Boat People: Der Flüchtling und das Meer

»Für eine Fahrt ans Mittelmeer, geb’ ich meine letzten Mittel her,
und es zieht mich, weil ich dringend muss, immer über den Bosporus.«
Die Goldenen Zitronen

Das ikonische Bild der anhaltenden Debatte über Flüchtlinge in Europa zeigt ein aus der Vogelperspektive aufgenommenes, einfaches, hellblaues Holzboot, das überfüllt mit Menschen nur von Meer umgeben ist. Es symbolisiert nicht nur eine Migration nach Europa sondern Flüchtlinge in Ihrer Möglichkeit und Hoffnung und in den Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. Diese Bedeutung der Überfahrt ist auch zentral für viele Flüchtlinge selbst. Wie für jene, die 2010 in Griechenland begannen aus Gummibooten Taschen zu nähen: “Boat bags are made out of the rubber-boats we came with […]. It is like an extension of our memory […] the boats did brought` us here, we are carrying on now.” Das Überqueren des Meeres wird zu dem Moment, der das Flüchtlingsdasein repräsentiert.

Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich in einem englischen Begriff, der nahezu synonym mit ‚Flüchtlingen’ ist: Boat People. Es ist eine umstrittene Bezeichnung, die zurecht dafür kritisiert wird, dass sie die komplexen und langwierigen Erfahrungen von Flucht auf den kurzen Moment reduziert, in dem Flüchtlinge für Beobachter im Globalen Norden sichtbar werden, wie in dem erwähnten ikonischen Foto. Auch fliehen die meisten Vertriebenen gar nicht über ein Meer, bleiben eher in ihrem eigenen Land oder überqueren wo möglich Grenzen auf dem Landweg. Und doch wohnt dem Bild und der Erfahrung des Bootsflüchtlings beim Überqueren des Meeres eine Wahrheit inne, die nicht nur seine gesellschaftspolitische Position in dieser Welt symbolisiert, sondern auch die großen Flüchtlingskrisen der jüngeren Zeitgeschichte.

 

Geschichte der Bootsflüchtlinge

Der Begriff der Boat People wurde in den späten 1970er Jahren geprägt, als Vietnamesen in Fischerbooten als auch großen Schiffen Schutz in Ländern der Region suchten, wie Malaysia, Indonesien, Thailand, Singapur und Hong Kong. Die Fahrten waren nicht nur höchst gefährlich, die Zielländer schickten auch vielfach die ankommenden Boote umgehend zurück aufs hohe Meer. Bilder der auf See verlorenen Flüchtlingsboote inspirierten private Rettungsmissionen vor Ort, wie die des deutschen Schiffes Cap Anamur, als auch groß angelegte internationale Rettungsprogramme, durch die rund 2 Millionen Flüchtlinge weltweit aufgenommen wurden. Viele Faktoren trugen zur Anteilnahme angesichts des Leids der Boat People bei, doch die Fotos der Flüchtlinge in Booten prägten sich in das globale Gedächtnis als Sinnbild gegenwärtiger Flucht ein, wie die Trecks von Vertriebenen für die Flucht früherer Generationen stand.

Dabei haben Meeresüberfahrten bei der Suche nach Zuflucht eine durchaus längere Geschichte. Man mag an jüdische Flüchtlinge aus dem zaristischen Russland denken, die um 1900 in großer Anzahl den Atlantik überquerten. Doch auch wenn wir uns im Sinne der ‚Boat People’ auf irreguläre Fahrten konzentrieren, so verweist Klaus Neumann beispielsweise auf die lange Geschichte von Blinden Passgieren auf Schiffen, die seit den 1940er Jahren in Australien Asyl suchten. Auch die MS St. Lois mag man mitzählen, die 1939 mit über 900 jüdischen Flüchtlingen an Bord in Kuba, den USA und in Kanada nicht landen durfte und nach deren Rückkehr nach Europa rund ein Viertel ihrer Passagiere im Holocaust ermordet wurden.

