Grenzen der Demokratie? Eine kritische Perspektive auf die Mediendebatte zu Flüchtlingen

In den medialen Auftritten von PolitikerInnen dominieren Darstellungen der Flüchtlinge als Probleme. Gleichzeitig lassen sich in den Medien Bemühungen beobachten, die darauf abzielen, die Flüchtlinge nicht als Problem – welcher Art auch immer, sondern als die Lösung für bestimmte Probleme zu verstehen. Beides ist problematisch und ersetzt nicht einen öffentlichen Diskurs über die Frage, ob unser Verständnis von Demokratie und Selbstbestimmung möglicherweise überholt ist und nach einer Neuauflage verlangt, welche das Verhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht von Nationalstaaten und den (Menschen-)Rechten von Personen neu bestimmt.

 

Narrative Rahmungen in der öffentlichen Debatte

Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen verwies im September auf die Notwendigkeit, flexibel zu handeln, und Ausnahmen zuzulassen, um humanitäre Dramen an unseren Grenzen verhindern zu können. Sie erweckt damit den Eindruck, als handle es sich um eine Ausnahmesituation, die nach einer einmaligen spontanen Anstrengung verlangt. EU-Kommissionschef Juncker wirbt für eine zeitlich unbegrenzte Quotenregelung, welche die Flüchtlinge auf die EU-Staaten gerecht aufteilen soll und rahmt die Flüchtlinge als europäisches Lastenverteilungsproblem. Bundeskanzlerin Angela Merkel verweist auf die Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen, die Rettung der Flüchtlinge in einer „nationalen Kraftanstrengung“ zu ermöglichen, und dabei schnell und unbürokratisch zu sein.

Es liegt nicht in meiner Absicht, diese Äußerungen zu kritisieren, denn sie sprechen pragmatische Aufgaben an, die gelöst werden müssen, aber ich möchte auf die narrative Einrahmung von Äußerungen aufmerksam machen, die derzeit im Mediendiskurs kursieren. Während Angela Merkel eine nationale Problemrahmung für ihren Aufruf wählt und Junckers Ansatz von der Idee einer gerechten Verteilung von Lasten zehrt, ist Ursula von der Leyen bestrebt, auf die Dramatik und die zeitliche Begrenztheit des „Problems“ hinzuweisen.

Mit der Rahmung von Flüchtlingen als „Problem“ kontrastiert die Rahmung der Flüchtlinge als „Problemlösung“, die an anderer Stelle vorgenommen wird: In der „ZEIT“ erschien ein Artikel von Sabine Rückert, der dazu aufrief, Flüchtlinge als die Lösung des Problems der Überalterung Deutschlands zu betrachten, und Deutschland davor zu bewahren, zu einem „Winterland des Alters“ zu werden. Ulf Poschardt, stellvertretender Chefredakteur der Welt-Gruppe, ruft in seinem Artikel „Was hilft Flüchtlingen am besten? Der Neoliberalismus!“ zu einem „kühl ökonomischen Bick“ auf das Flüchtlingsdrama auf und argumentiert dann forsch für ein Einwanderungsgesetz, welches „jene (und nur jene) ins Land lässt, die gebraucht werden“.

Vielleicht sind die beiden letzten Vorschläge gut gemeint, aber sie implizieren die Unterscheidung zwischen erwünschten, weil ökonomisch verwertbaren Flüchtlingen und unerwünschten, weil ökonomisch nicht verwertbaren Flüchtlingen. Es sollte aber nicht vergessen werden: Es geht nicht primär um ArbeitsmigrantInnen, sondern um von der Genfer Konvention geschützte Flüchtlinge, die vor dem Krieg in Syrien flüchten und die einen völkerrechtlichen Anspruch auf Schutz und Unterstützung haben.

Man mag ja glauben, dass der Neoliberalismus im Bereich des Marktes seine Berechtigung hat, aber seine zunehmende Ausweitung bis in politische Fragen hinein hat Konsequenzen für unser Selbstverständnis der Demokratie und sollte nicht unreflektiert hingenommen werden. Aber ausgerechnet die demokratische Perspektive ist in der öffentlichen Debatte bisher kaum eingenommen worden.

 

Grenzen der Demokratie

Die Debatten politischer TheoretikerInnen wie James Bohman, Joseph H. Carens und Michael Walzer, die seit vielen Jahren zu offenen Grenzen und globaler Demokratie vor allem in den USA geführt werden, zeigen, dass die Exklusion von Menschen aus nationalen Gemeinschaften weder ein rein nationales Problem noch ein zeitlich eng begrenztes Lastenproblem ist. Vielmehr ist es ein grundlegendes Konstruktionsproblem von nationalstaatlichen Demokratien. Vor allem die prinzipielle Anerkennung der Menschenrechte setzt aber die Exklusionspraktiken demokratischer Nationalstaaten unter Rechtfertigungsdruck.

Während Michael Walzer 1983 in seinem Buch „Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality” noch das demokratische Selbstbestimmungsrecht über den Schutz der Flüchtlinge stellte, hat der liberale Theoretiker Joseph Carens schon wenige Jahre danach in seinen Vorträgen darauf hingewiesen, dass die liberale Forderung nach (Bewegungs-)Freiheit (Freizügigkeit) unter der gleichzeitigen Anrufung der Menschenrechte kein konsistentes Argument generieren kann, welches den Ausschluss von Flüchtlingen rechtfertigen würde. Denn wer die Idee der Menschenrechte ernst nimmt und ein Recht auf (Bewegungs-)Freiheit einfordert, kann das Ende der (Bewegungs-)Freiheit an Grenzübergängen nicht rechtfertigen, es sei denn im Rückgriff auf pragmatische, aber eben nicht demokratische Argumente, so Carens.

