Deutsche Verwaltungsgerichte sprechen syrischen Wehrdienstentziehern zunehmend den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention ab. Die Entscheidungen beruhen auf einer Entpolitisierung der Geflüchteten, die einhergeht mit einer Rationalisierung und teilweisen Aufwertung des Assad-Regimes. Der Prozess am OLG Koblenz gegen zwei mutmaßliche Helfer dieses Regimes ist eine Chance, fundiertere Informationen zu den Praktiken und Motiven des syrischen Staates zu gewinnen, die auch Auswirkungen auf die Asylrechtsprechung haben können.
Für Benedikt Leven (FluchtforschungsBlog vom 2. Mai 2020) birgt der Strafprozess vor dem OLG Koblenz gegen zwei mutmaßliche Ex-Geheimdienstfunktionäre des Regimes von Machthaber Baschar al-Assad eine Chance für die Akzeptanz syrischer Geflüchteter in Deutschland. Eine ausgewogene und reflektierte mediale Berichterstattung über das Verfahren könne, so Leven, eine „stärkere Sensibilisierung für konkrete Einzelschicksale bewirken und vor Augen führen, weshalb viele Syrer*innen ihre Heimat verlassen mussten“. Leven kritisiert, dass in der deutschen Berichterstattung Geflüchtete häufig als anonyme Gruppe dargestellt werden. Für die Bevölkerung entstehe so ein Bild der Bedrohung, das Empathie verhindere und langfristig zu einer Abwehrhaltung gegenüber Einwanderung führe. Die darauffolgende Forderung an die Medien, diesen Fehler gewissermaßen wieder gut zu machen, indem nun wenigstens über den Prozess am OLG Koblenz ausgewogen berichtet werden soll, ist im Grundsatz zu unterstützen (anders ihr stellenweise paternalistischer Ton, wenn etwa Medien, die mit ihrer Asylberichtserstattung schon „genug Schaden angerichtet“ haben zu einem „kurzen Innehalten“ aufgefordert werden).
Der Fokus auf die mediale Berichterstattung über das Koblenzer Verfahren und die Darstellung, die gesellschaftliche Anerkennung von Syrer*innen hänge maßgeblich von dieser ab, hinterlässt allerdings eine Leerstelle. Diese Leerstelle betrifft das Potential des Prozesses zur Beantwortung der Frage beizutragen, welchen Schutzstatus Syrer*innen erhalten sollen.
Flüchtlingsschutz oder nicht – Eine Unterscheidung mit (Rechts-)Folgen
Im Rahmen des deutschen Asylverfahrens kommt es seit Jahren zu einer teilweise inkonsistenten Aufteilung syrischer Geflüchteter in Flüchtlinge nach der Genfer Konvention (§ 3 I AsylG) und solche mit lediglich subsidiärem Schutzstatus (§ 4 I AsylG). Diese Unterscheidung hängt, sehr verkürzt gesagt, vor allem von der Bewertung ab, ob eine unmenschliche Behandlung bei der Rückkehr nach Syrien dem Maßstab einer zielgerichteten Verfolgung genügt, oder ob der syrische Staat seine Bürger*innen ohne Ansehen eines individuellen Merkmals foltert, gewissermaßen „nach Lust und Laune“. Während 2015 nahezu alle Syrer*innen vom BAMF einen Flüchtlingsstatus und nur 0,1 Prozent subsidiären Schutz erhielten, betrug der Anteil letzterer 2016 bis 2019 insgesamt 43 Prozent.
Wenngleich eine Abschiebung nach Syrien für beide Schutzformen ausgeschlossen ist, sind deren Rechtsfolgen unterschiedlich, etwa hinsichtlich des Anspruchs auf Familiennachzug oder der Befristung der humanitären Aufenthaltsgenehmigung sowie der Erlangung einer unbefristeten, von der Situation in Syrien unabhängigen Niederlassungserlaubnis. Die größere Statusunsicherheit kann sich etwa auf den nachhaltigen Arbeitsmarktzugang syrischer Geflüchteter auswirken und stellt damit, neben der Schwierigkeit, die eigene Familie nachholen zu dürfen, ein weiteres Integrationshemmnis dar. Darüber hinaus hat die Kategorisierung von Geflüchteten entlang unterschiedlicher Schutzformen auch eine symbolische Bedeutung: Indem subsidiär Schutzberechtigten ein individueller Verfolgungsgrund abgesprochen wird, entsteht das Bild von weniger „legitimen“ Geflüchteten, was deren Akzeptanz im Aufnahmeland beeinflussen kann.
