Flüchtlingsforschung gegen Mythen 2

WissenschaftlerInnen diskutieren Behauptungen aus der Flüchtlingsdebatte

Immer wieder stellen Politikerinnen und Politiker sowie Personen des öffentlichen Lebens fragwürdige Behauptungen in den Raum, die durch Medien aufgegriffen und teils zu Stammtischparolen werden. Häufig werden Stereotypen über Asylsuchende gefördert, die als Fakten dargestellt werden, doch im besten Fall nicht viel mehr als Annahmen sind. Sie erfahren jedoch große Aufmerksamkeit und können weitreichende Konsequenzen haben.

Was sagen WissenschaftlerInnen zu solchen Behauptungen? Im zweiten Teil unserer Serie ‘Flüchtlingsforschung gegen Mythen’ (hier Teil 1) kommentieren Mitglieder des Netzwerks Flüchtlingsforschung wieder typische Aussagen, um mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse Mythen aufzuklären.


 

  1. Zur Einstufung von Herkunftsländern als sicher: „Es trägt eben natürlich zu einer schnelleren Bearbeitung bei.“

Florian Graf, CDU-Fraktionsvorsitzender Abgeordnetenhaus Berlin,
auf: Youtube (2:40 min)

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Kommentiert von Dr. Claudia Engelmann

Im September 2014 wurden Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten eingestuft. In den Monaten nach den Asylgesetzänderungen hat sich die Länge des Asylverfahrens tatsächlich kurzfristig verkürzt: von durchschnittlich 6,6 Monaten (4. Quartal 2014) auf 5,1 Monate (1. Quartal 2015). Die Verkürzung der Asylverfahren war erklärtes Ziel dieser Gesetzesnovelle. Allerding ist es nicht haltbar, die kurzfristige Verkürzung der Asylverfahrensdauer auf die Einstufung der Westbalkanländer als sicher zurückzuführen. Man muss diese Zahlen im Kontext sehen: die schnellere Bearbeitung von Asylanträgen im Winter 2014/2015 hatte vor allem mit der Priorisierung von Bewerbern aus besonders unsicheren Ländern zu tun (Syrien, Irak), sodass  über deren Anträge teilweise ohne Anhörung – und damit sehr viel schneller – entschieden wurde. Die Entscheidung in nicht-priorisierten Fällen wurde lediglich auf später verschoben. Dies wird auch in den aktuellen Asylstatistiken für das 2. Quartal 2015 deutlich: die durchschnittliche Bearbeitungsdauer steigt wieder an (von 5,1 auf 5,4 Monate).

Auch ein Blick auf die drei als sicher eingestuften Herkunftsländer macht deutlich, dass man nicht von kürzeren Verfahren sprechen kann: die Verfahrensdauer für Antragsteller aus Serbien stieg im Laufe des Jahres 2015 leicht an (1.Quartal 2015: 3,6 Monate vs. 2.Quartal 2015: 3,7 Monate); die für Antragsteller aus Bosnien-Herzegowina blieb gleich (4,2 Monate). Die Zahlen für Montenegro sind nicht verfügbar. Hinzu kommt, dass die offiziellen Statistiken zur Verfahrensdauer erst ab dem Moment der Antragstellung zählen. Tatsächlich vergehen aber teilweise Monate zwischen dem Moment der Erstregistrierung in den Bundesländern und der Antragstellung. Somit kann davon ausgegangen werden, dass das tatsächliche Asylverfahren sehr viel länger dauert, als die Statistik suggeriert.

Es ist somit schlichtweg falsch zu behaupten, dass sich die Asylverfahren für Antragsteller aus den sogenannten sicheren Herkunftsländern signifikant verkürzt haben. Und somit kann man die Verfahrensdauer auch nicht als Rechtfertigung nutzen, um weitere Herkunftsländer als sicher einzustufen.


 

  1. „[E]s ist nicht länger zu tolerieren, dass es in Europa mit Blick auf Asyl und Aufenthalt unterschiedliche Regelungen gibt.“

Christian Lindner, FDP-Bundesvorsitzender,
in: Focus online, 25.11.2015

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Kommentiert von Prof. Dr. Hannes Schammann

Wie hier von Christian Lindner, wird derzeit häufig das Fehlen gemeinsamer asylrechtlicher Regelungen innerhalb der Europäischen Union bemängelt. Das ist so nicht richtig: In ihren Grundlinien ist die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU-Mitgliedsstaaten nämlich durchaus europäisiert. Das im Jahr 2013 verabschiedete Gemeinsame Europäische Asylsystem hat EU-weit rechtliche Mindeststandards eingeführt, beispielsweise zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (RL 2011/95/EU), zur Durchführung des Asylverfahrens (RL 2013/32/EU) oder zur menschenwürdigen Aufnahme von Asylsuchenden (RL 2013/33/EU). Diese Europäisierung folgt dem Ziel einer Etablierung des gemeinsamen „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 67 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union).

