Die autoritär-populistische Grenze: Zur Wechselwirkung von Grenzpolitik und autoritär-rechter Wende

Ausgehend von den empirischen Befunden der kritischen Border Studies, dass auf den „langen Sommer der Migration“ 2015 ein „tiefer migrationspolitischer Winter“ gefolgt ist, womit Rechtsverstöße und Grenzgewalt zur neuen Normalität gehören, zeigt der Beitrag, dass verschärfte Grenzpolitiken die autoritär-rechte Wende in Europa vorantreiben. Der Grenze kommt nicht nur eine neue Bedeutung als Instrument der „Migrationssteuerung“ zu, sondern auch in der rechtspopulistischen Ideologieproduktion. Dadurch entsteht eine „autoritär-populistische Grenze“ mit weitgehenden symbolisch-politischen Wirkungen im Inneren europäischer Gesellschaften.

 

Die Aussage der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass „Abschottung im 21. Jahrhundert keine vernünftige Option sei“, mit der sie im Dezember 2015 lauter werdende Forderungen aus ihrer Partei nach Grenzschließungen gegen die anhaltenden Fluchtmigrationsbewegungen konterte, scheinen einer längst vergangenen Zeit anzugehören. Dem politischen EU-weiten Mantra folgend, ‚2015 dürfe sich nicht wiederholen‘, hat sich als kleinster gemeinsamer Nenner der EU-europäischen Asyl- und Migrationspolitik eine zunehmende Fetischisierung der Grenze als Instrument der Migrationssteuerung und der Abwehr der weltweiten Fluchtbewegungen herausgebildet. Während Migrationsforscher:innen das öffentliche Framing der Fluchtbewegungen 2015 als „größte europäische Flüchtlingskrise“ zurückgewiesen haben und deutlich machten, dass die Ereignisse eher eine bereits schwelende strukturelle Krise des EU-europäischen Migrations- und Asylpolitik offen legten, hat sich diese migrationspolitische Krise bis zum heutigen Tag fortgesetzt – mit dem Potential, neben Migrationsrechten auch die liberal demokratische Ordnung der europäischen Gesellschaften selbst anzugreifen und einen autoritären Staatsumbau zu forcieren.

So verkündeten bereits wenige Tage nach der Vorstellung der nach langen und zähen Verhandlungen zustande gekommenen  Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Juni 2024 mehrere Mitgliedsstaaten wie die Niederlande, Polen, die Slowakei oder Ungarn, dass sie Teile des Pakets nicht umzusetzen gedenken. Dabei trägt die GEAS-Reform mit ihren zentralen Neuerungen wie der „Rückkehrgrenzverfahrens-“ und der „Krisen-Verordnung“ bereits jenen restriktiven Positionen Rechnung, die ein Abschreckungsregime installieren und errungene menschen- und europarechtliche Standards für Fluchtmigrant:innen massiv abbauen wollen. Gerade das Screening- und Grenzverfahren mit der damit einhergehenden Ausweitung der Inhaftierung von Asylsuchenden und der Einschränkung zentraler Verfahrensrechte und Schutzstandards legalisiert dabei halblegale bis illiberale Praktiken, wie sie kritische Grenzforschungen seit 2016 als systematische Migrationskontrollpraktiken entlang der verschiedenen EU-Grenzräume beschreiben – einhergehend mit einer deutlichen Militarisierung und Aufrüstung von Grenzinfrastrukturen mit Zäunen, Drohnen, Fahrzeugen und anderen Grenztechnologien, begleitet von einer Explosion von Grenzgewalt und Pushbacks, einer Politik der Verelendung und Erschöpfung (politics of exhaustion), des aktiven Entzugs von Schutz und Hilfe und der Produktion erhöhter Risiken zu Tode zu kommen, wie es Forschende um Arshad Isakjee und Karolina Augustova für die Grenzregionen zwischen Kroatien – Bosnien/Herzegowina und Serbien als auch zwischen Frankreich und England in ihrem Beitrag „Liberal Violence and the Racial Borders of the European Union“ zeigen. In dem 11 Länder umfassenden Forschungsprojekt „RESPOND“ zur europäischen Governance der „Flüchtlingskrise“ sprechen wir Forschende von einer „expanding significance of borders for the European migration regime after 2015“.

 

Was macht die Grenze wirklich?

Dabei zeigen nicht nur zahllose empirische Forschungen, sondern schlicht die Zahlen – auch im internationalen Vergleich – dass die Aufrüstung der Grenze zwar Fluchtbewegungen verlangsamen oder umleiten mag, aber nicht stoppen. So berichteten uns Aktivist:innen auf einer Forschungsreise zum polnisch-belarussischen Grenzraum, die ich im Herbst 2022 zusammen mit Jens Adam unternahm, von mindestens 20 Wegen, den hochgerüsteten Grenzzaun zwischen den zwei Ländern zu überwinden. Auch in dieser Grenzregion führen hochgerüsteten Grenzanlagen vor allem dazu, die sozialen, psychischen, physischen und materiellen Kosten der Flucht in die Höhe zu treiben und den Weg für Schutzsuchende immer gefährlicher zu machen, mit 116 dokumentierten Toten (Stand März 2024) seit Beginn der „humanitären Krise“ entlang der polnisch-belarussischen Grenze im Sommer 2021. Auch Analysen der Auswirkungen der Abschreckungsstrategien entlang der US-mexikanischen Grenze, die bereits Mitte der 1990er Jahre einsetzten, demonstrieren diesen Befund, was Sarah Fan von „border fantasy“ oder „fetish“ sprechen lässt. So bleibt am Ende wieder zu fragen: Was ‚macht‘ die Grenze bzw. die Aufrüstung der Grenze wirklich, wenn sie das offiziell erklärte Ziel, Migrations- und Fluchtbewegungen aufzuhalten, trotz ihrer immensen Aufrüstung und der Normalisierung von Grenzgewalt sowie der Ausweitung von Sonderrechtszonen, von „grey zones“  bis hin zu „legal black holes“, nicht erreicht? Ähnlich formulierten es die Forscher*innen Claudio Minca und Alexandra Rijke in ihrem Aufsatz 2019: „We wonder whether these ‚assemblages‘ [border walls] are actually about migrants and refugees, or if they rather represent a spatial technology aimed at symbolically governing the body politic of the concerned country”.

