Vom 16.-18. September 2024 fand in Bonn die fünfte Konferenz des Netzwerks Fluchtforschung unter dem Titel „Regionale und lokale Antworten auf globale Fluchtbewegungen: Kontexte, Herausforderungen, Lösungen“ statt. Über 400 Teilnehmende aus über 50 Staaten kamen zusammen, um sich über den Stand der Forschung sowie aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen auszutauschen. Das Herausgebenden-Team des Fluchtforschungsblogs möchte in diesem kurzen Bericht zwei der Schwerpunkte der Tagung herausgreifen: der Einfluss der Fluchtforschung auf Entwicklungen in der europäischen Asylpolitik sowie die Perspektiven aus dem Globalen Süden.
Während sich die öffentliche Debatte um die Themen Flucht, Migration und Integration in den letzten Monaten zuspitzte, traf das Netzwerk Fluchtforschung mit einer Vielzahl an internationalen Kolleg:innen zusammen, um aus breit gefächerten Perspektiven die neueste Forschung und aktuelle Debatten zu diskutieren. Einer langfristigen Strategie des Netzwerks folgend, nahmen eine Vielzahl von Menschen mit Fluchterfahrung teil, die zum Teil durch Mobilitätsstipendien aus dem Netzwerk gefördert wurden. Mit der European Coalition of Migrants and Refugees (EU-COMAR) war zudem erstmals eine Geflüchtetenselbstorganisation an der Durchführung der Konferenz beteiligt.
„A seat at the same table as the Global North“ – Perspektiven aus dem Globalen Süden
Warum ist die stärkere Einbeziehung der Perspektive von Geflüchteten so wichtig? Zwar leben etwa 80% der weltweit etwa 120 Millionen Geflüchteten im Globalen Süden, in der Fluchtforschung ist die sogenannte Süd-Süd-Migration allerdings nach wie vor unterrepräsentiert. Umso wichtiger war es also, dass die Konferenz den Raum bot, Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Globalen Süden zu diskutieren. In Panels wie z.B. “The Multilayered Governance Framework in Migration and Refugee Protection: Evidence from Southeast Asia”, oder “Refugee Regimes in the Global South and their Impacts on Refugees” wurden vor allem die Migrationsbewegungen zwischen dem Sudan und Ägypten, die Arbeitsmigration nach Malaysia, Indien und Thailand sowie die Vertreibung der Rohingya aus Myanmar nach Bangladesch und Indien in zahlreichen Präsentationen thematisiert. Neben der strukturellen Benachteiligung von Forscher:innen aus dem Globalen Süden stand auch die Binarität der Konzepte Globaler Süden vs. Globaler Norden selbst zur Diskussion.
Das Thema der Diskrepanz zwischen Globalem Norden und Süden im Flüchtlingsregime wurde auf der Konferenz bereits durch den Eröffnungsvortrag von Tamirace Fakhoury prominent platziert. In ihrer Keynote diskutierte die Professorin für International Politics and Conflict an der US-amerikanischen Tufts University die Frage, warum dieses Gefälle – hohe Geflüchtetenzahlen im Globalen Süden auf der einen, Unterrepräsentation in der durch den Globalen Norden geprägten Forschung auf der anderen Seite – überhaupt besteht. Unter Rückgriff auf Ansätze der critical geopolitics stellte sie dabei die These auf, dass die Wissensproduktion über Flucht an globale Machtverhältnisse gekoppelt sei. Die Forschungsinfrastruktur sortiere laut Fakhoury geographische Räume nach deren Relevanz für den Globalen Norden und konstruiere so bestimmte Gebiete als besonders (a)typisch oder (un)sichtbar. Diese Hierarchisierung habe dabei nicht nur Einfluss auf die Forschungslandschaft, sondern auch auf das Leben Geflüchteter sowie die alltägliche Arbeit von Geflüchtetenorganisationen selbst. Schließlich ist die Frage der Relevanz auch an den Zugang zu finanziellen Ressourcen geknüpft. Umso wichtiger sei es, so Fakhoury, “pluralizing geographies of refuge” anzustreben sowie die “geopolitics of knowledge production” zu hinterfragen.