Aber nicht nur unter liberalen TheoretikerInnen kommen Zweifel über die nationalen Exklusionspraktiken auf. Auch der republikanische Theoretiker James Bohman hat in seinem Buch „Democracy across Borders“ gezeigt, dass durch die Anerkennung der Menschenrechte eine menschliche Gemeinschaft gleichzeitig vorausgesetzt und konstituiert wird, die über nationale Gemeinschaften hinausweist – also etwas, das Walzer noch für unmöglich gehalten hatte. Die Menschenrechte, so Bohman, beziehen sich auf menschliche Eigenschaften, welche bis auf einige Ausnahmen zwar bisher nur von nationalen Institutionen geschützt und gewährleistet werden, denn Inhalte von menschenrechtlichen Völkerrechtsverträge werden erst für die Menschen zugänglich, wenn Staaten die Verträge unterzeichnen und in nationales Recht umsetzen. Aber in ihrem Anspruch implizieren  die Menschenrechte nicht nur die Idee alle Menschen zu schützen, sondern auch von allen Menschen anerkannt zu werden. Daher entsteht durch die Anerkennung der Menschenrechte, so Bohman, eine menschliche Gemeinschaft, deren Rolle neben der Rolle von nationalen Gemeinschaften expliziert werden muss. Ansätze für deren Institutionalisierung bestehen nach Bohman bereits. Insbesondere im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und in der Unterordnung europäischen Rechts unter die Menschenrechte sowie in der Möglichkeit für Nicht-EU-Bürger den Gerichtshof anzurufen, sieht er die Institutionalisierung und Konstituierung der menschlichen Gemeinschaft gegeben.

Bohman konstatiert jedoch, dass die Anerkennung einer menschlichen Gemeinschaft nicht zwangsläufig zu offenen Grenzen führt, dass aber die Debatte darüber, wer als Mitglied in einer demokratischen Gemeinschaft verstanden werden soll und wer nicht, dem demokratischen Prinzip nicht äußerlich ist. Die Frage danach, wer mitbestimmen darf und wer nicht, bildet vielmehr das Herzstück der demokratischen Idee. Als wichtigsten Schritt auf dem Weg zu einer menschlichen Gemeinschaft und angemessenen Institutionen sieht Bohman die Öffnung der EU-Institutionen für Gerechtigkeitsforderungen mittels deliberativer Arenen, in denen auch Nicht-EU-BürgerInnen ihre politischen Forderungen an die Regierenden herantragen können (Bohman 2010: 128) und die Möglichkeit, EU-Institutionen durch eine demokratische Verfassung und Gesetzgebung zu verändern und weiter zu demokratisieren.

Aus Bohmans Überlegungen zur grenzüberschreitenden Demokratie folgt jedoch viel mehr für den Umgang mit Flüchtlingen, als er selbst in seinen Texten nahelegt. Denn es lässt sich das Argument daraus ableiten, dass den Flüchtlingen die Möglichkeit gegeben werden muss, ihre Forderungen in entsprechenden Foren vorzutragen und in den politischen Diskurs einzuspeisen, bevor über ihren Ausschluss oder Einschluss entschieden wird. Eine demokratische Gemeinschaft, die sich an den Menschenrechten und damit an einer menschlichen Gemeinschaft orientiert, kann diese Entscheidung also nicht treffen, ohne die Betroffenen in den deliberativen Prozess miteinbezogen zu haben. Weiterhin lässt sich mit Bohman argumentieren, dass die Entscheidung über Inklusion und Exklusion die Menschenrechte der Betroffenen nicht verletzen darf. D.h. die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sind nicht völlig frei in ihrer Entscheidung, sondern akzeptieren die Anerkennung der Menschenrechte aller Menschen als ihrer demokratischen Entscheidung vorgängig.

 

Quo Vadis?

Die Aufgabe, um deren Lösung und Debatte es nationalen oder europäischen DemokratInnen also in meinen Augen gehen müsste, wäre die institutionelle Einbindung von Repräsentationsmöglichkeiten für Flüchtlinge in die lokale, nationale und europäische Politik. Um die Positionen der Flüchtlinge in den politischen Diskurs miteinbeziehen zu können, ist dies eine zentrale Aufgabe, um dann auf der Basis der mit den Flüchtlingen geführten Debatten weiterführende Entscheidungen treffen zu können. Diese Entscheidungen müssen sich jedoch an den Menschenrechten als Richtlinie orientieren. D.h. EU-BürgerInnen und die Regierenden könnten die Entscheidung, Menschenrechten den Vorrang, vor ihrem demokratischen Selbstbestimmungsrecht zu geben, bestätigen und damit die weitere Konstituierung einer menschlichen Gemeinschaft unterstützen.

 

Der Beitrag ist parallel auf dem Sicherheitspolitik-Blog und dem FlüchtlingsforschungsBlog erschienen.

 

Photo Credits:

(c) Elizabeth Sánchez

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