Familie = Mutter-Vater-Kind? – oder: warum geschlechtssensible Perspektiven auf geflüchtete Familien wichtig sind

Familie ist für viele geflüchtete Menschen ein wichtiges soziales Netzwerk, welches sie während und nach Flucht aufrechterhalten. Allerdings führen etwa geographische Distanzen oder veränderte Lebensumstände im Exil dazu, dass sich Beziehungen und Rollen in Familien verändern. Dieser Wandel von familialen Rollen und Beziehungen steht im Fokus dieses Beitrags. Aus einer geschlechtssensiblen Perspektive werden Forschungsdebatten reflektiert und dabei gezeigt, dass Rollenverständnisse wie Beziehungsgestaltung geflüchteter Frauen* und Männer* in ihren Familien vielschichtig sind. Zugleich wird deutlich, dass Geschlecht in Studien zu Familien und Flucht bislang nur randständig einbezogen wird.

 

Fluchtbedingte Trennungen und Verluste aber auch veränderte Lebensumstände im Exil führen dazu, dass sich soziale Beziehungen und Netzwerke geflüchteter Menschen verändern. Dieser Wandel macht sich auch in familialen Beziehungen und Rollen bemerkbar. Denn nicht selten werden Familienmitglieder vor, während oder nach ihrer Flucht voneinander getrennt und müssen ihr Familienleben an fremden, unsicheren Orten neu ausrichten. Doch was ist darüber bekannt, wie geflüchtete Frauen* und Männer* ihre Familienbeziehungen im Exil (neu) gestalten? Und welche Rollen nehmen sie in diesen veränderten Familienkonstellationen ein? Diese Fragen sind bedeutsam, denn im Leben vieler Geflüchteter nimmt Familie eine wichtige Rolle ein. Antworten auf diese Fragen tragen somit dazu bei, familiale Lebensentwürfe, Rollen- wie Beziehungsgestaltungen im Kontext von Flucht besser zu verstehen.

Weil Rollen und Beziehungen in Familien grundsätzlich untrennbar mit der Kategorie Geschlecht verknüpft sind, widme ich mich diesen Fragen im folgenden Beitrag aus einer explizit geschlechtersensiblen Perspektive. Konkret berücksichtige ich Studien zu Frauen und Männern unabhängig von ihren sexuellen Orientierungen – d.h. sowohl heterosexuelle wie auch LGBTIQ*- Geflüchtete. Der Beitrag baut dabei auf dem kürzlich publizierten Forumsbeitrag mit dem Titel „Familie und Flucht aus geschlechtersensibler Perspektive: Ein Forschungsüberblick“ in der Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung (Z’Flucht) auf. Er wurde im Rahmen meines Promotionsprojektes zu geflüchteten Männern und Familie verfasst.

 

Zur Bedeutung von Familie im Kontext von Flucht

Bevor ich jedoch Debatten zu familialen Geschlechterrollen und -beziehungen vertiefe, möchte ich das Thema zunächst kurz kontextualisieren und auf allgemeine Erkenntnisse zu Familie und Flucht eingehen. Denn wie erwähnt, kommt Familie für viele Menschen im Verlauf von Flucht und Vertreibung eine wichtige Bedeutung zu – und zwar unabhängig davon, ob sie alleine oder gemeinsam mit weiteren Familienmitgliedern fliehen. Beispielsweise wird häufig nicht nur die Entscheidung zur Flucht Einzelner im Familienverbund getroffen. Auch Erfahrungen und alltagspraktischen Fragen während und nach der Flucht werden gemeinsam bewältigt.

Entgegen häufiger Annahmen pflegen geflüchtete Menschen den Kontakt mit ihren Verwandten und Familien, die mitunter an unterschiedlichen Orten leben, nicht primär oder ausschließlich aufgrund von finanzieller Unterstützung. Sie halten ihre (transnationalen) Familiennetzwerke vor allem auch für ein emotionales Zugehörigkeitsgefühl zu nahestehenden Menschen aufrecht. Deshalb führen fluchtbedingte Trennungen oder prekäre Lebenssituationen meist auch nicht dazu, dass Familienbeziehungen zerbrechen. Vielmehr suchen und finden Menschen aktiv neue Möglichkeiten und Wege, um familiale Beziehungen – auch über nationale Grenzen hinweg – aufrechtzuerhalten.