Eine ähnliche Botschaft formulierten auch andere Teilnehmende der Konferenz, wie etwa die Migrations- und Demografieforscherin Mary Rose Geraldinde A. Sarausad vom Asian Institute of Technology, Thailand. In einem E-Mail-Interview, das der Fluchtforschungsblog mit ihr im Anschluss an die Konferenz führte, sprach sie sich für mehr Kollaborationen zwischen Forscher:innen aus dem Globalen Süden und Norden aus. Ziel müsse es sein, dass der Globale Süden „a seat at the same table as the Global North“ einnehme:
„It is an accepted fact that there are biases or perceptions with regard to our expertise and the standard of our education in the Global South that lead to a lack of recognition of our skills/expertise by some research institutions. With these collaborations or opportunities to partner with our counterparts in the Global North, I feel that we won’t have this Global North/Global South binary in the future […], therefore, mitigating the gap and inequalities in academia across regions.“
Konkrete Beispiele für den strukturellen Ausschluss von Forscher:innen aus dem Globalen Süden nannte die Friedensforscherin Amira Awad Osman, die das Gender Centre for Research & Training im Sudan mitbegründet hat. Die hohen Abonnement-Kosten wissenschaftlicher Journals seien für viele Wissenschaftler:innen im Globalen Süden nicht finanzierbar, weshalb sie weniger an der Wissensproduktion teilnehmen können. Mehr Open Access Publikationen seien deswegen dringend nötig, so Amira Osman. Auch betonte sie die Bedeutung von Konferenzen, um den Wissensaustausch zu fördern. Allerdings verhindern strenge Visaregime sowie hohe Reisekosten die Teilnahme von Forscher:innen aus dem Globalen Süden oft. Die Mobilitätsstipendien im Rahmen der Konferenz des Netzwerk Fluchtforschung begrüßte Amira Osman dementsprechend, doch formulierte sie auch einen weitergehenden Vorschlag: “A question may be raised here – would holding knowledge exchange events such as conferences in the Global South help to solve such a problem and make the contribution of scholars from the Global South more visible?”
Neben den Debatten, wie die Benachteiligung von Personen aus dem Globalen Süden verringert werden kann, wurde in den Vorträgen und Diskussionen auf der Konferenz jedoch auch deutlich: Die Binarität des Konzepts Globaler Norden und Süden selbst muss kritisch hinterfragt werden. So sind Geflüchtete im Globalen Süden zunächst “diverse in terms of location, language, cause of their flight, culture etc. Therefore, putting them under one category may lead to misunderstanding not only their diverse lived experiences, but also the durable solutions to their plight”, wie Amira Osman uns schreibt.
Außerdem existieren auch innerhalb des Globalen Südens Versuche, das Machtgefälle zwischen verschiedenen Ländern zu nutzen, um Mobilität zu regulieren. Die binäre Vorstellung des machtvollen Globalen Nordens, der einen machtlosen Globalen Süden ausbeute, müsse also zu Gunsten eines wiederum in sich selbst hierarchisierten Globalen Südens aufgegeben werden. Pratiti Roy vom Indian Institute of Science Education and Research wies in seinem Vortrag im Panel “The Multilayered Governance Frameworks in Migration and Refugee Protection: Evidence from Southeast Asia” beispielsweise darauf hin, dass Indien kein Unterzeichner der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 ist und der Schutz von Geflüchteten oft von der Willkür der Regierenden abhängt. Das betreffe insbesondere die Rohingya, die meist ohne legalen Status in Slums oder Geflüchtetenlagern leben und oft willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt seien. Jakob Henninger (DeZIM) und Choo Chin Low (Universiti Sains Malaysia) zeigten in ihrem Vortrag im selben Panel wiederum auf, wie sich die sozialen Rechte von indonesischen, nepalesischen und bangladescher Arbeitsmigrant:innen in Malaysia massiv unterscheiden und so eine Hierarchie sozialer Absicherung entsteht. Migrationspolitische Instrumente seien dabei, so die These von Taufiq E. Faruque (Leiden University, Niederlande), oft von Politikansätzen aus dem Globalen Norden inspiriert. Faruque zu Folge sei die umstrittene Zwangsumsiedlung geflüchteter Rohingyas auf die Bhasan Char Insel in Bangladesch im Jahr 2017 auch an hoch problematische „Vorbilder“ wie das europäische Geflüchtetenlager auf Lesbos oder das australische Off-Shore Proecessing in Nauru und Papua-Neuguinea angelehnt. Zwischen Globalem Süden und Globalem Norden gibt es also ausreichend Verbindungslinien, die die klare, von den Konzeptionen suggerierte Binarität hinterfragen.
