Ihren hohen Anspruch, mit dem neuen Pakt für Migration und Asyl einen „frischen Start“ in der Migrationspolitik zu starten, kann die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen nicht einlösen. Allzu große Kompromisse musste sie bereits im Vorfeld mit den Mitgliedstaaten eingehen. Der Pakt ist wenig innovativ und bleibt in seinen humanitären Aspekten unverbindlich. Offen sind auch seine Durchsetzungschancen bei den Verhandlungen im Rat und nicht zuletzt seine Effektivität beim Schutz von Flüchtlingsrechten.
Mit einem hohen Anspruch hat die Europäische Kommission am 23. September ihren Neuen Pakt für Migration und Asyl vorgestellt: Nicht weniger als einen Neubeginn versprachen die zuständigen Kommissare, Ylva Johansson und Margaritis Schinas – einen Neubeginn, der alle Bereiche der Migrationspolitik umfassen, die Blockade zwischen den Mitgliedstaaten auflösen und ein zuverlässiges Migrations- und Asylsystem begründen soll.
Um diese Rolle ist die Kommission nicht zu beneiden: Sie ist angetreten, die seit Langem über die Flüchtlingspolitik zerstrittenen Mitgliedstaaten stärker zu einen. Sie muss den im Flüchtlingsschutz losgetretenen „Wettbewerb nach unten“ stoppen und die Migration in geordnete Bahnen lenken. Dazu hat sie in den vergangenen Monaten in Vorverhandlungen mit den Staaten und dem Europäischem Parlament wahre Kärrnerarbeit leisten müssen. Herausgekommen ist ein Bündel von Kompromissvorschlägen. Zentrale Vorschläge werden im Folgenden auf ihr Innovationspotenzial, ihre mögliche Verbindlichkeit, ihre Umsetzbarkeit in den Verhandlungen, ihre mögliche Effektivität und den Schutz von Rechten hin beleuchtet.
Kommunikativer Fehlstart
Kommunikativ hat sich die Kommission mit dem selbst aufgebauten, unnötig hohen Erwartungsdruck keinen Gefallen getan. Dem Kompromisscharakter der Vorschläge entsprechend, hat sie ihr eigens gewähltes Narrativ von der Migration als Normal- – statt als Krisenfall – in den unterschiedlichen Vorschlägen nicht durchgehalten. Vielmehr scheint die Erzählung von der „irregulären Migration als Normalfall“ oder gar von der „Flüchtlingskrise“ immer wieder durch. In ihrer einleitenden Mitteilung gelingt es der Kommission nicht zu erklären, worin die Verbesserungen gegenüber dem Status Quo bestehen. Vielmehr hat sie die Fachöffentlichkeit genötigt, sich durch eine umfangreiche Loseblattsammlung an Verordnungsentwürfen und Empfehlungen zu quälen, um Form und Inhalt zu begreifen.
Wenig Neues, aber mit „Twist“
Aus den neun darin vorgelegten Gesetzesinitiativen lassen sich nur wenige Vorschläge herausschälen, die nicht bereits bekannt gewesen wären. Als Kernstücke genannt seien die Pre-Screenings und Asylverfahren an den Außengrenzen sowie die „flexible Solidarität“ bei der Aufgabenteilung unter den Mitgliedstaaten. Sie haben nur wenig Innovationswert, erhalten jedoch jeweils einen neuen „Twist“, der sie für die Verhandlungspartner attraktiver machen soll.
Erstens soll die Dublin-Verordnung abgeschafft werden. Ersetzt werden soll sie durch ein Screening vor der Einreise sowie durch Asylverfahren gegebenenfalls an den EU-Außengrenzen. Anders als in bereits früher, etwa im Vorfeld der deutschen Ratspräsidentschaft, vorgelegten Vorschlägen stellen die Pre-Screenings keine Vorentscheidungen von Asylverfahren dar. Sie erweitern lediglich die Registrierung von Asylantragstellern und führen zusätzlich einen Sicherheits- und Gesundheitscheck ein. Daran anschließend erfolgen Asylverfahren. Ihr Prozedere erinnert an das in Deutschland 2016 eingeführte „integrierte Flüchtlingsmanagement“, das die Asylantragsteller in mehrere Gruppen unterteilt: Ein Grenzverfahren soll für Asylbewerber aus Staaten „mit niedriger Anerkennungsquote“ stattfinden sowie bei solchen Personen, deren Antrag falsche bzw. missbräuchliche Angaben enthält oder die eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen. Entsprechend der Zuordnung von Antragstellern werden diese vier möglichen Pfaden zugeleitet: Rückführungen, „normalen Asylverfahren“ (mit allerdings sehr straffen Fristen), beschleunigten Asylverfahren oder der relocation in einen anderen Mitgliedstaat (in dem dann das Asylverfahren stattfinden soll).
