Afghanistan – viereinhalb Jahrzehnte Konflikte, Flucht und Vertreibung

Seit Beginn der 1980er Jahre war Afghanistan für über drei Jahrzehnte das global wichtigste Herkunftsland von Flüchtlingen. Erst 2014 wurde diese Position von Syrien übernommen. Konflikte in Afghanistan haben seit Ende der 1970er Jahre nicht nur grenzüberschreitende Bewegungen, sondern auch Binnenflucht ausgelöst. Dieser Beitrag fasst die Konfliktgeschichte Afghanistans als Fluchtursache sowie die Situation der Flüchtlinge in Pakistan, Iran und Deutschland zusammen.

Teile der afghanischen Bevölkerung waren schon vor 1978 über Handelsnetzwerke und Arbeitsmigration international mobil. In den Nachbarstaaten Pakistan und Iran waren afghanische Migranten in den 1970er Jahren als ökonomisch ausbeutbare Arbeitskräfte willkommen. Hierfür waren ethnische, sprachliche und teilweise religiöse Überschneidungen entscheidend: Dari, die afghanische Variante des Persischen, und Paschtu sind die wichtigsten Sprachen des Landes. Während die Dari-Sprechenden in den Iran migrierten, gingen Paschtunen (ganz überwiegend Männer) mehrheitlich nach Pakistan. Gerade nach Pakistan gibt es viele grenzüberschreitende paschtunische Netzwerke. Viele Paschtunen erkennen die zu Kolonialzeiten von den Briten gezogene Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan nicht an.

 

Konfliktgeschichte

Am 27. April 1978 putschte sich die kommunistische Demokratische Volkspartei Afghanistans in Kabul gegen die Regierung von Mohammad Daud an die Macht. Daud war 1973 selbst durch einen Staatsstreich gegen den König Zahir Shah an die Macht gekommen, bei dem ihn unter anderem in der Sowjetunion ausgebildete Offiziere unterstützt hatten. Konflikte innerhalb der Partei sowie Widerstand gegen ihr gewaltsames Vorgehen schwächten das Regime. Am 25. Dezember 1978 intervenierte die sowjetische Armee, um das Regime zu stützen. Die Invasion verstärkte jedoch den Widerstand. In der Logik des Kalten Krieges unterstützten die USA gemeinsam mit Pakistan die verschiedenen Gruppen aufständischer Mujaheddin, die damals als „Freiheitskämpfer“ gegen den Kommunismus galten.

In Pakistan hatte sich 1978 General Zia ul Haq an die Macht geputscht, der eine strikte Islamisierungsagenda verfolgte. Die Mujaheddin waren mit ihrer Guerillataktik gegen die Sowjettruppen erfolgreich, vor allem, als sie ab 1987 mit US-Luftabwehrraketen die sowjetische Lufthoheit brachen. Die Sowjetarmee zog 1988/89 ab. Die weiter von Moskau unterstützte Regierung in Kabul wurde 1992 von den Widerstandsgruppen gestürzt. Gleichzeitig zerbrach die Allianz des Widerstands und das Land zerfiel in Regionen unter verschiedenen Kriegsherren, die erbittert um die Vorherrschaft kämpften.

Ab 1994 rollten die Taliban, die mit pakistanischer und saudi-arabischer Unterstützung aus Religionsschulen in Pakistan und im Süden Afghanistans hervorgegangen waren, von Süden her das Land auf. Hinter ihrem Vormarsch standen strategischen Interessen Pakistans. Anfangs hofften viele Afghan*innen auf Frieden durch die Taliban, die mit ihrem gewaltsamen Vorgehen aber Sympathien verspielten.

Im September 1996 nahmen sie Kabul ein, was die Einigung ihrer zerstrittenen Gegner zur „Nordallianz“ bewirkte. Erbitterte Kämpfe waren die Folge. Weil die Taliban den von ihnen beherrschten Teil Afghanistans immer mehr zur Drehscheibe des globalen Islamismus machten, waren sie international weitgehend isoliert. Seit 1996 hatten sie Osama bin Laden Unterschlupf geboten. Als sie nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 seine Auslieferung an die USA verweigerten, begann die US-Luftwaffe am 7. Oktober 2001 Stellungen der Taliban zu bombardieren, die sich in Gebirgsregionen vor allem an der pakistanischen Grenze zurückzogen.

