, das in den letzten Jahrzehnten in Europa zu beobachten war, jenes über den muslimischen Geflüchteten als Bedrohung der Sicherheit, als Terrorist, der gewalttätig gegenüber ‚unseren‘ Frauen ist (Wyss & Fischer 2021). Diese gegensätzlichen diskursiven Konstruktionen – der männliche Held gegen den männlichen Bösewicht – schaffen erneut eine Doppelmoral und können als eine weitere Facette der Konstruktion der Verdientheit anderer Geflüchteten betrachtet werden.
Ein Weg nach vorn
Wie kann diese umfassende Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten unterstützt werden, ohne diese Doppelmoral einzuführen? Solidarität ist weder selbstverständlich, noch ist es natürlich, einer Gruppe anzugehören. Die Naturalisierung von Solidarität ist gefährlich, da sie schnell und leicht wieder verschwinden kann. Doch wir erleben nicht nur eine beispiellose Welle der Solidarität, sondern auch die eklatante Doppelmoral und Gewalt des europäischen und schweizerischen Asylsystems. Es ist an der Zeit, diesen Moment der Solidarität zu nutzen und ihn auf alle Geflüchteten auszuweiten. Die herzliche Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine gibt uns die Möglichkeit, die Bedingungen für alle Geflüchteten zu verbessern.
Weitere Informationen:
– Achermann, Christin (2022). Kommentar zu meinem Beitrag.
– Rogers Brubaker (2017). Between nationalism and civilizationism: the European populist moment in comparative perspective, Ethnic and Racial Studies, 40 (8), 1191–1226.
– Krause, Ulrike (2021). Colonial roots of the 1951 Refugee Convention and its effects on the global refugee regime. Journal of International Relations and Development 24, 599–626.
– Quijano, Aníbal (2000). Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America. International Sociology 15 (2), 215–32.
– Said, Edward (1978). Orientalism. Pantheon Books.
– Wyss, Anna & Fischer, Carolin (2021). Männlichkeit im Spannungsfeld: Auswirkungen ambivalenter Darstellungen afghanischer Geflüchteter in Deutschland und der Schweiz. Z’Flucht: Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung, 5(1), 44–76.
Dieser Beitrag ist auf dem Blog des nccr – on the move im Englischen unter dem Titel „A Call for Solidarity with All Refugees, Beyond Double Standards!“ am 24. März 2022 erschienen. Zudem ist eine französische Fassung unter dem Titel „Un appel à la solidarité avec tou.te.s les réfugié.e.s, au-delà des doubles standards!“ im DeFacto zugänglich.