Von Lena Laube und Jonathan Eisleb
Das erste Jahr der Coronapandemie hat die zivile Seenotrettung weiter dramatisch ausgebremst. Der nötige Infektionsschutz hat den Handlungsspielraum der Seenotretter*innen eingeschränkt, aber die EU-Staaten finden auch andere und immer neue Gründe, um die Schiffe der NGOs am Auslaufen zu hindern. Zugleich kentern oder verschwinden wieder und wieder vor der Küste Libyens seeuntüchtige Boote mit Geflüchteten. Dabei steht hinter den NGOs ein immer breiteres zivilgesellschaftliches Netzwerk bereit, um Missionen zu unterstützen
Im August 2020 sorgte die Nachricht, dass der Streetart-Künstler Banksy ein Schiff für die Seenotrettung sponserte und bemalte, für Aufsehen. Die “Louise Michel” unterstützte die Sea Watch 4 in einigen Einsätzen, wurde aber bereits im Oktober 2020 festgesetzt. Viele weitere private Rettungsschiffe wurden in dieser Zeit von Behörden europäischer Staaten im Mittelmeer so oder anderweitig behindert. Die Begründungen waren zumeist Sicherheits- oder Umweltmängel, die an Bord der Rettungsschiffen bestünden. Doch nun kam die Sorge vor Corona-Ausbrüchen dazu. Vor allem Malta und Italien erschweren seit einem Jahr die Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen aufgrund des Infektionsrisikos mit SARS-CoV-2. Immer wieder waren daher im Laufe des ersten Jahres der Coronapandemie zeitweise gar keine zivilen Rettungsschiffe im Mittelmeer im Einsatz. In der Folge zeichnet sich ein immer stärkeres Missverhältnis zwischen dem Aufwand der NGOs und der zivilgesellschaftlichen Unterstützung auf der einen Seite und den verbliebenen Möglichkeiten für Rettungsmissionen auf der anderen Seite ab.
Zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer
Seit 2013/14 gründeten sich in mehreren europäischen Ländern zivile Organisationen zur Seenotrettung, um dem akuten Mangel an Rettungskapazitäten für Geflüchtete im Mittelmeer durch staatliche Stellen zu begegnen. Zusammen begreifen sie sich als “humanitäre Flotte”, deren Hauptziel es ist, Menschen, die sich auf die Flucht nach Europa begeben haben, vor dem Ertrinken zu retten. Zu diesen gehören auch einige deutsche Organisationen und Vereine wie Sea Eye, Jugend Rettet, Sea-Watch, Mission Lifeline und SOS Mediterranee. Ihre Arbeit wurde insbesondere seit 2016 immer wieder von EU-Mitgliedstaaten durch Strafverfahren gegen Mitglieder der Crews, eine Kriminalisierung durch neue rechtliche Auflagen, Einfahrverbote in Häfen sowie die Festsetzung von Schiffen aufgrund rechtlicher Verfahren wegen Hilfe zu illegaler Migration erschwert. All das führte im Vergleich zu den Jahren 2014/15 zu einem erheblichen Rückgang der Präsenz von zivilen Rettungsschiffen auf dem zentralen Mittelmeer, obwohl weiterhin Menschen versuchen über diesen Weg nach Europa zu gelangen.
Reduzierter Handlungsspielraum durch den Infektionsschutz
In diese Situation brach im Frühjahr 2020 die Coronapandemie ein. Bereits Anfang April 2020 schlossen Italien und Malta ihre Häfen für private Rettungsschiffe, weil sie diese wegen des hohen Infektionsgeschehens als “nicht sicher” betrachten. Unmittelbar betroffen von den Einfahrverboten war das Rettungsschiff Alan Kurdi von Sea Eye, das 150 aus Seenot gerettete Menschen an Bord hatte und am 9. April einen sicheren Hafen suchte. Es dauerte zwei Wochen bis Italien ein Schiff für die Quarantäne und medizinische Versorgung schickte. Währenddessen kam es aufgrund der schwierigen Situation auf dem Schiff zu drei Suizidversuchen von Geretteten. Mitte April musste dann das spanische Schiff Aita Mari eine Woche mit 43 geretteten Menschen warten bis die italienischen Behörden Hilfe schickten.
Viele weitere Geflüchtete durchliefen bis ins Frühjahr 2021 einen zusätzlich verlängerten Prozess des Wartens bevor sie an Land gelassen wurden, zuerst auf dem Rettungsschiff auf der Suche nach einem sicheren Hafen und dann etwa zwei Wochen auf Quarantäne-Schiffen bis sie auf das Coronavirus getestet wurden. Die Crews wurden verpflichtet bei der Rettung Schutzanzüge zu tragen und strengen Hygienevorschriften zu folgen. Seither wird Personen, die an Bord genommen werden, die Temperatur gemessen und sie bekommen eine Schutzmaske. Verdachtsfälle werden isoliert. Im Juni gab es erste Fälle von Corona-Infizierten auf privaten Rettungsschiffen. Auf den italienischen Quarantänefähren wurden zwischen Mai und November 2020 10.000 Geflüchtete isoliert untergebracht, darunter aus Seenot Gerettete sowie positiv getestete Asylsuchende aus anderen Aufnahmeeinrichtungen.
