Flucht aus der Ukraine und aus dem Globalen Süden über den Balkan

Der seit Februar 2022 andauernde Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine löste die schnellste und größte Fluchtbewegung der Nachkriegszeit in Europa aus. Gleichzeitig erreicht auch die weltweite Zahl Geflüchteter Rekordniveau. Seit September wird in Deutschland eine zunehmend aufgeregte Debatte um die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine sowie MigrantInnen und Geflüchtete geführt, die über verschiedene Balkanstaaten in die nördlichen EU-Mitgliedstaaten einreisen. Diese Stellungnahme blickt auf den Umfang der derzeitigen Fluchtbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland, vergleicht sie mit den Ereignissen von 2015 und skizziert die Besonderheiten der aktuellen Situation.

 

Wie viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind derzeit in Deutschland?

Es wird regelmäßig angenommen, dass in Deutschland eine Millionen geflüchtete UkrainerInnen leben, so unter anderem Bundesinnenministerin Faeser. Diese Angabe basiert auf den Zahlen des Ausländerzentralregisters (AZR), welches 1.004.026 geflüchtete UkrainerInnen aufführt. Etwas mehr als ein Drittel aller UkrainerInnen sind Kinder, 351.548 oder 35%. Vor dem Krieg waren rund 156.000 UkrainerInnen im AZR registriert. Allerdings dient das AZR primär verwaltungstechnischen und nicht statistischen Zwecken. Statistiken, die auf dem AZR basieren, gelten zudem als unzuverlässig, vor allem, weil Fortzüge nicht oder nur verspätet registriert werden.

Tatsächlich haben bislang nur 564.616 UkrainerInnen einen vorrübergehenden Schutzstatus erhalten, weitere 186.850 haben diesen beantragt. In der Regel gilt der Schutzstatus zunächst für 12 Monate, manchmal wurde er auch für 24 Monate erteilt, die Dauer die die EU vorsieht, kann auf maximal 36 Monate verlängert werden.

Zudem haben laut Arbeitsagentur im September 588.000 ukrainische Staatsangehörige Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten, von diesen sind mutmaßlich 571.000 seit Februar 2022 eingereist, die anderen waren schon vor Kriegsbeginn im Land. 406.000 der seither eingereisten sind erwerbfähig (die Gesamtzahl lag bei 426.000), weitere rund 202.000 seien „in der Regel Kinder“. 337.813 UkrainerInnen waren im September arbeitssuchend gemeldet; das entspricht 7,9% aller Arbeitssuchenden. Sozialversicherungspflichtig beschäftig sind inzwischen rund 45.000. Bis September hatten etwa 100.000 UkrainerInnen einen Integrationskurs begonnen.

Schließlich wurden dem Mediendienst Integration zu Folge im September 191.649 ukrainische Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen unterrichtet, was etwa 2% aller SchülerInnen entspricht. Mit dem Beginn des neuen Schuljahres im Sommer 2022 waren die Zahlen stark um rund 50.000 gestiegen, da viele, die zwar schon länger im Land waren, erst dann eingeschult wurden. Hinzu kommen Kinder zwischen null und sechs Jahren, die zum Teil auch in den Kindergarten gehen, aber nicht zentral registriert werden. Es lässt sich eine Zahl von 60.000 – 90.000 Kindern vermuten.

In diesen Zahlen sind auch Personen enthalten, die bereits vor dem Krieg in Deutschland lebten und hätten ausreisen wollen oder müssen, die aber aufgrund des Krieges nicht ausreise konnten und inzwischen einen vorrübergehenden Schutzstatus beantragt haben. Zudem sind Personen enthalten, die im AZR registriert sind und auch einen befristeten Schutzstatus erhalten haben (etwa in den Anfangsmonaten des Krieges), aber inzwischen die Bundesrepublik verlassen haben; überwiegend, um in die Ukraine zurückzukehren oder in ein anderes EU-Mitgliedsland weiterzuziehen.