In Kabul nahm eine Übergangsregierung die Arbeit auf, zu deren Absicherung die International Security Assistance Force (ISAF) unter Führung der NATO installiert wurde. Mit den Parlamentswahlen im Jahr 2005 war der politische Übergangsprozess offiziell beendet, das Land aber keineswegs befriedet. Die Taliban waren nicht vollständig geschlagen und forderten die internationalen Truppen mit zahlreichen Anschlägen heraus. Weiterhin von Pakistan unterstützt, nutzen sie die Grenzregion als Rückzugsraum. Insbesondere nach dem Teilrückzug der US-Armee ab 2014 wurde die Lage der Bevölkerung immer prekärer. Gewalt durch Anschläge, aber auch durch US-Drohnenangriffe, bei denen zahlreiche Zivilisten getötet wurden, nahm zu. Dem Global Peace Index zufolge war Afghanistan 2020 das am wenigsten friedliche Land der Welt. 2016/17 lebten 54% der Afghanen unter der Armutsgrenze, im Welthunger-Index 2019 belegte das Land Platz 108 von 117 Ländern; 2020 waren 35% der Bevölkerung von akuter Nahrungsunsicherheit betroffen.

 

Fluchtbewegungen

Die verschiedenen Konfliktphasen haben immer wieder neue Fluchtbewegungen ausgelöst. Wegen der sehr volatilen Dynamik, die immer auch Rückkehrbewegungen einschloss, aber auch weil längst nicht alle Geflüchteten formell registriert wurden, ist es schwierig, verlässliche Zahlen zu nennen. Während der sowjetischen Besatzung haben etwa 5 Millionen Afghan*innen ihr Land verlassen, bei einer im Land verbliebenen Bevölkerung von knapp 12 Millionen im Jahr 1985. Die meisten Afghan*innen migrierten in die Nachbarländer Pakistan und Iran. Für Pakistan und Iran hatte die Flucht religiöse Untertöne. Mohajir, das Wort für „Flüchtling“ in den meisten Sprachen der Region, ist arabischer Herkunft und wird auf die Flucht (hijra) des Propheten Mohammad aus Mekka nach Medina bezogen, der dort Unterstützung sammelte und schließlich Mekka eroberte. Vor allem für Pakistan war das ein Modell für die Afghan*innen, und es wurde erwartet, dass aus den mohajirīn (Flüchtlingen) mujaheddīn („Glaubenskämpfer“) wurden, die Afghanistan befreiten.

 

Afghanische Flüchtlinge in Pakistan

Etwa 94% der nach Pakistan geflohenen Afghan*innen waren Paschtun*innen meist ländlicher Herkunft. Sie wurden zunächst wohlwollend aufgenommen und gingen vor allem in die an Afghanistan angrenzende NWFP (North West Frontier Province, heute Khyber Pakhtunkhwa) und nach Belutschistan. Über 350 Flüchtlingslager entstanden, offiziell Afghan Refugee Villages genannt. Einige Lager wurden selbst organisiert, die meisten jedoch durch die pakistanische Verwaltung, die auch dafür sorgte, dass viele Lager von der Grenzregion ins Landesinnere verlegt wurden. Zeitweise stellte der UNHCR Zelte zur Verfügung, die aber rasch durch kleine selbstgefertigte Häuser ersetzt wurden. Viele Afghan*innen zogen auch in Städte, in denen sie nicht von den pakistanischen Behörden als Flüchtlinge registriert wurden. Bis 1989 stieg die Zahl der Flüchtlinge im Land auf 3,3 Millionen, etwa 3% der Bevölkerung Pakistans.

Obwohl Pakistan die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat, bat es 1979 den UNHCR um Unterstützung bei der Betreuung der Flüchtlinge. Die Versorgung durch humanitäre Hilfe war jedoch unzureichend und musste durch eigenes Einkommen der Flüchtlinge ergänzt werden. Die Lager wurden von der pakistanischen Regierung kontrolliert. Sie waren intern zunächst auf der Basis tribaler Strukturen mit Maliks (Oberhäupter paschtunischer Abstammungsgruppen) an der Spitze organisiert; später spielten jedoch die verschiedenen Widerstandsgruppen die zentrale Rolle, denn die Maliks mussten von der pakistanischen Verwaltung bestätigt werden, was nur geschah, wenn sie sich einer der sieben von Pakistan anerkannten Mujaheddin-Gruppen zuordneten.