Ein Problem gibt es aber im Zuge der Implementierung: Die Richtlinien sind bislang nicht überall in nationales Recht umgesetzt, die Verwaltungspraxis ist nicht harmonisiert. Der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) weist beispielsweise auf die weiterhin eklatant differierenden Anerkennungsquoten von afghanischen Asylsuchenden hin, die im Jahr 2014 zwischen 95% in Italien und 20% in Rumänien lagen. Der aus solchen Befunden resultierende Handlungsbedarf liegt daher (neben einer Reform des Dublin-Systems) mittlerweile weniger in der Suche nach gemeinsamen europäischen Regelungen als vielmehr in der Harmonisierung der Umsetzungspraxis. Diese Erkenntnis hat übrigens 2014 auch Eingang in die migrationspolitische Agenda der Juncker-Kommission gefunden: So sollte beispielsweise das in Malta ansässige European Asylum Support Office darin gestärkt werden, die Mitgliedsstaaten bei der Implementierung der gemeinsamen Standards zu unterstützen. Richtigerweise bemängeln könnte Christian Lindner, dass von dieser Harmonisierung bislang wenig zu spüren ist.


 

  1. „Wir brauchen eine Obergrenze.“

CSU-Leitantrag 2015 „Deutschland braucht das starke Bayern. Migration – Leitkultur – Integration“,
Leitantrag für den CSU-Parteitag, 20./21.11.2015

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Kommentiert von Janna Weßels

Die Debatte um die Forderung nach „Obergrenzen“ für die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland verschleiert Realitäten. Denn eine Begrenzung der Zahl der Flüchtlinge würde bedeuten, dass Schutzsuchende abgewiesen würden, sobald das Limit erreicht wäre. Dieser Vorgang wird im internationalen Recht als refoulement bezeichnet und ist nicht nur verfassungswidrig, sondern verstößt auch gegen bindendes Völkerrecht: Kein Staat darf eine Person in einen anderen Staat abschieben („refouler“), in dem ihr Folter oder eine andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Das muss in jedem Einzelfall geprüft werden. Das non-refoulement-Prinzip ergibt sich unter anderem aus Artikel 33, Absatz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention – die auch vom deutschen Recht unmittelbar umgesetzt wird – ebenso wie aus Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und gilt inzwischen als Völkergewohnheitsrecht. Es ist “absolut“, gilt natürlich auch bei Massenfluchtbewegungen und darf nicht mit anderen Interessen abgewogen werden. Auch die Frage der nationalen Sicherheit steht nicht über dem Verbot.

Das refoulement-Verbot wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte explizit auch für Flughäfen (Amuur v. France) und das Mittelmeer (Hirsii Jamaa v. Italy) bestätigt. Staaten müssen also zumindest Zugang zum Asylverfahren gewähren, um einen Schutzanspruch individuell zu prüfen. Daran ändert auch die viel geforderte „Schließung“ der Grenzen nichts. Abgesehen davon, dass eine völlige Abschottung nicht umzusetzen wäre, würde sie auch nichts bringen: Wer einen Schutzanspruch formuliert, darf nicht abgewiesen werden. Daran hält sich auch Schweden, wo man zwar wieder Grenzkontrollen durchführt, Asylsuchende aber nicht zurückgeschickt werden.

Rechtsstaatlich umzusetzen sind „Obergrenzen“ also nicht. Solche Forderungen können daher nur als Symbolpolitik und politische Drohgebärde gemeint sein. Produktiver wäre eine Weiterentwicklung und Vertiefung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems.


 

  1. „Andere Staaten geben in solchen Lagen auch nur eine Sicherheit für eine begrenzte Zeit, und das werden wir in Zukunft mit den Syrern auch tun. Indem wir ihnen sagen, ihr bekommt Schutz, aber den sogenannten Subsidiären Schutz. Das heißt: zeitlich begrenzt und ohne Familiennnachzug. Die Zahl ist also jetzt klein, sie wird aber wieder größer werden, wenn wir sie auf Syrer erstrecken.”

Thomas de Maizière, Bundesinnenminister,
in: Deutschlandradio, 6.11.2015

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Kommentiert von Pauline Endres de Oliveira

Die Aussage, dass durch die Zuerkennung sogenannten subsidiären Schutzes nur noch „zeitlich begrenzter“ Schutz gewährt würde, suggeriert, dass Schutzsuchenden aus Syrien mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bislang unbefristete Aufenthaltstitel ausgestellt würden. Das ist falsch. Schutzsuchende erhalten in Deutschland zunächst immer nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis, ganz unabhängig von ihrem Status. Die Möglichkeit einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis besteht für anerkannte Flüchtlinge grundsätzlich frühestens nach drei, für subsidiär Schutzberechtigte nach fünf Jahren (vgl. § 26 Abs. 3 und 4 AufenthG). Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ist ebenso möglich (vgl. § 29 Abs. 2 AufenthG), auch wenn zurzeit Pläne bestehen, diese Regelung für zwei Jahre auszusetzen.