Grundsätzlich unterstreichen Forschende, dass es „die“ Flüchtlingsfamilie nicht gibt. Denn auch im Kontext von Flucht ist das Familienleben plural und vielschichtig, d.h. abhängig etwa von sozialen Vorstellungen, gesetzlichen Rahmenbedingungen und individuellen Praktiken. Dennoch wurden Familien in vielen bisherigen Studien als Gesamtheit untersucht. Deshalb liegen derzeit auch nur wenige Studien zu individuellen Erfahrungen, Praktiken, Bedürfnissen oder Wünschen einzelner Familienmitglieder vor, wie etwa Manuela Westphal und Samia Aden in ihrer Literaturanalyse „Familie, Flucht und Asyl“ kritisch festhalten.

Aus diesem Grund, aber auch weil die Kategorie Geschlecht (und Sexualität) in der Fluchtforschung generell lange ausgeblendet wurde, wurden auch familiale Geschlechterrollen und -beziehungen in Forschungsdebatten lange vernachlässigt. Jedoch sind familiale Lebensformen, Arbeitsteilungen und Rollenverständnisse generell nicht nur sozial und historisch, sondern auch geschlechtsspezifisch geprägt – d.h. abhängig von bestimmten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Um also zu verstehen wie geflüchtete Menschen in ihren Familien leben aber auch wie sie darauf aufbauend ihre Lebensentwürfe umsetzen (können), ist es wichtig, Familienbeziehungen geschlechtssensibel zu beleuchten. Doch was ist darüber bekannt, wie sich Frauen* und Männer* in ihren Familien verorten?

 

Die Rolle von Geschlecht in Debatten um Familie(n) und Flucht

Aus Platzgründen kann ich in diesem Beitrag nur exemplarische Einblicke in wissenschaftliche Debatten geben. Dennoch lassen sich einige übergreifende Forschungsschwerpunkte skizzieren. Dabei zeigt sich, dass bisherige Studien primär auf Mütter sowie auf eine westlich und heterosexuell gedachte Kernfamilie („Mutter-Vater-Kind“) fokussieren. Wie ich im Folgenden noch kritisch reflektieren werde, hat dies zur Folge, dass die Vielfalt geschlechtsspezifischer Erfahrungen und Praktiken geflüchteter Menschen – insbesondere von Männern und LGBTIQ*-Geflüchteten – in ihren Familien größtenteils noch ausgeblendet wird.

Obwohl also insgesamt vergleichsweise wenig Literatur an der Schnittstelle Flucht, Familie und Geschlecht verfügbar ist, stehen in Debatten vor allem Frauen in ihrer Rolle als Mütter im Fokus. Mit ein Grund hierfür ist, dass Müttern nicht nur eine Schlüsselrolle für die familiale Versorgung und den familialen Zusammenhalt, sondern auch für die Integration ihrer Familien im Aufnahmeland zugesprochen wird. Besondere Aufmerksamkeit erhalten hierbei Mütter, die durch den Verlust oder Tod ihres Ehemannes nicht nur zu Alleinerziehenden, sondern auch zu (alleinigen) Hauptversorgerinnen ihrer Familien werden.

Aufgrund von Rassismuserfahrungen, fehlendem sozialen und physischen Schutz, Einsamkeit oder Armut im Exil wird die Situation geflüchteter Mütter häufig als besonders schutz- und förderungsbedürftig bewertet. Deshalb werden vielfältige Programme und Trainings entwickelt und evaluiert, um die Selbstbestimmung und soziale Partizipation geflüchteter Mütter (sowie indirekt auch die ihrer Familien) im Exil zu stärken. Wurden Frauen lange als passive Nachreisende im Rahmen des Familiennachzuges betrachtet, so stehen nun also zunehmend deren individuelle Handlungskompetenzen aber auch Erfahrungen als Mütter im Fokus.

Während somit geflüchteten Frauen bzw. Müttern eine zentrale Rolle innerhalb ihrer Familien zugesprochen wird, wurde geflüchteten Männern allgemein lange nur selten zugetraut, dass Familie auch für sie wichtig ist oder dass sie sich in ihre Familien einbringen. Wenn überhaupt, wurde untersucht, wie sie den Verlust ihrer machtvollen Rolle als Familienoberhaupt bewältigen. Mitunter wurden auch Bezüge zu familialer Gewalt hergestellt, die Männer als (vermeintliche) Strategie zu Wiedererlangung ihrer (verlorenen) Autorität nutzten.

Doch diese Perspektiven sind kritisch, denn sie reproduzieren nicht nur das Bild von gefährlichen oder konservativen geflüchteten Männern. Sie blenden außerdem aus, dass Männer – genauso wie Frauen – von familialer Gewalt betroffen sein können und mit dem Wandel ihrer familialen Rollen ganz unterschiedlich umgehen. Beispielsweise zeigen Forschende vereinzelt, dass Männer in ihrer Rolle als Väter – genauso wie Mütter – ihre Vorstellungen vom Eltern-Sein an veränderte Lebensumstände im Exil anpassen. Außerdem weisen geflüchtete Väter ein deutlich erhöhtes Risiko für psychiatrische Erkrankungen auf, wenn sie von der Familie getrennt leben.