Anhand dieser Zahlen kann geschlussfolgert werden, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt mindestens 630.000 UkrainerInnen – die LeistungsempfängerInnen und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten – aus Kriegsgründen längerfristig in Deutschland leben, maximal 750.000 UkrainerInnen, die einen befristeten Schutzstatus erhalten oder zumindest beantragt haben, nicht aber eine Million. Hinzu kommen Personen, die sich kurzfristig visafrei und ohne einen Schutzstatus zu beantragen bis zu maximal 90 Tage in Deutschland aufhalten. Sie fallen allerding in die Kategorie Besucher.

 

Wie viele ukrainische Geflüchtete gibt es in der Europäischen Union?

Eine ähnliche Rechnung kann auch für die EU aufgestellt werden. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) hat seit dem 28. Februar 2022 14.325.424 Ausreisen aus und 6.941.852 Einreisen in die Ukraine verzeichnet. Nettoausreisen aus der Ukraine liegen demnach bei 7,4 Millionen, darunter auch bis zu 2,85 Millionen Ausreisen nach Russland. Die Nettoeinreisen in die EU lägen demnach bei rund 4,6 Millionen. Auch der UNHCR geht von 4,95 Millionen geflüchteten UkrainerInnen in der EU aus, 7,8 Millionen in Europa einschließlich Russland. Dabei ist zu berücksichtigen, dass viele UkrainerInnen mehrfach aus- und einreisen. Die EU Agentur für Asyl (EUAA) hat bislang 4,4 Millionen UkrainerInnen mit vorrübergehendem Schutzstatus registriert. Nicht alle halten sich noch in der EU auf. Berücksichtigt man die hohe Zahl an RückkehrerInnen sowie den seit etwa Mai/Juni konstant negativen Migrationssaldo (dies zeigen die täglichen Berichte des ukrainischen Grenzschutzes auf Facebook sowie die Wochenberichte von Frontex auf Twitter), so hielten sich im Oktober 2022 etwa 4,5 Millionen ukrainische Geflüchtete in der EU auf, maximal 750.000, etwa 17%, ein Sechstel in Deutschland. Deutschland ist auch nicht das Hauptziel von Geflüchteten aus der Ukraine in der EU.

Bis Mitte Oktober waren diese Zahlen relativ stabil. Allerdings reisten mit dem Beginn (10. Oktober)
der gezielten massenhaften Zerstörung kritischer Infrastruktur und vermehrter Angriffe auf ukrainische Städte seitens Russland in der Woche vom 17-23.10. erstmalig wieder mehr Personen aus der Ukraine aus, als ein, 17.000 so Frontex. Diese Ausreisebewegung schwächte sich allerdings in den folgenden zwei Wochen schon wieder ab auf 5.000 wöchentlich, so die täglichen Lageberichte des ukrainischen Grenzschutzes. Demnach haben diese erneuten Angriffe bislang keine neue Fluchtbewegung ausgelöst.

 

Kommen wieder neue Flüchtlinge über „die Balkanroute“?

Derzeit wird in Stellungnahmen von PolitikerInnen und Medienberichten auf steigende Asylantragszahlen und in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Balkanroute hingewiesen, also Migration durch einige Balkanländer und Einreisen aus diesen in die EU. In den Berichten wird regelmäßig von stark gestiegenen Zahlen gesprochen und teils auch eine Alarmstimmung verbreitet.

Von Januar bis September 2022 wurden 134.908 Asyl-Erstanträge in Deutschland gestellt. Hochgerechnet auf das ganze Jahr wären dies etwa 179.900. 2014 gab es 173.072 Erstanträge und in den Ausnahmejahren 2015 und 2016 442.000 bzw. 722.000. Die aktuelle Situation ist also vergleichbar mit den Zahlen vor und nach, nicht jedoch während der Flüchtlingskrise: die aktuellen Zahlen betragen nur ein Viertel derer von 2016.

