Von Ulrike Krause und Nadine Segadlo
Anlässlich des Weltfriedenstags am 21. September gehen wir in diesem Beitrag der Frage nach, welche Rolle eigentlich Frieden in wissenschaftlichen Debatten über konfliktbedingte Flucht spielt. Wir reflektieren die Forschungen und zeigen, dass vielfältige wichtige Beiträge erschienen sind, die zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge von Konflikt und Flucht beigetragen haben. Jedoch bleibt Frieden in diesem Kontext nach wie vor ein unzureichend bearbeitetes Feld.
Die im Titel unseres Beitrags gestellte Frage – Welche Bedeutungen hat Frieden für Geflüchtete? – mag zunächst fast plakativ oder sogar unangemessen erscheinen. Schließlich ist Frieden für ein lebenswertes, sicheres, würdevolles und harmonisches Leben aller Menschen bedeutsam. Doch gerade der Blick darauf, dass die meisten Menschen weltweit aufgrund gewaltsamer Konflikte und Kriege ihre Herkunftsorte verlassen und in anderen Regionen Schutz und Sicherheit suchen, belegt die Relevanz der Frage.
So widmen wir uns in unserem Beitrag anlässlich des heutigen Weltfriedenstags wissenschaftlichen Debatten über Flucht aufgrund gewaltsamer Konflikte und hinterfragen, auf welche Weise Frieden berücksichtigt wird. Dabei werden wir zeigen, dass zwar sehr viel Literatur zu konfliktbedingter Flucht erschienen ist, die Bedeutungen von Frieden für Geflüchtete sowie im Konflikt-Flucht-Nexus aber nachrangig bleiben.
Konfliktbedingte Flucht: Was sagt die Forschung?
Bereits seit den 1980er Jahren sind diverse Studien über Zusammenhänge von Flucht und Konflikt erschienen. Zusätzlich zu vielfältigen Aufsätzen lässt sich etwa auf die Bücher von Aristide R. Zolberg, Astri Suhrke und Sergio Aguayo zu ‚Escape from Violence. Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World‘ von 1989, Sarah Lischer zu ‚Dangerous Sanctuaries: Refugee Camps, Civil War, and the Dilemmas of Humanitarian Aid‘ von 2005, Susan F. Martin und John Tirman zu ‚Women, Migration, and Conflict. Breaking a Deadly Cycle‘ von 2009, oder auch Simon Turner zu ‚Politics of Innocence. Hutu Identity, Conflict and Camp Life‘ von 2010 hinweisen. Diese Werke stehen nur exemplarisch für einen kontinuierlich wachsenden Korpus an Literatur.
Forschungsdebatten reflektieren, dass Flucht aufgrund gewaltsamer Konflikte durch komplexe und vielschichtige Einflussfaktoren geprägt ist. Sie geht einher mit diversen Gewaltgefahren, physischen und psychischen sowie sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen von Konflikten. Häufig halten Gewaltgefahren über lange Zeit an, was die Lage der Betroffenen in Konflikten wie auch auf der Flucht erschwert. Mit Hilfe eines prozesshaften Verständnisses von konfliktbedingter Flucht wird gezeigt, dass plötzlich auftretende, anhaltende, wiederaufflammende und langsam wiederkehrende Gewalt in Konflikten und ihre Folgen zu rasch einsetzenden, wiederkehrenden und langwährenden Fluchtbewegungen führen kann. Dabei fliehen die meisten Menschen weltweit in naheliegende Regionen oder benachbarte Staaten, was nicht zuletzt aktuelle Entwicklungen belegen.
Das prozesshafte Verständnis beleuchtet zudem, dass die Dauer von Konflikten unmittelbar die Dauer von Aufnahmesituationen Geflüchteter bedingt. Denn langwierige Konflikte tragen nicht nur zu Flucht bei, sondern verhindern auch, dass Geflüchtete kurz- oder mittelfristig an Herkunftsorte zurückkehren können. So kommen Langzeitsituationen (bzw. sogenannten protracted refugee situations) auf, die letztlich bedeuten, dass Geflüchtete über Jahre oder gar Jahrzehnte im Exil verbleiben müssen.
Besondere Aufmerksamkeit widmen Studien Gewaltgefahren im Kontext von Konflikt und Flucht. Zusätzlich zu konfliktbedingter Gewalt in Herkunftsregionen, die oft zur Flucht der Menschen beiträgt, weisen Analysen darauf hin, dass Risiken für Geflüchtete in Aufnahmeregionen anhalten können. So kann es mitunter zu militarisierter Gewalt in Aufnahmesituationen kommen, was insbesondere Aufnahmelager für Geflüchtete betrifft. Sie können militärisch angegriffen, als Stützpunkte, für (Zwangs-)Rekrutierungen oder auch als kurzfristige Ruheorte von Kombattanten ge- bzw. missbraucht werden. Diese Gefahren werden nicht nur in der Forschung diskutiert, sondern stellen seit Jahrzehnten einen zentralen Aspekt in humanitären und politischen Diskursen dar. UNHCR unterstrich beispielsweise bereits 1988:
“Persons flee their country and seek protection as refugees in order to survive. […] Over the last two decades, however, the security of refugees has been seriously endangered through physical attacks against their persons, deliberate military and armed attacks on their camps and settlements, militarization of their camps and their forcible recruitment into regular or irregular armed forces.”