Die Rolle der Fluchtforschung in der europäischen Asyldebatte
Eine hohe Nachfrage erfuhren auch die Sessions, die die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik zum Thema hatten. Insbesondere der vom AK Europa des Netzwerk Fluchtforschung veranstaltete Roundtable „Haben wir versagt? Zur zunehmenden Diskrepanz zwischen Forschungsstand und politmedialer Debatte im Bereich Flucht & Vertreibung“ rief viele Forschende und Praktiker:innen auf den Plan. Im Panel waren mit Judith Kohlenberger (WU Wien) und Olaf Kleist (DeZIM) Migrationsforscher:innen mit Schwerpunkten im Wissenstransfer vertreten, die sich gemeinsam mit Teilnehmenden und Vertreter:innen aus Politik (Clara Bünger, Die Linke) und Journalismus (Srdjan Govedarica, ARD) einer Selbstreflexion unterzogen.
Dabei wurde thematisiert, dass Expertise aus der Flucht- und Migrationsforschung durch Politik und Medien zwar vielfach eingeholt werde, die Erkenntnisse aber kaum bis gar nicht in die politischen Entscheidungen einbezogen würden. Obwohl Stimmen aus der Fluchtforschung regelmäßig in den Medien präsent seienund Wissenstransfer auch in der Forschungsfinanzierung eine stetig wachsende Rolle spiele, sei eine von Evidenz losgelöste politische Debatte zu beobachten. Der Wissensstand würde entweder ignoriert – etwa wo es um die sich hartnäckig haltenden Narrativen von höheren Sozialleistungen oder Seenotrettung im Mittelmeer als offensichtlichen „Pull-Faktoren“ geht – oder falsch kontextualisiert. Bereits die Problemanalyse würde auf der politischen Ebene nicht auf Basis von Evidenz erfolgen, wozu auch die Medien ihren Beitrag leisteten. Das zeigt sich, so war man sich einig, kaum deutlicher als in der aktuellen öffentlichen Debatte in Deutschland, die eine migrationsbedingte Gefahr für die öffentliche Ordnung und Daseinsfürsorge bei gleichzeitig deutlich zurückgehenden Flüchtlingszahlen und einem seit vielen Jahren anwachsenden massiven Investitionsstau in die deutsche Infrastruktur suggeriert.
Dazu herrsche ein hohes Maß an “Rosinenpickerei” bei der Auswahl von in den Medien repräsentierten (Pseudo-)Expert:innen und Fakten, was zur Verzerrung des forschungsrelevanten Wissensstands führe. Besonders beklagt haben die Diskussionsteilnehmenden die bereits aus der Klima-Debatte bekannte journalistische Logik der „false balance“. Diese führe dazu, dass in der Wissenschaft marginale Positionen als scheinbar legitime Gegenmeinungen überproportional viel mediale Aufmerksamkeit erhielten, etwa zur vermeintlichen Nicht-Anwendbarkeit des Europarechts bei Asylgesuchen an den deutschen Grenzen (eindeutig dagegen etwa hier, hier und hier).
Diskutiert wurde auch, ob und wie die Fluchtforschung sich verändern müsse, um vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Medienlandschaft und der aktuellen Diskursverschiebung wirksam bleiben zu können. Dass in einer sich beschleunigenden Medienwelt auch passgenauere Wissensvermittlung notwendig ist, wurde dabei grundsätzlich bejaht. Einzelne Stimmen plädierten zudem dafür, dass die Fluchtforschung auch bereit sein müsse, Herausforderungen von Flucht und Migration in Deutschland öffentlich klarer zu benennen, um Themen etwa aus den Bereichen der Integrations-, Bildungs- und Kriminalitätsforschung nicht rechtsautoritären Diskursen zu überlassen. Andere hingegen mahnten an, dass die Fluchtforschung sich stärker mit dem gesellschaftlichen und politischen Kontext der aktuellen Diskursverschiebung beschäftigen und Dynamiken des erfolgreichen Agenda-Settings von Rechtsaußen stärker in den Blick nehmen müsse.
Einig waren sich die Panelist:innen letztlich darüber, dass Forschung eben Zeit benötige und sich nicht abhängig machen könne von politischen Entscheidungsdynamiken, die allzu oft dem Zyklus von Legislaturperioden oder gar medialen Konjunkturen folgten. Es schien kein Zweifel daran zu bestehen, dass Migrationspolitik evidenzbasierter ausgestaltet werden müsse, da die Implikationen fehlgeleiteter Politik zu weitreichenden negativen Konsequenzen für alle Bürger:innen führen, etwa angesichts des sich verstärkenden Arbeitskräftemangels oder in Bezug auf die Einschränkung der Reisefreiheit. Die vielseitige Diskussion sorgte für so viel Lob bei den Teilnehmenden, dass der Wunsch nach Nachfolgeprojekten mehrfach geäußert wurde.