Daten der EU-Grenzschutzagentur Frontex zeigen, dass 2022 bislang 106.369 Versuche unternommen wurden, aus den Nicht-EU Staaten des Balkans in die EU einzureisen. Hochgerechnet auf 2022 wären dies 142.000 Versuche. Es ist zu berücksichtigen, dass es sich um Einreiseversuche handelt und nicht um Personen. Da einzelne Personen in der Regel mehrere Versuche unternehmen, besteht die Anzahl der Personen nur aus einem Bruchteil der Versuche. Beispielsweise gibt der UNHCR die Größenordnung von Personen, die durch den Balkan migrieren mit nur 8.677 in 2021 und 22.532 (Januar bis September) in 2022 an. Dieselben Frontex-Daten zeigen auch, dass im gleichen Zeitraum nur 28.873 Versuche unternommen wurden, von außerhalb der EU, also aus der Türkei in die Region einzureisen. Hochgerechnet bis Ende 2022 wären dies 38.000. Zum Vergleich: 2014, dem Jahr vor der großen Fluchtbewegung 2015, waren es noch 50.800 Versuche, also deutlich mehr. Im Ausnahmejahr 2015 waren es dagegen 885.386 Versuche. Im Jahr 2022 werden es demnach nur ein Sechstel der Versuche von 2015 sein. Die Situationen von 2022 und 2015 unterscheiden sich also grundlegend.

Die Diskrepanz zwischen Einreiseversuchen aus der Türkei und aus den Balkanstaaten in die EU zeigt,
dass der größte Teil versuchter Einreisen über den Balkan in die EU – etwa 60% – von Personen unternommen wird, die sich bereits in Europa aufhalten. Dafür gibt es zweierlei Erklärungen. Zum einen hat Griechenland Ende 2020 die Gesetze über die Aufnahme und Integration von Geflüchteten geändert, demnach wird anerkannten Geflüchteten nicht mehr länger Wohnraum gestellt, so dass sie häufig obdachlos werden. Ende 2021 wurde dieser Personengruppe auch die Lebensmittelversorgung gestrichen. Auch schon zuvor war die Behandlung und Unterbringung von Geflüchteten in Griechenland oft menschenunwürdig. Mit dem Ende der Pandemie-bedingten Reisebeschränkungen sehen sich deshalb immer mehr Geflüchtete genötigt, Griechenland über die Nicht-EU Balkanstaaten in Richtung nördliche EU zu verlassen. Diese Politik ist nicht neu: Seit den späten 1990er Jahren ─ mit einer kurzen Unterbrechung während der Regierungsjahre der Syriza-Partei, 2015–19 ─ werden in Griechenland die Aufnahmebedingungen von Geflüchteten so schlecht gestaltet, dass die Menschen das Land wieder Richtung Norden verlassen. Zum anderen begeben sich Geflüchtete, die aufgrund der Reisebeschränkungen während der Pandemie in den Balkenländern festsaßen, nun ebenfalls auf die Weiterreise. Eine dritte Ursache bestand darin, dass Serbien BürgerInnen aus Indien, Kuba, Tunesien und Burundi die visafreie Einreise erlaubte und damit die Weitermigration Richtung EU ermöglichte. Bis September haben in Deutschland aber nur 851 TunesierInnen, 365 InderInnen, 93 BurundierInnen und 86 KubanerInnen Asyl beantragt, 1% aller Anträge.

Die Ankünfte in Österreich und Deutschland sind demnach nicht Anzeichen einer neuen Fluchtbewegung, sondern einer Weiterwanderung innerhalb der EU sowie einer nachholenden Bewegung. Die Verweise auf gestiegene Zahlen sind vor allem deshalb problematisch, weil sie sich auf die Pandemie-geprägten Vorjahre beziehen, als Tourismus, Migration und Flucht aufgrund weltweiter Reisebeschränkungen stark zurückgegangen waren.

Die weiterhin niedrigen Einreisezahlen aus der Türkei nach Griechenland und Bulgarien zeigen, dass
zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Deutschland nicht mit großen Flüchtlingszahlen zu rechnen ist. Es handelt sich bei der derzeitigen Migration aus den Balkanstaaten überwiegend nicht um primäre Migration, sondern vielmehr um nachholende sowie sekundäre Weitermigration. Sie wird demnach voraussichtlich recht bald wieder zurückgehen.

