Die Bedeutung und Aktualität des zeithistorischen Buchs „Umkämpftes Asyl: Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart“ (Links Christoph Verlag) von Patrice Poutrus steht im Mittelpunkt des Beitrags. Poutrus beschreibt in seinem Buch unter anderem, wie es zu den asylrechtlichen Verschärfungen 1992/93 kam. Diesen ging eine enge Verzahnung zwischen rechtsextremen Gewalttaten, politischen Mobilisierungen der sogenannten bürgerlichen Mitte und massenmedialer Hetze voraus. Aus soziologischer Perspektive zeigt sich, dass auch gegenwärtig immer wieder Bündnisse zwischen rechter Gewalt auf der Straße und in der Politik geschlossen werden, die demokratische Grundfesten unser Gesellschaft infrage stellen.
In seinem autobiografischen Roman „Herkunft“ erzählt Saša Stanišic wie er die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen im Jahr seiner Flucht aus dem Bosnienkrieg nach Heidelberg 1992 erlebt hat:
„Am 24. August 1992 werfen Neonazis Molotow-Cocktails in ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock. Es gibt Zuschauer. Rostocker Bürger. Zugereiste Hasstouristen. Polizei. ‚Wir räuchern sie aus!‘ ‚Hängt sie!‘, ‚Sieg Heil!‘. Brandsätze werden in den unteren Stockwerken platziert. Die Menge singt: So ein Tag, so wunderschön wie heute. Es gibt Buden. Man holt sich ein Bier und eine Wurst und guckt in die Flammen. Feuerwehr kommt, man hat die Zufahrten versperrt. Ein deutscher Pogromjahrmarkt. […] Knapp drei Monate später, an einem Montag im November, brachte ein Lehrer Zeitungsausschnitte über Lichtenhagen in den Sprachunterricht. […] Wir lasen stumm und blieben stumm nach dem Lesen. Sonst meldete sich immer gleich jemand, weil etwas nicht begriffen worden war. Diesmal hatten das Wesentliche wohl alle begriffen. Diesmal waren wir gemeint. […] 2017 wurden zwischen 264 und 1287 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte erfasst (die Zahl variiert je nach Quelle). Heute ist der 28. August 2018. Sebastian Czaja (FDP) twittert: ‚Antifaschisten sind auch Faschisten.‘“ (S. 136ff)
Die Stärke des Romans von Saša Stanišic ist es, die Parallelen zwischen den Gewalttaten aus den 1990er Jahren und den Angriffen gegen Geflüchtete heute aus der eigenen Betroffenheit als sogenanntes bosnisches Flüchtlingskind zu ziehen.
Die große Stärke des Buchs von Patrice Poutrus „Umkämpftes Asyl: vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart“, um das es hier eigentlich geht, liegt darin, diesen Parallelen im subjektiven Erleben eine systematische zeithistorische Analyse zugrunde zu legen. Der Autor untersucht die Entwicklung des Asylrechts in Deutschland von der Nachkriegszeit über die Grundgesetzänderung von 1992/93 bis heute. Seine zentrale These ist, dass sich grundlegende Fragen der politisch-moralischen Orientierung der deutschen Gesellschaft in der Asylrechtsdebatte widerspiegeln.
Chemnitz am 26. und 27. August 2018: „Hier mischt sich die bürgerliche Mitte mit Neonazis“, titelt der Spiegel. „Auf dem angekündigten ‚Trauermarsch‘ kommt es bald zu Ausschreitungen, Flaschen fliegen, Böller werden gezündet und Journalisten angegriffen. Gewaltbereite Rechtsextreme können unter den Augen der wenigen Polizeibeamten Straftaten begehen. […] Der Sprecher der Chemnitzer Polizeidirektion, Andrzej Rydzik, bezeichnet es am Abend als ‚Prinzip der Deeskalation‘, dass die Beamtinnen und Beamten Straftaten nicht direkt verfolgten. Schließlich habe man die Taten per Video dokumentiert. Er räumte ein, dass die Polizei die Teilnehmerzahl unterschätzt habe, zu wenige Beamte seien vor Ort gewesen.“ So die Schilderungen aus der Zeit vom 28. August 2018 über den Beginn der Ausschreitungen.
Ähnlich wie im Spätsommer 1992 waren es auch im August 2018 in Chemnitz nicht nur die Rechtsextremen, die auf die Straße gingen. Und wieder zeichnete sich das Handeln der Exekutive durch verzögertes Reagieren und eine Unterschätzung des rechtsextremen Mobilisierungspotentials aus. Man ließ in Sachsen und anderswo die Rechtextremen nicht zum ersten Mal gewähren. Hinzu kommt, dass rechte Gewalttaten häufig nicht einmal als solche bezeichnet werden: Als im Januar 2016 Neonazis in Leipzig Krawall schlugen, warnte das Landeskriminalamt nicht vor rechter, sondern vor linker Gewalt.
In seinem Buch macht Patrice Poutrus deutlich, dass dieser Vergleich von Rechts- und Linksextremisten Teil einer Strategie der politischen Verharmlosung rechter Gewalttaten ist. Diese habe zu einer gesellschaftlichen Stimmung beigetragen, in der die Grundgesetzänderung zur Asylrechtsverschärfung 1992/93 als notwendig dargestellt werden konnten. Poutrus spricht von einem informellen Bündnis „aus politischer Mobilisierung, Kampagnenjournalismus und rassistischer Gewalt“ (S. 171). Es habe „sich ein Modus der bundesdeutschen Innenpolitik etabliert, der in seinem Wechselspiel von ausländerfeindlicher Rhetorik diskriminierender institutioneller Verfahrenspraxis gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden und fortwährender rassistischer Gewalt durch Rechtsextremisten zu einem gefährlichen Bestandteil der bundesdeutschen politischen Kultur wurde“ (S. 186).