Zweitens kehrt die Kommission von dem faktisch nicht umgesetzten Prinzip der fairen Verteilung von Schutzsuchenden auf die Mitgliedstaaten ab und ersetzt dieses durch einen „neuen Solidaritätsmechanismus“. Demnach muss nicht jeder Mitgliedstaat Schutzsuchende aufnehmen. Er kann stattdessen auch für andere Instrumente der „Solidarität“ optieren. Der Twist gegenüber dem von der slowakischen Ratspräsidentschaft 2016 vorgeschlagenen Prinzip der „flexiblen Solidarität“ besteht in der Figur der „Rückkehrpatenschaft“ („return sponsorship“). Anstelle der Aufnahme von Flüchtlingen kann ein Mitgliedstaat die Patenschaft für Rückkehrer übernehmen. Gelingt es binnen acht Monaten nicht, die entsprechende Person zurückzuführen, muss er sie auf seinem Territorium aufnehmen. Aber auch weitere, operative und technische Unterstützungsleistungen wären denkbar – diese will die Kommission später in einem eigenen Katalog spezifizieren. Im Falle einer Überlastung des Migrationssystems eines Mitgliedstaates sollen die Mitgliedstaaten allerdings einen jeweils „gerechten Anteil“ an Flüchtlingen übernehmen und sollen auch anerkannte Flüchtlinge umgesiedelt werden.
Keine Verbindlichkeit für „legale Wege“, „Seenotrettung“ und „Kooperation mit Drittstaaten“
Je nach Thema unterscheiden sich die unterbreiteten Vorschläge stark in ihrer Rechtsverbindlichkeit. Geht es um sogenannte „harte Themen“, so kommen die Vorschläge verbindlich als Verordnungsentwürfe daher: bei den Pre-Screenings und Asylverfahren an der Grenze (einschließlich einer Ausweitung des Fingerabdrucksystems EURODAC), bei einer neuen, auf den Ersatz der 2001er „Massenzustromrichtlinie“ abzielenden Verordnung zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in Krisenzeiten oder bei der Regelung der „flexiblen Solidarität“.
Jene Themen hingegen, die sich auf die humanitäre Seite von Flucht und Migration beziehen, sind lediglich Empfehlungen ohne rechtsverbindlichen Charakter: legale Zugangswege, die Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten, die Koordination der Seenotrettung. Die Empfehlungen bleiben auch inhaltlich vage oder werden gar ins kommende Jahr verschoben. So empfiehlt die Kommission zwar, das Resettlement-System zu stabilisieren, das sie auch finanziell einpreist. Eine Konkretisierung weiterer legaler Zugangswege aber stellt sie erst für das nächste Jahr in Aussicht. Gerade hierin könnte Potenzial liegen, zumal dann, wenn eine „Win-Win“-Situation bei der Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern von Migranten und Flüchtlingen angestrebt ist. Die Öffnung stabiler und regulärer Wege für Flucht wie auch für Migration ist schließlich ein probates Mittel dazu. Die Kriminalisierung der privaten Seenotretter zu vermeiden und die Seenotrettung zu koordinieren, sind (zweifellos begrüßenswerte) Empfehlungen. Abgesehen davon aber bleibt das Thema „Search and Rescue“ unverbindlich: Eine einzurichtende Kontaktgruppe soll einmal jährlich der Kommission berichten.
Einige Themen fehlen gar völlig: Beredtes Schweigen herrscht über die künftige Regelung von Sekundärmigration, und auch die Regelung der Schengen-Binnengrenzen bleibt unerwähnt. Ohne diese Aspekte aber stellt sich die Frage, wie das neue Asylsystem funktionieren soll.
Unklare Durchsetzungschancen im Rat, überambitioniertes Timing
Schon allein aufgrund der gewählten Rechtsform ist die Durchsetzungschance der unmittelbar in den Mitgliedstaaten geltenden Gesetze bei den Verhandlungen im Rat als eher problematisch einzuschätzen. Der Tendenz der vergangenen Reformbemühungen des EU-Asylsystems folgend, verzichtet die Kommission in den neuen Vorschlägen gänzlich auf Richtlinienentwürfe, die in den Mitgliedstaaten noch transponiert und implementiert werden müssten. Sie ersetzt diese durch unmittelbar geltende Verordnungen. Damit steht für die Mitgliedstaaten viel auf dem Spiel, was intensive Verhandlungen verspricht. Zumindest der ambitionierte Zeitplan, der eine politische Einigung bis Ende dieses Jahres und eine Verabschiedung bis Juni nächsten Jahres vorsieht, dürfte kaum einzuhalten sein.
Das gilt umso mehr, als die Kommission – mit Ausnahme der mit dem Pakt zurückgezogenen Dublin-Reform – an den in unterschiedlichen Stadien feststeckenden Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) festhält: der Verordnung zu den Asylagenturen, der Aufnahme- und der Qualifikationsrichtlinie, dem Resettlement-Framework und die Verordnung über die Europäische Agentur für Asyl (vormals EASO), über deren Reform bereits eine vorläufige politische Einigung erzielt wurde, sowie der Rückführungsverordnung, über die noch verhandelt werden muss.