 

Fazit: Keine “Situation wie 2015”

2022 werden sich nach bisherigem Stand maximal 750.000 Personen mit einem vorrübergehenden Schutzstatus (UkrainerInnen) und rund 180.000 Asyl-ErstantragsstellerInnen in Deutschland aufhalten, zusammen circa 930.000 Personen. Dies sind etwa 20% weniger als im Ausnahmezeitraum Sommer 2015 bis Sommer 2016, als 1,16 Millionen Asylanträge gestellt wurden. Die Migration über die sogenannte Balkanroute stellt nur etwa 15% des Volumens von 2015 dar. Von einer Situation wie 2015 sind wir weit entfernt und sie ist in absehbarer Zeit auch nicht zu erwarten.

Jenseits der Zahlen sind die Charakteristika der beiden Fluchtbewegungen zudem sehr verschieden.

  • 2015/16 reisten Geflüchtete mangels regulärer Einreisemöglichkeiten irregulär ein, die Flucht verlief chaotisch. In der Folge kam es zu einer humanitären Krise. 2022 wurden UkrainerInnen weitgehend geordnet evakuiert, reisten visafrei und damit regulär in die EU ein; eine fluchtbedingte humanitäre Krise blieb aus.
  • 2015/16 mussten die Geflüchteten einen Asylantrag stellen, der bei Erfolg den regulären Aufenthalt erlaubt und oft in einen dauerhaften Aufenthalt übergeht. UkrainerInnen erhalten pauschal einen vorübergehenden Schutzstatus, der zunächst in der Regel nur bis März 2023 gilt und maximal auf drei Jahre befristet ist.
  • 2015/16 waren die Schutzsuchenden zu circa 2/3 Männer, 2022 sind UkrainerInnen zu 2/3 Frauen und Kinder.
  • 2015/16 blieb der größte Teil der Asylsuchenden dauerhaft in Deutschland, 2022 kehrte mindestens ein Drittel der UkrainerInnen nach kurzer Zeit wieder in die Ukraine zurück, weitere besuchen regelmäßig das Herkunftsland, insbesondere die zurückgebliebenen (Ehe)Männer und Eltern.
  • 2015/16 wurden die allermeisten Asylsuchenden in öffentlichen Einrichtungen untergebracht. Die Solidarität mit den Geflüchteten ließ schnell nach. 2022 wurden UkrainerInnen zu etwa zwei Dritteln privat untergebracht: Auch die Solidarität ist nach wie vor hoch (jede/r zweite konnte sich zuletzt vorstellen, sich ehrenamtlich zu engagieren).
  • Je nach Fortgang des Krieges sowie der Wiederaufbauanstrengungen ist im günstigeren Fall damit zu rechnen, dass die überwiegende Mehrheit der UkrainerInnen wieder ausreisen wird. Allerdings hatten vor dem Krieg rund 26% der UkrainerInnen Migrationsaspirationen, bei der aktuell angenommen Zahl von max. 750.000 UkrainerInnen wären dies 195.000. Ein Teil derer, die bleiben, werden zudem per Familiennachzug Angehörige nachholen, so dass nach Kriegsende mehrere Hunderttausend UkrainerInnen im Land bleiben könnten. Ihre Integrationschancen werden im Allgemeinen als gut bewertet.

 

Bedauerlicherweise waren die Aufnahmekapazitäten, die 2015 errichtet wurden, bis 2022 bereits wieder abgebaut. Auch Bundesimmobilien standen bislang kaum für die Flüchtlingsaufnahme bereit. Die Bundesregierung hat sich nicht auf den Wiederanstieg der Zahl von Geflüchteten nach dem Ende der Pandemie oder die Fluchtbewegung von 2022 vorbereitet, auch wenn seit etwa November 2021 vor dem russischen Angriff gewarnt worden war. Die aktuellen Probleme der Unterbringungskapazitäten bei der Flüchtlingsaufnahme haben sowohl mit den hohen Zahlen als auch mit dem Abbau der Kapazitäten und mangelnder Vorbereitung zu tun. Erst im Oktober 2022 wurde eine Erhöhung der Kapazitäten in Bundesimmobilien angekündigt.

Dieser Beitrag erschien zuerst beim Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS).

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