Im herkömmlicheren Sinn ereignete sich fast parallel zur Krise der vietnamesischen Bootsflüchtlinge eine Massenauswanderung aus Kuba, die als Mariel Boatlift bekannt wurde. Über den Sommer 1980 flohen rund 125.000 Personen in kommerziellen und improvisierten Booten von Havannas Mariel Hafen Richtung Florida und wurden dabei von den USA unterstützt.

Während Bootsflüchtlinge in den 1970er und 1980er Jahren vorwiegend aus realsozialistischen Staaten flohen und noch viel Sympathien und Hilfe erhielten, änderte sich dies nach dem Ende des Kalten Krieges. Australien begann ab 1992 alle Bootsflüchtlinge zunächst zu inhaftieren Seit 2001 setzen australische Regierungen auf gewaltsame Abschreckung von Flüchtlingen die irregulär an der Küste landen wollten. Auch in Europa erhalten Bootsflüchtlinge besondere Aufmerksamkeit, die in der politischen Rhetorik zwar Seenotrettung betont doch in der Praxis auf die Bekämpfung von Schmugglern und die Externalisierung und damit Vorverlagerung von Grenzschutz abzielt.

Und auch jenseits der Grenzen des Globalen Nordens fliehen große Gruppen an Vertriebenen über das Meer. So verließen im Frühjahr 2015 Angehörige der Rohingyas Myanmar und Bangladesch in Booten, die, wie schon jene von Vietnamesen in den 1970er Jahren, von Thailand, Indonesien und Malaysia teils aufs Meer zurückgedrängt wurden. Und seit Jahren riskieren tausende Flüchtlinge, rund 82.000 allein in 2014, ihr Leben im Golf von Aden bei der Überfahrt von Ostafrika, insbesondere aus Somalia, nach Jemen, um Zuflucht auf der arabischen Halbinsel zu suchen.

 

Warum Flucht über das Meer?

Der Seeweg ist in Vorstellung und Wirklichkeit ein zentrales und in Narrativen regelmäßig wiederkehrendes Moment von Flucht. Dies auch und gerade wegen der großen Gefahren, denen Bootsflüchtlinge ausgeliefert sind. Das Border Crossing Observatory schätzt, dass in den letzten 15 Jahren rund 2.000 Menschen an der australischen Grenze und überwiegend auf dem Meer umkamen. 223 Menschen ertranken 2014 vor Jemens Küste. Über 1800 Migranten starben allein in der ersten Hälfte diesen Jahres im Mittelmeer, nachdem dort im vergangenen Jahr schon 3.500 Menschen ertrunken waren. So spricht der Präsident von Ärzte Ohne Grenzen davon, dass im Mittelmeer ein Massengrab geschaffen werde. Dabei liegt die Dunkelziffer von Bootsflüchtlingen, die ihre Überfahrt nicht überlebten, sogar weitaus höher.

Doch was bringt Flüchtlinge angesichts dieser großen Gefahren dennoch aufs Meer? Die Ausweglosigkeit nicht nur im Herkunftsland, sondern auch in den Erstzufluchts- und Transitländern lässt oft kaum eine andere Wahl zu. Viele Migranten berichten, dass die Alternativlosigkeit sie zu der Überfahrt treibt. Hinzu kommen oft geographische Umstände, sei es weil ein Land wie Kuba eine Insel oder das einzige sichere Zufluchtsland in der Region wie Australien nur über den Seeweg erreichbar ist. Wo es alternative Landwege gäbe, sind diese oft zu gefährlich, wie es in Vietnam der Fall war, oder durch stark überwachte Grenzanlagen verbaut, wie in Südosteuropa. Im Gegensatz zu Landwegen sind Küsten, von denen kleine Boote ablegen können, kaum vollständig zu kontrollieren. Die Flucht ist auf diesem Weg zunächst fast immer möglich, auch wenn die Ankunft höchst unsicher ist.