Menschenrechtsvertreter*innen kritisieren die Unterbringung auf See, u.a. weil zahlreiche Personen länger als die vorgeschriebene Quarantänezeit dort festgehalten wurden und keinen ausreichenden Zugang zu medizinischer, psychologischer und rechtlicher Betreuung hatten. Dies zeigt, dass nationaler Infektionsschutz in vielen Fällen vor den Schutz von Geflüchteten und Migrant*innen gestellt wird.
Staatliche Interventionen behindern weiter die zivile Seenotrettung
In die Zeit seit März 2020 fällt auch das Inkrafttreten einer Änderung der Schiffssicherheitsverordnung durch das deutsche Verkehrsministerium (BMVI). Es verlangt von kleinen Sportbooten, die unter deutscher Flagge fahren und zur Rettung oder Überwachung des Fluchtgeschehens genutzt werden, nun auch ein Schiffssicherheitszeugnis. Diese Änderung ist eine Reaktion des BMVI auf einen verlorenen Rechtsstreit in 2019 mit dem Verein Mare Liberum um eine Festhalteverfügung, die gegen das Auslaufen des gleichnamigen Schiffs ausgesprochen worden war. Bisher war vor allem den italienischen und maltesischen Behörden vorgeworfen worden, mit bürokratischen Mitteln die Arbeit der NGOs zu erschweren. Doch dieser Schritt seitens der deutschen Behörden ist ähnlich zu bewerten, obwohl sich zeitgleich mehrere deutsche Minister*innen sowie die EU-Kommissionspräsidentin für die Seenotrettung aussprachen. Im Oktober 2020 gewann der Verein Mare Liberum mit seinem Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht Hamburg das entschied, dass die oben genannte Verordnung des BMVI gegen geltendes Europarecht verstößt.
Auch die italienische Regierung setzte seit dem Frühjahr 2020 eine Reihe Schiffe der bekannten Search-and-Rescue-NGOs (SAR-NGOs) mit dem Verweis auf Mängel der Umwelt- und Sicherheitsstandards fest. Die Louise Michel wurde dagegen in Spanien festgesetzt. Aus diesem Grund war häufiger über mehrere Wochen kein einziges privates Rettungsschiff auf dem zentralen Mittelmeer im Einsatz. Zudem erhöht das Festsetzen von Schiffen immer wieder die Kosten der NGOs in zeitlicher und finanzieller Hinsicht für die Rettungsmissionen.
Die Pandemie liefert Argumente zur Zurückweisung von Geflüchteten
Nachdem sowohl die EU-Missionen und die privaten Seenotrettungen weitgehend ausgesetzt sind, sind die Geflüchteten darauf angewiesen, allein den Weg bis an die Küsten der EU zu schaffen oder zufällig von Handelsschiffen oder der Küstenwache eines EU-Mitgliedstaats aufgegriffen zu werden. Dabei zeigt sich besonders Malta mit Verweis auf die Coronapandemie hart. Weil sie aus Sorge vor dem Coronavirus selbst Flüchtlingsboote abweist, die vor seiner Küste in Seenot geraten, läuft ein juristisches Verfahren gegen die Regierung in Valletta wegen rechtswidriger Handlungen.
Im April 2020 ertranken mindestens fünf Menschen vor der maltesischen Küste. Die übrigen Insassen des Bootes gelangten auf bisher ungeklärte Weise zurück nach Libyen. Wegen des Verdachts des Totschlags wurden Strafanzeigen gegen den maltesischen Premierminister Robert Abela und den Armeechef Jeffrey Curmi gestellt. Die maltesische Justiz ermittelt zudem wegen Sabotage eines Bootes von Geflüchteten durch Armeeangehörige, damit diese nicht nach Malta gelangen. Premierminister Abela begründete die Abweisung von Schiffen damit, dass alles getan werde, um sein Volk vor dem Einschleppen des Virus durch Migrant*innen zu schützen.
Zunehmende Involviertheit der (deutschen) Zivilgesellschaft
Parallel zu den beschriebenen Entwicklungen kam es in Deutschland zu einem Anstieg des öffentlichen Interesses für die Seenotrettung im Mittelmeer. Nach Hilfsorganisationen und einzelnen Aktivist*innen, die das Thema der Flüchtenden im zentralen Mittelmeer adressierten, engagieren sich immer mehr Kommunen, Kirchen, Firmen, Künstler*innen, Fernsehmoderator*innen und andere Personen des öffentlichen Lebens. Bündnisse und Organisationen formierten sich in Solidarität mit den Seenotretter*innen, organisierten Demonstrationen oder veranstalteten andere Unterstützungsaktionen, wie zum Beispiel eine Spendenaktion seitens des UNO-Flüchtlingshilfswerks für den Umbau eines Schiffs von Sea Eye oder die eingangs erwähnte Aktion des Künstler Banksy.