Diese ersten Studien zeigen, dass Familie nicht nur für viele geflüchtete Frauen, sondern eben auch im Leben vieler Männer einen wichtigen Stellenwert einnehmen kann. Doch weil sich der Großteil der bislang verfügbaren Studien auf geflüchtete Mütter – und seit kurzem und vereinzelt auf geflüchtete Väter – konzentriert, dominiert in der Fluchtforschung nach wie vor das Bild „Familie=Mutter-Vater-Kind“. Das hat zur Folge, dass familiale Lebensrealitäten im Kontext Flucht jenseits von Elternschaft noch weitestgehend ausgeblendet werden. So ist etwa erst vor kurzem eine Studie erschienen, die zeigt, dass sich gerade auch junge (kinderlose) geflüchtete Männer mit ihren Familien stark verbunden und für diese verantwortlich fühlen.

Die Ausblendung der Vielfalt familialer Rollen gilt auch für LGBTIQ*-Geflüchtete. So zeigen vereinzelt Forschende wie etwa Bettina Kleiner und Marc Thielen, dass queere Geflüchtete im Exil (neue) „Wahlfamilien“ mit Menschen entwickeln, zu denen vorher keine Verwandtschaftsbeziehung bestand. Doch weil queere Familienbeziehungen in vielen Rechtssprechungen nicht anerkannt werden, werden LGBTIQ*- Geflüchtete im Asylverfahren als Einzelpersonen behandelt oder mitunter von ihren queeren Familienmitgliedern getrennt. Als Folge bleiben sie als Akteur*in ihrer familialen Beziehungen weitestgehend unsichtbar. Daher bleibt auch in Studien offen, wie LGBTIQ*-Geflüchtete familiale Rollen verhandeln.

 

Fazit und Ausblick

Forschende verdeutlichen seit langem, dass Flucht Auswirkungen auf Geschlechterverhältnisse und -beziehungen hat. Doch wie gezeigt wurde, dominiert in der Fluchtforschung bislang ein vorwiegend eng gefasster, heteronormativer und westlich-orientierter Familienbegriff („Mutter-Vater-Kind“) mit traditionellen Geschlechterrollen. Demnach werden Männer primär in ihrer Rolle als Väter bzw. Familienernährer und Frauen in ihrer Rolle als Mütter bzw. Hausfrauen beforscht, wie auch kürzlich Ada Ruis (2019) kritisiert.

Ohne Zweifel tragen Frauen und Mütter auf bedeutsame Weise zur familialen Versorgung und den familialen Zusammenhalt unter prekären und belastenden Umständen bei. Insofern besteht nach wie vor weitreichender Forschungsbedarf, um Lebensrealitäten, Herausforderungen und Bedürfnisse geflüchteter Mütter besser zu verstehen. Dass Familie(n) in enger Verbindung mit Müttern in einer Kernfamilie beforscht werden, ist jedoch auch kritisch. Denn dadurch werden geschlechtsspezifische Erfahrungen von Frauen* und Männern* weitestgehend ausgeblendet, die zum Beispiel keine Kinder haben oder deren familialen Rollen sich im Exil verändert haben.

So gilt zusammenfassend festzuhalten, dass die Vielfalt familialer Geschlechterrollen und -praktiken Geflüchteter in Debatten der Fluchtforschung meist noch unbeachtet bleibt. Wie eingangs erwähnt, ist Familie mit eines der wichtigsten sozialen Netzwerke im Leben vieler Geflüchteter. Deshalb braucht es mehr Aufmerksamkeit, um den Besonderheiten von familialen und individuellen Lebensumständen im Kontext von Flucht gerecht zu werden. Weil Familie eng mit Geschlechterrollen verknüpft ist, sind – wie in diesem Beitrag deutlich wurde – hierfür auch geschlechtssensible Perspektiven wichtig.

Zur Schließung einiger der in diesem Beitrag benannten Forschungsleerstellen möchte ich mit meinem Promotionsprojekt und damit verbunden mit Daten, Ergebnissen und Perspektiven auf die Schnittstelle Männer, Flucht und Familie beitragen. Doch auch darüber hinaus bedarf es mehr (forschungs- wie handlungsbezogene) Sensibilität, um individuellen Rollen, geschlechtsspezifischen Verortungen und Handlungspraktiken geflüchteter Menschen in ihren Familien Rechnung zu tragen.

 

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