Auch die Registrierung als Flüchtling setzte die Zugehörigkeit zu einer Gruppe voraus. Die Lager wurden zu Rückzugs- und Rekrutierungsorten für die Mujaheddin, die in Trainingscamps vom pakistanischen Geheimdienst ISI ausgebildet wurden. In den Flüchtlingslagern und angeschlossenen Kliniken wurden auch kriegsverletzte Kämpfer behandelt. Die Lager verstärkten die pakistanische Kontrolle des Widerstands und verschafften dem Militärdiktator Zia-ul-Haq internationale Anerkennung. Zia diente die ‚Flüchtlingskrise‘ auch als Argument, das Kriegsrecht in Pakistan fortzusetzen. Man kann davon ausgehen, dass ein Teil der internationalen humanitären Hilfe für die Flüchtlinge zu den Mujaheddin umgeleitet wurde. Die Hilfe für die Flüchtlinge unterstützte den Krieg auch dadurch, dass sie den Kämpfern die Sorge für ihre Familien abnahm. Flüchtlinge konnten in Pakistan kein Land kaufen, waren aber ansonsten in formellen Rechten kaum eingeschränkt; sie fielen nicht unter das pakistanische Ausländerrecht und hatten im Prinzip Zugang zu Bildung und Gesundheitsgrundversorgung. Beides war aber in den Randgebieten Pakistan jedoch ohnehin unterentwickelt und Mädchen gingen meist nicht zur Schule.

Mit dem Ende des Kriegsrechts 1986 wuchs die Kritik an den Flüchtlingen und ihrer Unterstützung. Nach dem Abzug der Sowjet-Truppen hatten die Flüchtlinge ihre strategische Bedeutung für Pakistan verloren; sie waren nun nicht mehr ein Machtfaktor gegenüber der Sowjet-gestützten Regierung in Afghanistan. Gleichzeitig schwand die internationale Hilfe. 1990 startete Pakistan das erste Programm zur ‚freiwilligen‘ Rückkehr: Flüchtlingskarten konnten gegen 100 USD und 300 kg Weizen eingetauscht werden. 1992, nach dem Sturz der Regierung in Kabul, gingen innerhalb von sechs Monaten etwa 1,2 Millionen Afgh*innen zurück. Mit dem Bürgerkrieg kamen jedoch erneut Afghan*innen, die kaum noch unterstützt wurden. Die Nahrungsmittelhilfe für die Flüchtlingslager wurde 1995 vom World Food Programme (WFP) eingestellt. Neuankommende wurden nicht als Flüchtlinge registriert und gingen auf sich gestellt in die pakistanischen Städte.

Im Jahr 2000 schloss Pakistan offiziell die Grenze, was aber die Mobilität nicht stoppte. Nun wurden Afghan*innen überwiegend als „Wirtschaftsflüchtlinge“ betrachtet, die vor der Dürre in Afghanistan flohen, und galten rechtlich als Ausländer*innen. Mit dem UNHCR wurde 2001 eine Prüfung vereinbart, um ‚echte‘ von ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ zu unterscheiden, die abgeschoben werden sollten. Dies wurde jedoch im September wegen der US-Intervention gestoppt. Unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September 2001 kamen erneut ca. 200.000 Flüchtlinge. 2002 startete der UNHCR eine neue Rückkehraktion, gleichzeitig löste Pakistan Lager auf.

Die meisten Rückkehrer*innen waren jedoch nicht registrierte Stadtbewohner*innen, teilweise wurden urbane Flüchtlingssiedlungen zerstört. Im Oktober des Jahres hatten laut UNHCR bereits 1,5 Millionen Afghan*innen Pakistan verlassen. Diese Zahl war vermutlich zu hoch, da es viele ‚Mehrfachrückkehrer*innen‘ gab. Viele kamen nach Pakistan zurück, weil die Bedingungen in Afghanistan zu schwierig waren. Dennoch war die Zahl der Rückkehrer*innen nach Afghanistan so groß, dass sie dort auch angesichts der herrschenden Dürre und etwa einer Million Binnenvertriebenen nicht genügend unterstützt werden konnten. Viele blieben in Pakistan. So wurden 2006 im Zuge einer neuen elektronischen Registrierung der gesamten Bevölkerung auch rund 2,2 Millionen Afghan*innen gezählt. Gleichzeitig wurde beschlossen, alle Camps zu schließen.

