Mit ihrer Auflösung am 6. Dezember 2023 wegen der Abspaltung der Wagenknecht-Gruppe geht eine siebzehnjährige Tradition zielgerichteter „Kleiner Anfragen“ durch Abgeordnete der Fraktion der „Linken“ zu Ende, mit denen ein realistischeres Bild der Asylpolitik entstanden ist. Für Anwält:innen, Flüchtlingsräte, Medien und die Wissenschaft waren die Anfragen eine Fundgrube, auch das Bundesverfassungsgericht und der Bundesrechnungshof nutzten sie. Wie lange Asylverfahren dauern, wie hoch die reale Schutzquote ist, wie viele Entscheidungen von den Gerichten korrigiert werden, wie viele Menschen wirklich ausreisepflichtig sind – all das wissen wir aus Antworten der Bundesregierung auf die akribischen Anfragen der Linksfraktion im Bundestag.
„Kleine Anfragen“ sind ein Instrument des Parlaments, um Informationen in die Öffentlichkeit zu bringen und für Aufklärung zu sorgen, in der Praxis wird diese Kontrollmöglichkeit überwiegend von der Opposition genutzt. Kleine Anfragen können von Fraktionen gestellt werden. Federführend sind jeweils spezialisierte Abgeordnete, für die Asylpolitik waren das in der Fraktion von „die Linke“ seit 2006 Ulla Jelpke und seit 2021 Clara Bünger. Die Bundesregierung ist auskunftspflichtig und muss die entsprechenden Daten erheben. Über die Jahre wurden die Anfragen immer detaillierter und materialreicher. Zentrale Kennzahlen wurden regelmäßig vierteljährlich erfragt, sodass sich Veränderungen präzise nachzeichnen lassen. Auch bei aktuellen Anlässen fragte die „Linke“ klärend nach, etwa zur Bremer BAMF-Affäre. Die Koalitionsfraktionen nahmen 2021 die Anregung zur Abschaffung der generellen Widerrufsverfahren auf, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) differenzierte seine Statistiken zu den Verfahrensdauern.
Verfolgt man die Ergebnisse über die siebzehn Jahre, so zeigt sich ein differenziertes und präzises Gesamtbild der Flüchtlingssituation in Deutschland. Die „Kleinen Anfragen“ haben sich als effektives Instrument erwiesen, um detaillierte Auskünfte zu erhalten und Zugang zu den Arkana der Asylverwaltung zu bekommen. Interpretiert und kommentiert wurden die Erkenntnisse durch zusammenfassende Vermerke, die der auf Asylfragen spezialisierte Fraktionsmitarbeiter der Linken, Thomas Hohlfeld, regelmäßig in insgesamt 640 Rundmails verschickt hat.
In Deutschland geborene Kinder in der Asylstatistik
Eine der ersten Fragen betraf im Jahr 2007 die in Deutschland geborenen Kinder von Asylsuchenden, für die das BAMF routinemäßig Asylanträge stellt. In der veröffentlichten Asylstatistik entsteht dann der unzutreffende Eindruck, dies seien neu über die Grenze gekommene Asylfälle. In den USA, Kanada oder Brasilien erhalten solche Kinder auf Grund des Ius-Soli-Prinzips mit der Geburt die Staatsbürgerschaft. Die in der Kleinen Anfrage formulierte Frage lautete:
„Ist die Bundesregierung bereit, diese von Amts wegen gestellten Asylanträge statistisch und in den monatlichen Pressemitteilungen gesondert auszuweisen und sie aus der Zahl der Erstasylantragstellerinnen und -antragsteller herauszurechnen, um dem falschen Eindruck entgegenzuwirken, hier handele es sich um nach Deutschland zugewanderte Personen bzw. um von Asylsuchenden zu Unrecht gestellte Anträge?“
Das Bundesinnenministerium lehnte die Anregung ab, in Deutschland geborene Kinder in der Statistik gesondert auszuweisen, musste aber in seinen Antworten auf die regelmäßig wiederholten Kleinen Anfragen Jahr für Jahr die Zahl der Kinder nennen. Dabei zeigte sich, dass der Anteil in Deutschland geborener Kinder in der Asylstatistik zum Teil sehr hoch war. Die Spitze wurde 2019 erreicht, als 22 Prozent der Asylanträge in Deutschland geborene Kinder betrafen. Anfang 2020, also nach dreizehn Jahren, verwendete das Bundesinnenministerium dann zum ersten Mal in einer Presseerklärung die Kategorie „grenzüberschreitende Asylbewerber“, gab also die Zahl der Asylsuchenden ohne die in Deutschland geborenen Kinder gesondert an.
Wie hoch ist die Schutzquote? Warum korrigieren die Gerichte so viele Entscheidungen?