Für den Fall syrischer Geflüchteter kommt es in einigen Fällen ganz konkret zu deren Entpolitisierung im deutschen Asylsystem, was sich an der obergerichtlichen Rechtsprechung kurz veranschaulichen lässt. Die geänderte Anerkennungspraxis des BAMF führte nach März 2016 zu einem starken Anstieg sogenannter Aufstockungsklagen, in deren Rahmen Syrer*innen mit subsidiärem Schutzstatus das BAMF auf ihre Anerkennung als Flüchtlinge verpflichten wollten. Das Thema wurde damit in großem Umfang zum Problem der deutschen Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte. Eine zentrale Frage dabei war und ist, ob sogenannte Nachfluchtgründe eine Anerkennung als Flüchtling rechtfertigen, ob also beispielsweise die illegale Ausreise in Verbindung mit einer Asylantragsstellung und dem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland oder der Entzug vom Militärdienst vom syrischen Staat als regimefeindlich interpretiert werden und deshalb bei Rückkehr Verfolgungshandlungen drohen würden.
Entpolitisierung Geflüchteter und die Rationalisierung des syrischen Regimes
Während die Oberverwaltungsgerichte (OVG) mittlerweile verneinen, dass der syrische Staat seinen Bürger*innen eine Regimegegnerschaft nur aufgrund von Ausreise und Asylantragsstellung unterstellt, ist die Rechtsprechung zum Wehrdienstentzug uneinheitlicher; die Rede ist gar von einer „Rechtsprechungslotterie“. Wenngleich sich die Gerichte in ihrer Bewertung auf umfangreiche Herkunftslandinformationen verschiedener Organisationen berufen können, fehlt es an konkreten Berichten über die Behandlung von zurückkehrenden Wehrdienstentziehern, auf deren Grundlage entschieden werden könnte. Die Gerichte konzentrieren sich in ihren Entscheidungsgründen deshalb in erster Linie auf eine Charakterisierung des syrischen Staates und seiner praktischen Handhabung der Sanktionen und interpretieren entsprechend, ob eine zielgerichtete politische Verfolgung von Wehrdienstentziehern wahrscheinlich ist.
Entscheidungen, die diese Frage bejahen, verwenden in ihren Begründungen viel Platz auf eine umfangreiche, quellengestützte Darstellung der Grausamkeiten des syrischen Regimes. Aus dieser Indiziensammlung ergebe sich der „Charakter“ eines „um seine Existenz kämpfenden Staates“, der seine Herrschaft mit größter Härte und mithilfe menschenrechtswidriger Mittel zu sichern versuche. Der Entzug vom Militärdienst werde deshalb als oppositionelle Handlung gesehen und entsprechend verfolgt.
Die obergerichtlichen Entscheidungen, die den Flüchtlingsschutz ablehnen, teilen zwar weitgehend die Tatsachengrundlage zur Situation in Syrien, interpretieren diese aber in eine ganz andere Richtung. Gerade weil der syrische Staat um seine Existenz kämpfe und dabei militärisch unter extremem Druck stehe, sei eine politische Verfolgung junger Männer, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, unwahrscheinlich. Dem Staat sei vielmehr daran gelegen, diese Männer möglichst schnell wieder dem Kampf zuzuführen. Angeführt wird außerdem, dass der Staat Folter und andere Maßnahmen willkürlich und nicht allein auf Wehrdienstentzieher anwende, was gegen deren zielgerichtete Verfolgung spreche. Überhaupt sei es außerdem in Anbetracht der großen Zahlen flüchtender Wehrdienstverweigerer unwahrscheinlich, dass diesen generell eine oppositionelle Haltung zugeschrieben würde. Viel logischer sei es, deren Flucht als Handlung aus Furcht vor dem Tod im Kriegseinsatz zu betrachten. Bei einer solchen Furcht handele es sich um ein „kulturübergreifend verbreitete[s] Phänomen“: „Es hieße, dem syrischen Regime ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit zu unterstellen, wenn angenommen wird, es könne dies nicht erkennen und schreibe deshalb jedem Wehrdienstentzieher eine gegnerische politische Gesinnung zu“.