Die folgenden Jahre waren ein Hin- und Her zwischen Versuchen, die Flüchtlinge endgültig nach Afghanistan zurückzudrängen, und der erneuten Gewährung von Aufschub aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage. Mit dem wachsenden Terrorismus durch (pakistanische) Taliban in Pakistan wurden die Flüchtlinge immer mehr als Sicherheitsproblem betrachtet und häufig von Sicherheitskräften schikaniert. 2017 begann Pakistan einseitig mit dem Bau eines Zauns an der 2.640 km langen Grenze zu Afghanistan, um Grenzübertritte zu verhindern. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern sind nachhaltig gespannt. 2018 kündigte der pakistanische Premierminister Imran Khan an, in Pakistan geborene Afghan*innen die pakistanische Staatsbürgerschaft zu geben. Ob diese Pläne jemals umgesetzt werden, ist jedoch fraglich.

Derzeit sind laut UNHCR 1,3 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan in Pakistan registriert. Dazu kommen viele, die nicht registriert sind.

 

Afghanische Flüchtlinge in Iran

Die Situation der Flüchtlinge in Iran unterscheidet sich stark von der in Pakistan. Laut einer Zählung der iranischen Regierung im Jahr 2000 waren 34% der Flüchtlinge Pashtun*innen, 27% Tadschik*innen, 19,4% Hazara und 19,6% Usbek*innen. Damit waren die Geflüchteten im Iran weit heterogener als in Pakistan. Iran hat die Genfer Konvention unterzeichnet, das islamische Regime lehnte zunächst jedoch die Zusammenarbeit mit dem als ‚westlich‘ betrachteten UNHCR ab. Es gab kaum internationale Hilfe, und erst 1984 öffnete der UNHCR ein Büro im Land für sehr begrenzte Hilfen für die Flüchtlinge. Die Afghan*innen gingen überwiegend in Städte und mussten sich mit unterbezahlter und in der Regel nicht legaler Arbeit selbst versorgen. Nur etwa 3% der Flüchtlinge lebten in Lagern. Ende 1981 gab es etwa 1,5 Million afghanische Flüchtlinge im Iran; für 1990 geht man von etwa 3 Millionen Flüchtlingen aus. Sie bekamen keinen Flüchtlingsstatus, sondern galten als religiöse Exilant*innen mit begrenzten Rechten. Ihr Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung wurde Mitte der 1990er Jahre eingeschränkt, weil die Flüchtlinge zunehmend als ökonomisches Problem gesehen wurden und zur Rückkehr bewegt werden sollten.

Schon 1992 unterzeichnete der Iran ein Rückkehrabkommen mit dem UNHCR und Afghanistan und begann diejenigen Flüchtlinge zu unterstützen, die zurückgehen wollten. 1993 hatten ca. 600.000 Afghan*innen das Land verlassen, davon etwa die Hälfte mit Unterstützung. Als die Taliban 1995 Herat einnahmen, stoppte die Remigration und neue Flüchtlinge kamen ins Land. Anfang 2000 konnten sich Afghan*innen für Unterstützung für die ‚freiwillige‘ Rückkehr registrieren lassen. Etwa 130.000 gingen in jenem Jahr zurück. Die meisten Afghan*innen im Iran waren aber nicht registriert, sondern ‘illegal‘, mit allen damit verknüpften Problemen. 2002 lebten immer noch 1,5 Millionen Afghan*innen im Iran.

In der Wirtschaftskrise infolge internationaler Sanktionen und Isolation erhöhte der Iran den Druck auf die Afghan*innen. Seit 2002 werden Afghan*innen abgeschoben, in manchen Jahren mehr als freiwillig zurückkehren. So wurden 2008 über 400.000 abgeschoben – gegenüber 74.000 freiwilligen Rückkehrer*innen. Insgesamt sind knapp die Hälfte der Rückkehrer*innen Abgeschobene.