Während hochgerechnete Asylzahlen Alarmismus auslösen, tragen niedrig gerechnete Schutzquoten in der öffentlichen Debatte zur Delegitimierung des Asyls bei. Das BAMF berechnet die Schutzquote, indem es die Anerkennungen in Bezug zu allen Bescheiden setzt. Dabei fällt unter den Tisch, dass in vielen Bescheiden nicht über die Schutzbedürftigkeit entschieden wird, sondern nur über die Frage der Zuständigkeit für die Asylprüfung („Dublin-Verfahren“). Die Linke fragte dagegen nach dem Prozentsatz der Anerkennungen, die vom BAMF wirklich inhaltlich entschieden wurden („bereinigte Schutzquote“). Im Jahr 2022 lag die vom BAMF verbreitete Quote bei 56,2 Prozent, die bereinigte Schutzquote dagegen weit höher bei 72,3 Prozent. 2021 war die Differenz zwischen den beiden Werten noch größer: 39,9 gegenüber 63,1 Prozent.
Weitere Fragen bezogen sich auf die zusätzlichen Anerkennungen durch die Gerichte. Für 2022 ergab sich, dass 37 Prozent der inhaltlich von den Verwaltungsgerichten überprüften BAMF-Asylbescheide als rechtswidrig aufgehoben wurden. Insgesamt erhielten 2022 fast 40.000 vom BAMF zunächst abgelehnte Asylsuchende doch noch einen Schutzstatus, entweder durch die Gerichte oder weil das BAMF selbst Ablehnungsentscheidungen korrigieren musste. Die reale Schutzquote am Ende aller Verfahren lag damit für 2022 über 80 Prozent. Genaue Zahlen hierzu gibt es nicht, weil die Behörden- und Gerichtsstatistiken trotz mehrfacher Nachfragen nicht zusammengeführt werden. Dennoch vermitteln die erfragten Zahlen ein realistischeres Gesamtbild des Asylgeschehens und der Legitimität der Flucht.
Wie lange dauern die Verfahren?
„Die Asylverfahren sind mit einer derzeit durchschnittlichen Dauer von knapp sechs Monaten zu lang“, beklagte die Bundesregierung 2016. Das verzögere die Integration, erschwere die Rückkehr Abgelehnter, halte die Menschen lange in Unsicherheit und verbrauche Ressourcen. Die Verfahren sollten nicht länger als drei Monate dauern. Aus den Antworten der Bundesregierung ging aber hervor, dass das Drei-Monats-Ziel nie erreicht wurde, es waren im Durchschnitt immer mehr als sechs Monate. Noch etwas länger dauerten die Verfahren in den „AnkER-Zentren“ (Ankunft, Entscheidung, Rückführung), die Bundesinnenminister Seehofer mit dem Ziel der Beschleunigung durchgesetzt hatte.
In der folgenden Tabelle sind die durchschnittliche Dauer der Verfahren beim BAMF und bei den Verwaltungsgerichten von der Asylantragstellung bis zur Bestandskraft des Bescheides bzw. einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung in Monaten wiedergegeben, wie sie aus den Antworten der Bundesregierung hervorgehen:
2016 | 2017 | 2018 | 2019 | 2020 | 2021 | 2022 | Mitte 2023 | |
BAMF | 7,1* | 10,7 | 7,5 | 6,1 | 8,3 | 6,6 | 7,6 | 6,6 |
Gerichte | 7,4 | 7,8 | 12,5 | 17,6 | 24,1 | 26,5 | 26 | 22,1 |
Unanfechtbar | 8,7 | 13,2 | 17,6 | 21,3 | 25,9 | 24,4 | 21,8 | k.A. |
*Hinzu kommt eine – nicht erfasste – Wartezeit zwischen Asylgesuch und der Möglichkeit zu formalisierter Asylantragstellung, die 2016 besonders lang war. Quellen: BT-Drs. 20/8787, 20/6052, 20/940, 19/30711, 19/23630, 19/13366, 18/3850, 18/4980, 18/8450, 18/11262, 18/12623, 19/1631, 19/3861.
Bei der Bund-Länder-Konferenz 2023 wurde das Drei-Monats-Ziel erneuert, nun allerdings nur für Menschen aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungschance von weniger als fünf Prozent. Für alle anderen Asylsuchenden fand man sich mit bis zu sechs Monaten Verfahrensdauer ab, obwohl andere Aufnahmeländer gezeigt haben, dass qualifizierte Entscheidungen in weniger als drei Monaten erreicht werden können.
Regelmäßig erfragte die Linke-Fraktion auch die Dauer der Asylklageverfahren. Von 2016 bis 2021 stieg sie von 7,4 Monaten auf 26,5 Monate. Es konnte nachgezeichnet werden, wie korrekturbedürftige BAMF-Asylbescheide zu einer Verlagerung von Prüfungsaufgaben auf die Gerichte und damit zu deren Überlastung beitrugen. Eilgerichtsverfahren in eher aussichtslosen Fällen (Ablehnungen als „offensichtlich unbegründet“) werden von den Gerichten deutlich schneller entschieden, zumeist innerhalb von zwei Monaten. Damit wurde klar, dass Asylsuchende in aussichtslosen Fällen wenig von langen Verfahrensdauern profitieren konnten.