 

Das Meer und der Flüchtling

Angesichts von rund 60 Millionen Vertriebenen weltweit ist die Anzahl an Bootsflüchtlingen indes relativ gering, und die Passage über das Meer stellt in der Regel auch nur einen kurzen Moment in der oft langen Flucht von Zwangsmigranten dar. Doch dem Meer selbst ist etwas zu eigen, dass es Flüchtlingen aber auch unserem Verständnis vom Flüchtling so nahe bringt.

Während beim Überqueren von Landgrenzen der Flüchtling nicht nur ein Land verlässt, sondern zugleich ein neues betritt, liegt ein internationaler Raum auf dem Meeresweg zwischen zwei Staaten. Der Bootsflüchtling ist da, wo Emma Haddad den Flüchtling paradigmatisch im internationalen System lokalisiert: zwischen souveränen Staaten. Hannah Arendt beschrieb den Flüchtling einst als jenen, der zwar Menschenrechte besäße, aber von diesen keinen Gebrauch machen könne, da ihm der Schutz als Bürger einer politischen Gemeinschaft fehle. In unserer nationalstaatlich-organisierten Welt ist der Flüchtling in der Regel als quasi-Staatenloser Gewalten des eigenen oder anderer Staaten schutzlos ausgeliefert. Nur in internationalen Gewässern entzieht er sich jeglicher staatlicher Jurisdiktion. Hier wird er ganz zum Flüchtling selbst, in doppelter Freiheit von Staaten, mit ihren Gefahren und Möglichkeiten.

Jenseits staatlicher Kontrollen waren Piraten eine reale Gefahr für vietnamesische Boat People. Auch Schmuggler sind eine potentielle Bedrohung zumal Bootsflüchtlinge immer einer gewissen Gesetzlosigkeit auf dem Meer ausgeliefert sind. Hinzu kommen Unwägbarkeiten wie Unwetter, die in der Einsamkeit der hohen See ein großes Risiko ausmachen. Hingegen bieten in diesem Raum jenseits von Staatlichkeit das internationale Seerecht und Traditionen der Seefahrer einen besonderen Schutz, die Hilfe für Menschen auf See insbesondere für Schiffbrüchige verlangt, unabhängig von Nationalität und Pass. Gerade hier zählt das Menschsein des Flüchtlings. Wo er den vielleicht größten Gefahren ausgeliefert zu sein scheint, kann er erst wirklich Zuflucht suchen. Das Meer ist ein Ausnahmezustand, den sich der Flüchtling zu eigen machen kann.

 

Kritik des Meeres

Das Meer ist als letzter freier Raum des Flüchtlings eine implizite Verurteilung der nationalstaatlichen Organisation des Landes. Doch Staaten greifen immer häufiger in diesen Raum ein. Australien verleibt sich Bootsflüchtlinge in die eigene Souveränität ein, um sie dann abzuschieben. Europa versucht Flüchtlingen zuvor zu kommen, um zu verhindern, dass sie überhaupt erst aufs Meer gelangen. Staaten wollen Meeresüberfahrten des Flüchtlings vermeiden, in denen Gefahr aber auch Freiheit von Staatenlosigkeit stecken. Letztlich repräsentiert der Bootsflüchtling eben die Widersprüchlichkeit von Staatlichkeit selbst in ihrer umfassenden Gewalt, unter der auch er den Schutz von Menschen- und Bürgerechten sucht. Insofern er Staatlichkeit dafür vorübergehend verlassen muss, auch auf die Gefahr hin alles zu verlieren, liegt im Bootsflüchtling immer eine Kritik des Staatensystems, das der Schutzbedürftigkeit von Menschen nicht gerecht wird.

 

Eine leicht geänderte Version dieses Beitrags erscheint parallel in der Zeitung ak – Analyse & Kritik, Nr. 607.

 

 

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