Dem UNHCR zufolge leben derzeit etwa 780.000 Flüchtlinge aus Afghanistan im Iran. Dazu kommen schätzungsweise 2,1 Millionen Afghan*innen, die nicht als Flüchtlinge registriert sind.

 

Binnenflucht

Nicht alle Afghan*innen, die von Krieg und Gewalt betroffen sind, fliehen ins Ausland. Viele werden zu Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons, IDPs), die sich meist in der Nähe ihrer Herkunftsorte niederlassen, etwa in der jeweiligen Provinzhauptstadt oder in einer Nachbarprovinz. Gemeinsam mit Rückkehrern aus den Nachbarländern tragen IDPs erheblich zur Urbanisierung und zum Wachstum der Städte bei. So hat sich die Bevölkerung von Kabul zwischen 2001 und 2007 verdreifacht. Etwa 70% der Bevölkerung der Stadt lebt in informellen Siedlungen. Infolge der Konflikte seit den 1990er Jahren gab es 2002 etwa 1,2 Millionen IDPs im Land. Seit dem verstärkten Engagement der US-Truppen gegen die Taliban im Jahr 2010 stieg die Zahl der IDPs rapide an. Sie wuchs 2015 um 470.000 und 2016 um 580.000. Binnenflucht wird jedoch nicht nur durch Gewalt ausgelöst. Infolge mehrjähriger Trockenheit vor allem in den nordwestlichen Provinzen des Landes verließen 2018 371.000 Menschen ihre Heimatorte; etwa ebenso viele wie wegen der Konflikte. Ende 2020 ging das IDMC von insgesamt 1.117.000 IDPs infolge von Naturkatastrophen und 3.547.000 IDPs infolge von Gewalt aus.

Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2014 versprach Präsident Ashraf Ghani, den Begriff IDPs „aus dem nationalen Vokabular zu entfernen“. Schon 2013 war eine nationale Politik für IDPs angekündigt worden, die jedoch in den Folgejahren nur unzureichend umgesetzt wurde, u.a., weil sie mehr von internationalen als von afghanischen Akteur*innen ausgearbeitet worden war. Registrierung als IDP musste individuell auf Provinzebene beantragt werden und schloss Gebiete, die nicht von der Regierung kontrolliert wurde, sowie Individuen, die die Provinzverwaltung nicht aufsuchen konnten, aus. Trotz mancher Ankündigungen genießen die IDPs keine nationale Priorität.

 

Afghanische Flüchtlinge in Europa

Während die meisten Afghan*innen in der Region blieben, flohen einige weiter nach Europa und vor allem nach Deutschland. Auch hier knüpften sie an bestehende Migrationsnetzwerke an. Zunächst kamen vor allem Angehörige der (Bildungs-)Elite, die sich die Reise leisten konnten. Von 2014 bis 2016 stieg die Zahl der Afghanen sprunghaft von 75.300 auf 253.500 an. 2019 lebten 263.400 Afghan*innen in Deutschland. Parallel nahm ihre Schutzquote (Asyl und subsidiärer Schutz) von 78% im Jahr 2015 auf 47% im Jahr 2017 ab, obwohl sich die Sicherheitslage in Afghanistan massiv verschlechterte. Damit hatten Afghan*innen in Deutschland keine ‚gute Bleibeperspektive‘ mehr und waren von Integrationsmaßnahmen ausgeschlossen. 2016 wurde der Abschiebestopp nach Afghanistan aufgehoben und bis Mai 2021 1.077 Afghanen – ausschließlich Männer – per Sammelabschiebungen nach Kabul ausgeflogen, obwohl Abgeschobene als ‚vom Westen kontaminiert‘ in Afghanistan stark gefährdet sind.