Was bringt das Dublin-System?
Schon Angela Merkel hat das Dublin-System für nicht funktionsfähig erklärt, gleichwohl wird es bis heute weiterbetrieben. Auch hier konnte das Instrument der Kleinen Anfragen zu Aufklärung beitragen. Die Antworten der Bundesregierung auf entsprechende Fragen zeigten, dass die Zahl der tatsächlichen Überstellungen im Verhältnis zu dem großen Verwaltungsaufwand sehr gering ist. Zudem wird der geringe Effekt dadurch aufgehoben, dass auch nach Deutschland überstellt wird. Im Jahr 2022 stellte Deutschland 68.709 Überstellungsersuchen und bekam 14.233 Ersuchen von anderen Mitgliedstaaten. Überstellt wurden 4.158 Asylsuchende in andere Mitgliedstaaten und 3.700 nach Deutschland, in der Bilanz wurden also ganze 458 Menschen aus Deutschland abgegeben. Weil Deutschland außerdem in 624 Fällen die Asylsuchenden unabhängig von den Dublin-Kriterien selbst übernahm („Selbsteintritt“), war die Umverteilungsbilanz schließlich mit 166 Fällen negativ. Das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis ist von Jahr zu Jahr grösser geworden, wie der Vergleich der Antworten ergibt (BT-Drs. 20/5868, 20/861, 19/30849, 19/17100, 19/8340, 19/921, 18/11262, 18/7625, 18/3850).
Inzwischen veröffentlicht das BAMF die Zahlen der Dublin-Überstellungen monatlich selbst, so zuletzt in den Aktuellen Zahlen für Dezember 2023.
Wie viele Menschen sind ausreisepflichtig?
In der Öffentlichkeit werden immer wieder hohe Zahlen von Ausreisepflichtigen genannt, so sprach etwa Friedrich Merz von 300.000 Ausreisepflichtigen. Angela Merkel kündigte eine „nationale Kraftanstrengung“ zur Abschiebung an und Olaf Scholz forderte Abschiebungen „in großem Stil“.
Die Kleinen Anfragen trugen dazu bei, dass die in der Öffentlichkeit genannten Zahlen differenziert und korrigiert wurden. Die aktuellste Anfrage vom 31. August 2023 ergab, dass am 30.6.2023 im Ausländerzentralregister 225.000 Ausreisepflichtige registriert waren. Davon hatten 80,3 Prozent eine Duldung, also eine Aussetzung der Ausreisepflicht, weil sie beschäftigt oder in Ausbildung waren, krank oder unbegleitet minderjährig, eine gerichtliche Anordnung bestand, in Länder wie Russland und Afghanistan nicht abgeschoben wird oder keine Reisedokumente vorhanden waren. Es blieben 20.909 Fälle, in denen den Betroffenen vorgeworfen wird, ihre Abschiebung zu verhindern und 4.991 weitere, in denen eine Abschiebung oder Überstellung bevorstand. Auf Grund der Anfragen entsteht ein realistisches Bild der Situation, das geeignet ist, unrealistischen Zuspitzungen entgegenzuwirken.
Die „Widerrufsbehörde“ wird entlastet
Nachdem die Zahlen der Widerrufsverfahren zunächst regelmäßig erfragt worden waren, werden sie inzwischen vom BAMF selbst veröffentlicht. Eine Besonderheit des deutschen Rechts war seit 2004, dass Widerrufsprüfungen nicht nur anlassbezogen durchgeführt wurden, sondern generell drei Jahre nach der Anerkennung vorgeschrieben waren. Das führte zu Hunderttausenden von Widerrufsverfahren, sodass Präsident Sommer das BAMF 2019 als „Widerrufsbehörde“ bezeichnete. Aus den Antworten der Bundesregierung ging hervor, dass all diese Verfahren nur zu wenigen Widerrufen des gewährten Schutzes führten. Die beanspruchten Ressourcen fehlten an anderer Stelle. Gleichzeitig wurden die anerkannten Flüchtlinge verunsichert. Schließlich wurde die generelle Widerrufsprüfung von der Ampel-Koalition 2021/22 abgeschafft, um die Behörde zu entlasten.
Mit Auflösung der Fraktion geht diese Tradition zu Ende, auch wenn nach der Anerkennung als „Gruppe“ im Parlament in Zukunft zehn Kleine Anfragen pro Monat gestellt werden können. Es bleibt zu hoffen, dass auch andere Fraktionen das Thema stärker in den Blick nehmen. Die Universitätsbibliothek Osnabrück ist dabei, die 900 Anfragen als Corpus aufzubewahren und zugänglich zu machen, einschließlich der interpretierenden Vermerke, in denen der Erkenntnisgewinn jeweils zusammengefasst worden ist.