Ein Blick auf die Inhalte lässt ebenfalls eher harte Verhandlungen prognostizieren: Sehr verwunderlich wäre es, wenn die Staaten an den Außengrenzen dem neuen System zustimmten, in dem sie auch noch für Vorprüfungen und Grenzverfahren zuständig sein sollen. Diejenigen Staaten, die für eine „Rückführungspatenschaft“ optieren, werden nicht ohne Weiteres zustimmen, dass sie nach Ablauf einer achtmonatigen Frist alle Antragsteller aufnehmen müssen, die sie nicht rückführen können. Und schließlich bleibt politisch auszuhandeln, wie die Aufnahme von Flüchtlingen zu anderen möglichen Instrumenten der „Solidarität à la carte“ zu gewichten ist – kein leichtes Unterfangen.
Mögliche Effektivität: Mehr Fragen als Antworten
Selbst wenn man künftig nominell auf das Dublin-Verfahren verzichtet, wirft das neue Prozedere eine ganze Reihe von Fragen auf: Wie kann gewährleistet werden, dass der Druck auf die Außenstaaten tatsächlich gemindert wird? Wie sollen schnellere und verlässlichere Screenings – die Kommission spricht von fünf bis zehn Tagen – und schnellere Asylverfahren an der Grenze – die Kommission spricht von 12, maximal 20 Wochen – gewährleistet werden? Wie kann die Compliance von Staaten gewährleistet werden? Dazu wäre ein entsprechender Einsatz von Ressourcen und Kompetenzen vonnöten, dessen Konkretisierung freilich noch aussteht. Für mehr Effektivität und Harmonisierung der Verfahren hätte allenfalls eine echte, über die bereits konsentierte Reform des Europäischen Unterstützungsbüros EASO hinaus in Richtung auf ein „EU-BAMF“ reichender Vorschlag sorgen können, aber auch hier ist die Kommission zu kurz gesprungen.
Ähnliches gilt für die Frage, wie ein Rückstau in den überforderten Außengrenzstaaten vermieden werden kann, der zu einer Neuauflage, ja zu einer Zementierung der Hot Spots führen würde? Und was heißt das für Fragen der Unterbringung? Zwar ist ein Pilotprojekt unter Leitung der EU zur Camp-Unterbringung geplant, aber über dieses ist noch wenig bekannt.
Verfahren auf Kosten der Grundrechte, auf Kosten der Schwächeren?
Fragen ergeben sich auch zur Sicherung von Grundrechten der Migranten und Flüchtlinge in diesen Verfahren. Diese beantwortet die Kommission mit der Errichtung eines neuen, unabhängigen Monitoringmechanismus‘. Darin läge durchaus Innovationspotenzial, wäre er nur bei der Europäischen Kommission, der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA) oder einer unabhängigen Instanz gut aufgehoben. Stattdessen soll das Grundrechtemonitoring ausgerechnet den Mitgliedstaaten überantwortet werden. Ihnen obliegt es, das Gremium zusammenzustellen und dazu – eventuell – die FRA zu konsultieren. Im schlimmsten Fall führt diese Zuständigkeitszuweisung also dazu, dass dieselben Staaten, die die Rechte verletzen, über diese Rechtsverletzung entscheiden sollen: Das Prinzip führt sich ad absurdum.
„Vulnerable Personen“ (in der Wortwahl der Kommission) sollen während der Screenings identifizier werden und müssen nicht die für alle anderen Personen vorgesehenen, beschleunigten Asylverfahren durchlaufen –ein Element, das wir bislang aus der Aufnahmerichtlinie kennen. Was hier so humanitär daher kommt, verlangt jedoch nach einer Klärung der Umsetzbarkeit angesichts des aufgebauten Zeitdrucks, der Zuständigkeit und Überprüfbarkeit.
Schließlich stellt sich allenthalben die Frage nach dem Zugang zu Rechtsbehelfen bei den durchgeführten Verfahren: An wen wendet sich der abgelehnte und abgeschobene Asylbewerber, wer sind die in den Texten erwähnten „entsprechenden Autoritäten“?
Gewogen und für zu leicht befunden?
Die Brücke zwischen den weit auseinanderdriftenden Staateninteressen zu bauen und das humanitäre Desaster der europäischen Flüchtlingspolitik zu beheben, ist zweifelsohne eine Herkulesaufgabe. Selbstverständlich würde man sich wünschen, dass der Kommission ein Verhandlungserfolg zwischen den Staaten sowie zwischen Rat und Parlament gelänge. Dann käme wenigstens etwas Bewegung in die verhärteten Fronten. Dann wäre eine Rückkehr zu dem möglich, was im Kern zu regeln ist: der Schutz der Flüchtlinge und die Steuerung einer bisher weitgehend unregulierten Migration. Bereits im Vorfeld kann man aus gutem Grund die 554 „gewichtigen“ Seiten wiegen und für zu leicht befinden. Die Entscheidung aber liegt bei den Gesetzgebern.