Darüber hinaus weisen Forschende auf geschlechtsspezifische Gefahren hin. Sie machen deutlich, dass Mädchen und Frauen häufig sexuelle und andere Formen genderbasierter Gewalt erleiden sowie Jungen und Männer Zwangsrekrutierung durch Konfliktparteien erfahren, aber auch von weiteren Formen genderbasierter Gewalt betroffen sein können. Während bislang ein starker wissenschaftlicher Fokus auf Gefahren für geflüchtete Frauen und Mädchen gelegen hat, nehmen jüngst Analysen dieser Risiken für geflüchtete Männer und Jungen sowie LGBTIQ*-Personen zu.
Eine ausschließliche Schwerpunktsetzung auf diese Risiken kann jedoch dazu führen, dass Geflüchtete als hilflose, passive Opfer ohne eigene Handlungsmacht wahrgenommen werden. Doch Studien belegen überdies die vielfältigen Praktiken, die die Menschen sowohl individuell als auch in Kollektiven nutzen, um die meist prekären Verhältnisse zu bewältigen. Beispiele für solche Praktiken sind überaus divers. Sie reichen von der Besinnung auf den eigenen Glauben über solidarischen gegenseitigen Schutz bis hin zu vermeintlichen ‚Nicht-Handlungen‘ wie aktives Schweigen. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass konfliktbedingte Flucht und das zumeist über viele Jahre andauernde Leben im Exil mit Ungewissheit einhergeht. Die Menschen wissen selten, wie ihre Zukunft aussieht, was zu vielfältigen Herausforderungen führen, aber auch ein aktives Warten bedeuten kann.
Und welche Rolle spielt nun Frieden in Forschungsdebatten?
Selbstverständlich konnten wir die weitreichenden wissenschaftlichen Debatten nur exemplarisch nachzeichnen und vereinzelte Einblicke in zentrale Themen und Schwerpunkte geben. Doch bereits daraus wird deutlich, dass Forschungsdebatten bislang einen Fokus auf Konflikt und Gewalt legen, wobei Frieden nachrangig, wenn nicht gar weitgehend vernachlässigt bleibt.
In den wenigen Studien, die Frieden im Kontext von konfliktbedingter Flucht behandeln, geht es zumeist um Frieden als Notwendigkeit für die Rückkehr Geflüchteter in Herkunftsregionen. Vereinzelt wird dabei gefordert, dass der humanitäre Flüchtlingsschutz besser mit Maßnahmen der Friedensförderung verknüpft werden soll. Zudem befassen sich manche Studien mit Friedensprozessen und -verhandlungen und ihrer (fehlenden) Berücksichtigung von Geflüchteten sowie jüngst mit „peace education“ oder „peacebuilding education“ für Geflüchtete. Aus solchen Arbeiten entsteht tendenziell ein Bild, das Frieden einerseits auf Belange an Herkunftsorten reduziert und über das Geflüchtete andererseits erst unterrichtet werden müssten. Zuweilen wird Geflüchteten sogar ein gewisses Gefährdungspotential für Frieden und Friedensförderung zugesprochen, so etwa mit Blick auf „refugee warriors“. Darunter werden gemeinhin Geflüchtete erfasst, die Teil von Konfliktparteien sind oder sich gegen das an gewaltsamen Konflikten beteiligte Regime im Herkunftsland einsetzen.
Jüngst haben Megan Bradley, James Milner und Blair Peruniak einen Band zu „Refugees‘ Roles in Resolving Displacement and Building Peace: Beyond Beneficiaries“ herausgegeben, in dem die Autor*innen Praktiken Geflüchteter für Frieden aus unterschiedlichen Perspektiven reflektieren. Dennoch sind Forschungsarbeiten wie diese nur ein erster Schritt zum umfänglicheren Verständnis der Bedeutungen von Frieden für Geflüchtete. Denn nach wie vor bleibt weitgehend offen, wie Menschen, die aufgrund von gewaltsamen Konflikten geflohen sind und in Aufnahmeregionen leben, Frieden verstehen und zu Frieden beitragen. Es bleibt unklar, wie, wo und mit welchen Wirkungen sie dies vornehmen.
Im Gegensatz dazu sind vielfältige Studien in der Friedens- und Konfliktforschung erschienen. Sie belegen unter anderem, dass Frieden und Friedensförderung – ebenso wie Flucht – vergeschlechtlichte Prozesse darstellen, d.h. dass Menschen sie geschlechtsspezifisch wahrnehmen und entsprechende unterschiedliche Erfahrungen machen. Doch Studien in der Friedens- und Konfliktforschung haben Geflüchtete bisher kaum berücksichtigt.
Vor diesem Hintergrund offenbart sich Frieden mit den spezifischen Auffassungen und Praktiken geflüchteter Menschen eine Forschungslücke, die zukünftig mehr Aufmerksamkeit bedarf.
Quo Vadis?
An genau dieser Stelle knüpft ein aktuelles Forschungsprojekt zu „Frauen, Flucht – und Frieden? Friedensfördernde Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern“ an, das von der Deutschen Stiftung Friedensforschung gefördert wird. Im Projekt widmen wir uns explizit gendersensiblen Analysen dazu, was Geflüchtete und insbesondere Frauen unter Frieden verstehen, wie sie zu Frieden beitragen sowie welche Möglichkeiten und Herausforderungen sie in ihren friedensbezogenen Handlungen sehen. Aktuell bereiten wir die Datenerhebung vor, die wir primär im kenianischen Flüchtlingslager Kakuma, aber auch durch Forschung mit Geflüchteten in Deutschland durchführen werden. Mit den Daten und Ergebnissen werden wir zur Schließung bestehender Forschungslücken beitragen und den wissenschaftlichen Konflikt-Flucht-Nexus um Frieden ergänzen.