Das OVG Nordrhein-Westfalen untermauert diese Einschätzung, indem es die Definition des Begriffs „Verweigerung“ aus dem Grimm’schen Wörterbuch bemüht und daraus ableitet, dass eine echte Verweigerung „die Versagung, die Abschlagung des Verlangens nach Erfüllung des Wehrdienstes“ bedeute und nicht „die bloße Nichterfüllung des Wehrdienstes durch Flucht“. Es müssen traditionsbewusste Richter*innen sein, die so weit in die Vergangenheit der deutschen Geistesgeschichte vorstoßen, um über die Gegenwart eines fremden Landes zu urteilen.
Diese knappe Darstellung der Argumente zeigt, wie Wehrdienstentzieher von den OVG im Zuge einer Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft entpolitisiert werden, insbesondere durch den Hinweis, der Entzug vom Militärdienst sei keine aktive politische Verweigerungshandlung und gründe allein in der allgemeinen Furcht vor einem Kriegseinsatz. Die Entpolitisierung geht einher mit einer teilweisen Aufwertung des syrischen Regimes als rationalem Akteur, der in erster Linie ein militärisches Interesse an rückkehrenden Wehrdienstentziehern habe und von dem deshalb für diese Personengruppe keine politische Verfolgung ausgehe.
Dass einige OVG immer wieder auf die „Lebenserfahrung“ syrischer Sicherheitsbehörden verweisen, auf deren Grundlage diese sich gegen eine politische Verfolgung von Rückkehrenden entscheiden würden, unterstreicht die Rationalisierung rhetorisch. Diese Entpolitisierung syrischer Wehrdienstverweigerer durch die OVG hat, neben anderen Faktoren, Auswirkungen auf die Entwicklung der Rechtsprechung: Während 2017 noch 51 Prozent der Aufstockungsklagen in erster Instanz erfolgreich waren, sank die Quote auf 18 Prozent im Jahr 2019.
Das Strafverfahren als Chance
Benedikt Leven hat Recht: Der Prozess am OLG Koblenz ist eine Chance, das syrische Folterregime in größerem Maße öffentlich bekannt zu machen. In der Tat geht es dabei um mehr als die persönliche Schuld zweier mutmaßlicher Helfer der Assad-Regierung. Obwohl deren Taten, die das Gericht zu bewerten hat, bereits in die Zeit des Beginns des syrischen Bürgerkriegs 2011 und 2012 fallen, besteht die Hoffnung, grundsätzlichere Informationen über Praktiken und Motive des syrischen Regimes ans Licht zu bringen. Dass etwa der Hauptangeklagte Anwar R. den Ermittlern ins Netz ging, weil er sich vom eigenen Geheimdienst verfolgt fühlte und deshalb auf einer Berliner Polizeiwache freimütig von seinen Taten in Syrien berichtete in der Annahme, man würde ihm kollegial zur Seite stehen, zeugt von der Selbstverständlichkeit, mit der die Foltermaschinerie des syrischen Regimes von deren maßgeblichen Akteuren angesehen wird. Das Argument, dass ein Flüchtlingsschutz auch deshalb nicht zuerkannt wird, weil die Folter so umfassend und willkürlich ist und damit alle treffen kann, könnte durch Details zum Selbstverständnis der Akteure des Regimes eine Neubewertung erfahren. Zu hoffen wäre auch, dass der Prozess konkrete Berichte über die Behandlung rückkehrender Wehrdienstverweigerer ans Licht bringt, auf die die Gerichte ihre Bewertung stützen können.
Ob der Prozess letztlich für die Asylrechtsprechung relevant ist, muss sich zeigen. Eine erste Expertinnenanhörung lieferte nur oberflächliche Informationen; für Mitte Mai hat Anwar R. eine Aussage angekündigt. Die „Chance für eine neue Perspektive auf Geflüchtete“, die Benedikt Leven anmahnt, hängt jedenfalls auch davon ab, ob die Gerichte den politischen Charakter der Verfolgungshandlungen des Assad-Regimes anerkennen und diese Handlungen nicht implizit verteidigen durch einen Verweis auf dessen rationalen Charakter.
Die knappe Darstellung der obergerichtlichen Syrienrechtsprechung ist Teil eines Forschungsprojekts zur Rolle von Herkunftslandinformationen in asylgerichtlichen Verfahren und wird in diesem Rahmen detaillierter analysiert, als es die Darstellung in einem Blogbeitrag erlaubt.