Poutrus besticht in seinem Buch auf rund 250 Seiten durch eine klare Argumentation und eine noch klarere politische Haltung: Nicht die Zahl der in Deutschland Zuflucht findenden Menschen und auch nicht die ökonomischen Verhältnisse seien letztendlich ausschlaggebend für die Änderung des Artikels 16a im Grundgesetz gewesen, sondern eine politische Mobilisierung, die sich auf eben diesem breiten Bündnis aus Poltiker_innen, Zivilgesellschaft und Presse stützte.
Laut Poutrus hat im politischen Diskurs Mitte der 1980er das Feld für die grundgesetzliche Änderung vor allem die politische Rhetorik der Überlastung und Unbeherrschbarkeit bereitet, die insbesondere von der CDU/CSU-Fraktion forciert wurde. Als Leitvokabel diente hierfür das „volle Boot“.
Wenn man sich die heutigen Leitvokabeln ansieht, die zu den asylrechtlichen Verschärfungen der Asylpakete 1 und 2 (2015 und 2016) geführt haben, so bestehen auch hier wieder Parallelen: die Überlastungsrhetorik folgte der Willkommenseuphorie schnell; bzw. war sie immer schon Teil von ihr. So hieß es etwa bereits im Leitantrag für den CSU-Parteitag im November 2015, in dem für die sogenannte „Obergrenze“ im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise plädiert wurde: „Es ist aber unsere Verantwortung gegenüber der einheimischen Bevölkerung, eine Überlastung von Staat und Solidargemeinschaft zu verhindern. Nur wenn Recht und Ordnung in Europa wieder gelten, wird die Flüchtlingskrise zu meistern sein. Die gegenwärtige Extremsituation in der Flüchtlingskrise ist eine Folge des Zustands der Rechtlosigkeit.“
Die Überlastungsrhetorik mischt sich gegenwärtig mit einer moralischen Panikmache, wie wir sie insbesondere infolge der Kölner Silvesternacht erlebt haben. Auch diese Politik der Panik ist nicht neu, wie Poutrus in dem Beispiel des Diskurses um die „sexuelle Gefahr“ der nordafrikanischen Geflüchteten in der ehemaligen DDR erinnert.
Dem Soziologen Stanley Cohen zufolge ist ein zentrales Merkmal von „moral panic“ der Spiraleffekt. Zunächst werden Befürchtungen über das Verhalten einer sozialen Gruppe laut, das von Teilen der Bevölkerung als Bedrohung der gesellschaftlichen Werte und der moralischen Ordnung eingeordnet wird. Dieses Bedrohungsszenario wird insbesondere von den Boulevardmedien verbreitet und verstärkt dadurch das Ausmaß der gesellschaftlichen Panik. Es folgt eine Reaktion von Autoritäten, die daraus eine Politik der Angst machen. Das Gefährliche an kollektiver moralischer Panik ist, dass sie gesellschaftliche Werte außer Kraft setzt, politische Kontrollphantasien befeuert und Gewalt legitimiert. In jeder Welle moralischer Panikmache geht ein Stück Demokratie verloren. Genau diese Dynamik ist es, die Patrice Poutrus in seinem Buch so präzise nachzeichnet.
Dabei verfängt sich die Analyse nie selbst in der Spiraldynamik der moralischen Panik. Das ist angesichts des gegenwärtigen gesellschaftlichen Klimas keine Selbstverständlichkeit. Denn Panik erzeugt Panik. So merke ich auch in mir panische Gefühle aufsteigen, wenn ich vom Attentat in Halle lese, wenn ich Brandreden von Politiker_innen unterschiedlicher Couleur höre. Die positionierte, aber stets bedachte Analyse von Patrice Poutrus hilft gerade durch ihren konsequent auf der Sachebene der historischen Ereignisse verbleibenden Zugang ruhig zu bleiben.
Gleichzeitig macht Poutrus in seinem Buch aber auch Mut. Denn er analysiert nicht nur den Zusammenhang zwischen dem Lauterwerden der sogenannten Asylkritiker_innen, den rechtlichen Restriktionen und der rassistischen Gewalt. Er zeigt ebenso auf, wie es trotz oder gerade aufgrund dieses informellen Bündnisses vor der Änderung des Grundgesetzes auch zu verstärkten zivilgesellschaftlichen Gegenbewegungen der Solidarität mit Migrierten und Geflüchteten kam. Für die großen Solidaritätsbekundungen und die Aufnahmebereitschaft gegenüber den vietnamesischen Boatpeople ausschlaggebend gewesen sei beispielsweise eine „Melange aus massenmedialer Aufmerksamkeit für die humanitäre Notlage der Boatpeople und öffentlichkeitswirksamem Einsatz von politischen Funktionsträgern“, wodurch „eine über die außerparlamentarische Linke hinaus- bis weit in konservative Kreise hineinreichende Solidaritätsbewegung hervorgebracht wurde, die alle Kennzeichen einer heute sogenannten Willkommenskultur aufwies“ (S. 86). Was Mitte der 1980er und in den 1990er Jahren erfolgte, war eben keine einfache Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas in rassistischer Richtung, sondern eine zunehmende Polarisierung.
Die historischen Parallelen, die Poutrus in seinem Buch aufzeigt, lehren uns daher auch, dass es einer kritischen Öffentlichkeit, zu der ich uns Migrationsforschende hinzuzähle, auch gelingen kann, das „informelle Bündnis“ zwischen den Asylkritiker_innen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte und den rechtsradikalen Gewalttätern auf der Straße durch antirassistische Mobilisierungen und Allianzbildungen herauszufordern und zu einem gesellschaftlichen Stimmungsumschwung beizutragen.