Dem Konzept “Sicherer Hafen” der Bewegung Seebrücke haben sich mittlerweile 243 Städte und Gemeinden angeschlossen. Damit zeigen sie Bereitschaft, aus Seenot gerettete Menschen aufzunehmen. Zudem verbreitet die Seebrücke die Anliegen der zivilen Seenotrettung medial und macht die Arbeit der NGOs sichtbar. Dem von der Evangelischen Kirche in Deutschland initiierten Aktionsbündnis United4Rescue haben sich mittlerweile 749 Organisationen – vor allem kirchliche aber auch aus anderen Teilen der Zivilgesellschaft – angeschlossen. Das Bündnis unterstützt die Seenotrettung mit Fördermitteln und finanzierte Anfang 2020 der Organisation Sea-Watch ein weiteres Rettungsschiff.
Die SAR-NGOs hatten um Aufmerksamkeit für ihr gemeinsames Ziel gekämpft: Geflüchtete vor dem Ertrinken zu retten. Ihr Engagement hat binnen sechs Jahren in Deutschland dazu geführt, weite Teile der Zivilgesellschaft zu einer Positionierung zu zwingen. Auf die Frage, was gegen das Sterben an den EU-Außengrenzen getan werden kann, steht seither eine mögliche Antwort im Raum und stellt andere vor die durchaus komplexe, ethisch-moralische Frage, ob sie diese Hilfe gutheißen und ob auch sie helfen. In Deutschland zeigt sich bei der gesellschaftlichen Unterstützung für die Arbeit der SAR-NGOs eine besondere Involviertheit, Verantwortungs- und Spendenbereitschaft, die auch in der Coronapandemie nicht abbricht. Doch produziert der Druck zur Positionierung auch Gegenwehr und die SAR-NGOs wurden als zentrale Akteure im Streit um die Aufnahme von Geflüchteten in Europa zur Projektionsfläche rechter und fremdenfeindlicher Bewegungen. So klagte etwa Mission Lifeline gegen Pegida-Chef Lutz Bachmann auf Unterlassung seiner Äußerungen, dass der Verein als “Schlepperorganisation” tätig sei und erhielt im Oktober 2020 vor Gericht Recht.
Kristallisationspunkt Seenotrettung
Die politische Debatte in Deutschland um Flucht und Migration nach Europa, um globale Ungleichheit und die politische und moralische Verantwortung von Einzelnen und Kollektiven hat mit der zivilen Seenotrettung in den Jahren nach der akuten Krise der Flüchtlingspolitik 2015/16 einen neuen Kristallisationspunkt gefunden. Doch seither ist der Handlungsspielraum der zivilen Seenotretter*innen, auf die sich viel Aufmerksamkeit und Unterstützung versammelt, politisch aus mehreren Gründen und zuletzt durch die Coronapandemie, kontinuierlich beschnitten worden. In ihrer Arbeit auf See, bei der es um Leben und Tod geht, wurden die SAR-NGOs durch die Coronapandemie noch zusätzlich ausgebremst. Nachdem sie glaubten, einen Weg gefunden zu haben, etwas gegen das Sterben im Mittelmeer unternehmen zu können, sind sie nun oftmals wieder zum bloßen Zusehen gezwungen, weil auch die Staaten ihrer Verpflichtung zur Seenotrettung weiterhin nicht nachkommen. Doch diese Arbeit lässt sich nicht aufschieben sondern nur aussetzen, weil trotz der Pandemie Boote ins zentrale Mittelmeer und nun auch verstärkt Richtung Kanaren starten.
Dass die zivilgesellschaftliche Unterstützung anhält, obwohl kaum noch Rettungsboote auslaufen können, verweist darauf, dass die Organisationen der zivilen Seenotrettung nicht nur als Hilfsorganisationen zu begreifen sind, als welche sie sich zumeist darstellen. Um ihre Arbeit herum hat sich eine soziale Bewegung formiert, welche ausgehend von dem Anspruch, dass Geflüchtete im Mittelmeer nicht sterben gelassen werden, Kritik an der europäischen Grenzpolitik übt und ihre Arbeit auf viele Orte an Land und im Netz ausgeweitet hat. An diesem in der Coronapandemie nochmal verschärften politischen Konflikt rund um die zivile Seenotrettung lässt sich beobachten, wie sich neue politische Ordnungsstrukturen entwickeln und wie eine demokratische Gesellschaft um ihr Engagement für von dem Tod bedrohte Menschen ringt. Denn vor dem Hintergrund der Pandemie spitzt sich die Frage deutlich zu, wem der Kampf ums Überleben gewidmet wird und wem nicht.
Der Blogbeitrag ist Teil der Reihe Folgen von COVID-19 für Flucht und Geflüchtete auf dem FluchtforschungsBlog.