Asylsuchende haben das Recht auf eine individuelle Antragsprüfung, wobei Schutzsuchende aus Syrien in der Regel die Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft nach der GFK erfüllen dürften (so auch die obergerichtliche Rechtsprechung seit 2013).

Im Gegensatz zum subsidiären Schutz, hängt der Flüchtlingsschutz davon ab, ob die Gefahr einer Verfolgung wegen bestimmter persönlicher Merkmale wie Religion, Ethnie oder politischer Überzeugung droht, die der verfolgten Person entweder anhaften oder durch den Verfolger zugeschrieben werden. Da der Konflikt in Syrien von gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung ganzer Dörfer und Gemeinden gekennzeichnet ist, gerade weil diesen eine bestimmte religiöse, ethnische oder politische Zugehörigkeit zugeschrieben wird, weist auch UNHCR darauf hin, dass Schutzsuchende aus Syrien mehrheitlich die Flüchtlingseigenschaft erfüllen und daher unter den Schutz der GFK gestellt werden sollten.

Die Abkehr von der Praxis, Asylsuchenden aus Syrien die Flüchtlingseigenschaft im schriftlichen Schnellverfahren zuzuerkennen, wird daher nicht zu einer wesentlichen Änderung der inhaltlichen Entscheidungen, sondern in erster Linie zu einem höheren Verwaltungsaufwand und damit zu (noch) längeren Asylverfahren führen.


 

  1. „Dazu gehört auch, dass zwischen dem Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention und subsidiärem Schutz unterschieden wird. Es ist nicht das Gleiche, ob jemand direkt um Leib und Leben fürchten muss, oder sich aus nicht umkämpften Gebieten oder sicheren Flüchtlingscamps auf den Weg zu uns gemacht hat. Wenn keine individuellen Verfolgungsgründe vorliegen, darf es im Regelfall nur noch subsidiären Schutz geben.“

CSU-Leitantrag 2015 „Deutschland braucht das starke Bayern. Migration – Leitkultur – Integration“,
Leitantrag für den CSU-Parteitag, 20./21.11.2015

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Kommentiert von Prof. Dr. Anna Lübbe

Nach der Debatte um Transit-Zentren sucht die CSU weiter nach Möglichkeiten der Zuwanderungsbegrenzung. Das Zitat erweckt den Eindruck, Schutzsuchenden aus „nicht umkämpften Gebieten oder sicheren Flüchtlingscamps“ stehe meist nur der subsidiäre Schutzstatus zu, nicht der Konventionsflüchtlingsstatus. In der Folge soll ihnen der Familiennachzug verwehrt werden. Einmal abgesehen von der Frage, ob der Familiennachzug derart begrenzt werden kann: Trifft es zu, dass solchen Schutzsuchenden meist nur der subsidiäre Status zusteht?

Für den Status kommt es nicht darauf an, woher jemand kommt, entscheidend ist das Wohin: Was droht dem Antragsteller, wenn man ihn in seinen Heimatstaat zurückschickt? Hat er begründete Furcht, dort in Anknüpfung an persönliche Merkmale verfolgt zu werden, ist er als Konventionsflüchtling anzuerkennen (Art. 2 lit. d, 9 f, 13 Qualifikationsrichtlinie – QRL). Hat er begründete Furcht, dort einen (sonstigen) ernsthaften Schaden zu erleiden, z.B. wegen des Bürgerkriegs, gebührt ihm subsidiärer Schutz (Art. 2 lit. d, 15, 18 QRL). Unter Umständen kann man Schutzsuchende auch an einen übernahmebereiten und -tauglichen anderen Schutzstaat verweisen, statt ihnen selbst einen Status zu geben (Art. 21 ff Dublin-III-Verordnung; Art. 35 ff Asylverfahrensrichtlinie), um solche Verweisungsmöglichkeiten geht es aber in dem Zitat nicht, sondern um die Art des Status.

Kommt also ein Syrer aus nicht umkämpftem Gebiet nach Deutschland, wird er etwas dazu sagen müssen, weshalb ihm in Syrien Gefahr droht. Dazu ist kein umkämpftes Gebiet nötig, es kann ihm Verfolgung als Oppositionellem drohen, als Homosexuellem, wegen seiner Religion, o.a. – dann ist er Konventionsflüchtling. Kann er weder Verfolgungsgründe noch Bürgerkriegsgefahren oder einen sonstigen ernsthaften Schaden plausibel machen, wird überhaupt kein Schutzstatus gewährt, sondern der Asylantrag abgelehnt. Ist der Syrer aus einem „sicheren Flüchtlingslager“, etwa in Jordanien oder der Türkei, nach Deutschland weitergeflüchtet, so kommt es für den Status, der ihm zusteht, ebenfalls nur darauf an, was ihm droht, wenn man ihn nach Syrien zurückschickt.

Im Ergebnis gibt es überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass Syrer aus nicht umkämpften Gebieten oder Flüchtlingslagern seltener Konventionsflüchtlinge wären als andere Syrer.


 

Redaktion: Dr. Ulrike Krause

 

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