Die konkreten Auswirkungen gegenwärtiger Asylpolitik wurden unter anderem im Roundtable „Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Wohin steuert die EU?“ diskutiert. Weitgehende Einigkeit bestand darüber, dass die jüngsten Reformen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene in Deutschland skeptisch gesehen werden, da sie auf einer verzerrten Problemanalyse beruhten und die gewählten Instrumente die erkannten Probleme nicht lösen könnten. Die seit langem bestehenden strukturellen Herausforderungen würden nicht angegangen, stattdessen werde Flüchtlingsschutz sukzessive abgebaut und die Errungenschaften der europäischen Integration, wie die Reisefreiheit („Schengen“), kontinuierlich zurückgefahren. Das schwäche die Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und letztlich den Standort EU. Insbesondere auf nationalstaatlicher Ebene sei eine Beschleunigung eines „race to the bottom“ zu beobachten, das auf performativer Symbolpolitik beruhe, die den Erkenntnisstand aus Wissenschaft und Praxis weitgehend ignoriere. Die Teilnehmenden schien die Sorge umzutreiben, dass es kaum Anhaltspunkte für eine Politik gebe, die die Herausforderungen von Migration und Integration erfolgreich angehen könne. Es fehle an politischen Alternativen und Narrativen, die die positiven Seiten von Einwanderung herausstellen. Dies sei auch eine Aufgabe der Medien, der nicht nachgekommen werde. Die größten Profiteure dieser Dynamik seien nicht etwa Regierungen, die diese Politik durchsetzen, sondern die politischen Kräfte im rechtspopulistischen Spektrum. Mache man die von diesen Akteuren geforderte Politik, wählten die Menschen eher das Original, auch das zeige die Forschung. Ebenso, dass eine Mehrheit der Menschen in Europa eigentlich eine liberale Flüchtlingspolitik unterstütze, für die es allerdings kaum noch parteipolitische Repräsentation gebe.
Fazit: Fluchtforschung unter Druck?
Blickt man einerseits aus der Perspektive des Globalen Südens und andererseits vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der deutschen und europäischen Asylpolitik auf die deutschsprachige Fluchtforschung, so bot die Netzwerk-Konferenz Anlass zur Selbstbefragung in zwei Richtungen. Zum einen ist es dringend geboten, die Dynamiken der Wissensproduktion auch in der deutschsprachigen Fluchtforschung auf die Repräsentation von Akteuren aus dem Globalen Süden hin zu befragen. Dies hat auch eine materielle Ebene, auf der es darum geht, Nachteile im Zugang zu Ressourcen und Reisefreiheit von Forschenden aus dem Globalen Süden auszugleichen. In Bonn wurde jedoch ebenso die interne Pluralität der Akteure aus dem Globalen Süden im Flüchtlingsregime deutlich, die das binäre Bild eines regimegestaltenden Globalen Nordens und eines vermeintlich passiven Globalen Südens in Frage stellt. Auch mit der zunehmenden Verankerung von Migration als außenpolitisches Querschnittsthema besonders in den Nord-Süd-Beziehungen bei gleichzeitiger Erosion der westlichen Hegemonie auf globaler Ebene, wird die Pluralisierung von Flucht- und Migrationsgeographien in Zukunft eine wichtige Rolle in der Fluchtforschung spielen.
Zum Anderen nötigt der virulente Backlash in der Asyl- und Grenzkontrollpolitik sowohl auf EU-Ebene als auch in Deutschland Forschende und Praktiker:innen in diesen Bereichen zur Reflexion des eigenen Tuns. Dabei herrschte in Bonn Einigkeit darüber, dass die aktuelle politische Debatte sich weitreichend und bereits in ihrer Problemdiagnose – Stichwort „Migrationsnotstand“ – von der wissenschaftlichen Evidenz verabschiede, ganz zu schweigen von den implementierten politischen Instrumenten. Hier war das Fazit zunächst, dass Fluchtforscher:innen Präsenz in der Öffentlichkeit auch weiterhin nicht scheuen dürfen, aber gleichzeitig auf der Unabhängigkeit der Fluchtforschung von politischen Imperativen beharren müssten. Mittelbar scheint aber auch die engere Kooperation der Fluchtforschung mit anderen Disziplinen nötig, etwa der Armuts- und Ungleichheitsforschung, der (kritischen) Sicherheitsforschung oder der Demokratie- und Populismusforschung, um den Problemkontext Flucht als Teil breiterer gesellschaftlicher Entwicklungen zu verorten, Praktiken der Wissensproduktion in der Fluchtforschung zu reflektieren und die Dynamiken eines zunehmend autoritär geprägten politischen Agenda-Settings besser in den Blick nehmen zu können.