 

Die erneute Machtübernahme der Taliban

Anfang Juli 2021 verließen die NATO-Truppen nach zwanzig Jahren Afghanistan. In den folgenden Wochen gelang es den Taliban sehr schnell, Provinz um Provinz des Landes einzunehmen. Am 12. August 2021, drei Tage vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul, wurden die Abschiebungen aus Deutschland gestoppt. Neue Fluchtbewegungen setzten ein. Vor allem Menschen, die mit den NATO-Truppen und internationalen Organisationen gearbeitet hatten und fürchteten, von den Taliban als „Kollaborateur*innen“ verfolgt zu werden, versuchten, das Land zu verlassen. NATO-Staaten organisierten Evakuierungsflüge vom Flughafen Kabul, wo sich dramatische Szenen abspielten. Bei einem Bombenanschlag des „Islamischen Staates“ auf die Menschenmenge, die am Flughafen auf Einlass hoffte, wurden 170 Afghanen und 13 US-Soldaten getötet.

Die Bundesregierung fasste die Kriterien für die Aufnahme von Afghan*innen sehr eng und beschränkte sie zunächst auf sogenannte „Ortskräfte“, die in den vergangenen Jahren direkt für die Bundeswehr und deutsche Organisationen gearbeitet hatten; Mitarbeiter*innen von Subunternehmen waren ausgeschlossen. Später wurde auf zivilgesellschaftlichen Druck hin der Kreis der aufgenommenen Personen erweitert. Nach dem Ende der Evakuierungsflüge der Bundeswehr organisierte die Initiative Luftbrücke Kabul die Ausreise weiterer Menschen über Pakistan. Bis Ende 2021 wurden 6.899 Afghan*innen in Deutschland aufgenommen, darunter 5.437 ehemalige Ortskräfte und ihre Angehörigen sowie 1462 andere Gefährdete – Menschenrechtler*innen, Künstler*innen, Journalist*innen usw. und ihre Angehörigen. Sie mussten keinen Asylantrag stellen. Gleichzeitig warteten noch ca. 20.000 Menschen aus dieser Gruppe auf die Einreise nach Deutschland. Zusätzlich hat sich 2021 aber auch die Zahl von Asylanträgen von Afghan*innen gegenüber dem Vorjahr auf 23.276 mehr als verdoppelt.

Menschen verließen Afghanistan nicht nur wegen tatsächlicher oder befürchteter Bedrohung durch die Taliban, sondern auch wegen der immer katastrophaleren Versorgungslage. Auslandsguthaben der afghanischen Regierung wurden nach der Machtübernahme der Taliban vor allem in den USA eingefroren und die internationale Unterstützung für das Land massiv zurückgefahren. Wie schon in den Jahren zuvor flohen die meisten Afghan*innen – jeweils etwa 300.000 – in die Nachbarländer Pakistan und Iran. In beiden Staaten ist die Aufnahmebereitschaft jedoch gering. In Pakistan werden Afghan*innen nicht als Flüchtlinge betrachtet, da es der pakistanischen Regierung zufolge, die mit den Taliban kooperiert, keine Krise in Afghanistan gibt. Geflüchtete werden lediglich von NGOs „registriert“, ohne dass damit ein formaler Flüchtlingsstatus verbunden wäre. Iran forciert seit der Machtübernahme der Taliban die Abschiebung von Afghan*innen. Das Land, das unter den internationalen Sanktionen leidet, will unbedingt einen Zustrom wie in früheren Jahrzehnten verhindern. Von August bis Dezember 2021 sollen etwa 360.000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben worden sein, etwa 126.000 weitere verließen Iran „freiwillig“.

 

Fazit

Viereinhalb Jahrzehnte unterschiedlicher Konfliktkonstellationen in Afghanistan, ausgelöst durch internationale Interventionen, haben immer wieder zu Flucht und Vertreibung geführt, unterbrochen von Phasen mehr oder weniger freiwilliger Rückwanderung. Dabei fliehen Menschen nicht nur vor direkter Gewalt oder Verfolgung, sondern auch vor der von den Konflikten ausgelösten katastrophalen ökonomischen Situation und der damit einhergehenden Versorgungskrise. Sozialstrukturen, die eine gewisse soziale Absicherung bieten könnten, sind vielfach zerstört. Ohne internationale wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung werden vermutlich viele weitere Menschen versuchen, das Land zu verlassen.

 

Der Text ergänzt den Beitrag zu „Afghanistan“, den der Autor für das Handbuch Flucht- und Flüchtlingsforschung (im Erscheinen) verfasst hat.

Teilen Sie den Beitrag

Facebook
Twitter
LinkedIn
XING
Email
Print