Diese Frage brachte mich und Jens Adam in unserer Analyse der auch medial und diskursiv stark spektakularisierten polnischen Grenzpolitik unter der ehemaligen rechts-populistischen Regierungspartei PIS dazu, den Blick nicht so sehr, wie es die kritischen Border Studies bislang überwiegend taten, nach außen zu richten und die Grenze vis-à-vis den Bewegungen der Migration als „Transformationsregime“ von Rechten, als Technologie der Selektion, Filterung, Steuerung und Hierarchisierung zu beschreiben, sondern nach „innen“. Inspiriert von Debatten der Forschungsgruppe „Internalisierung von Grenze“, an der wir mitarbeiteten, fragten wir nach den „Internalisierungseffekten repressiver Grenzpolitiken“. Dabei verstanden wir den Grenzzaun nicht nur als Technologie des Migrationsregimes, sondern im Sinne von Nicolas De Genova’s Konzept des „border spectacle“ („Grenzspektakel“) als einen geeigneten bildgebenden performativen Ort, der „die ständige Produktion von Bedrohungs- und Angstszenarien sowie die Mobilisierung moralischer Gefühle“ erlaubt und nativistisch-nationale Imaginationen von Nation, race und Souveränität zu zirkulieren verhilft. Diese Spektakularisierung der Grenze als ikonographischer Ort der „bedrohten Nation“ und ihre Medialisierung und Nutzung in landesweiten Kampagnen bezeichneten wir als „Grenz-Nationalismus“, der sich bestens mit dem rechtspopulistisch-autoritären Staatsumbau der PIS Regierung verband und die weitere Aushöhlung des Rechtsstaats und den Abbau von Rechten legitimiert.

Dies knüpft an Analysen aus der Rechtspopulismus-Forschung an, die zeigen, wie nicht nur seit 2015 rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien eine grundlegende Anti-Migrationspolitik quer durch Europa ins Zentrum gestellt haben und hierüber in Wahlen zu ihrem jeweiligen nationalen und zum Europäischen Parlament hohen Stimmenzuwächse generierten. Vielmehr arbeiten sie auch heraus, wie die „Grenze“ im Zusammenhang mit dem Ruf nach Rückgewinnung nationaler Souveränität im oben beschriebenen Sinne eine zentrale Rolle in rechts-autoritären und rechtspopulistischen Narrativen und Programmatiken einnimmt. Aristotle Kallis spricht von „border sovereignity”, die den Ruf nach der ‚Rückeroberung der Kontrolle‘ im Namen einer, wie er es schreibt, sich radikal wieder völkisch definierenden Nation mit dem Versuchen verbindet, Macht und Einfluss im Sinne der „Bruchlinien“ der bestehenden nationalstaatlichen Ordnung zu re-territorialisieren und an den Nationalstaat zurückzubinden. Auch die politischen Geograf:innen Anna Casaglia, Raffaela Colleti, Christopher Lizotte, Claudia Minca sehen die Idee der Grenze als grundlegendes Element im rechts-populistischen Bestreben, den Raum nach dem Bild des Volkes umzugestalten. Zudem gäbe sie symbolisch wie praktisch einen hervorragenden Schauplatz ab, eine „populistischen Rückeroberung der Kontrolle“ in Szene zu setzen. James Scotts spricht in seiner Analyse des Orbanschen rechts-autoritären Staatsumbau Ungarns zu einer „illiberale Demokratie“ und der zentralen Position des Grenz-Narrativs hierbei von einem „populist border making“. In Anlehnung daran sehe ich Williams Walters genealogische Konzeptualisierung verschiedener historischer Grenzfigurationen folgend eine „autoritär-populistischen Grenze“ im Entstehen, die eine Verkettung von repressiven, grundlegend autoritär-rassistische Grenzpraktiken im Kontext des EU-europäischen Grenzregimes mit einem erstarkenden rechtspopulistischen hegemonialen Projekts in Europa ermöglicht: Sie ist weiterhin zu tiefst biopolitisch, doch im zugspitzten Maße mit einer Artikulationsabsicht und Wirkung ins Innere der Grenzen-Errichtenden Gesellschaften im Sinne ihrer autoritären-rassifizierenden Rekonfiguration.

 

Grenze und autoritäre Transformationen in Deutschland

Auch in Deutschland lässt sich seit 2022 eine Intensivierung einer Grenz-Debatte im öffentlichen-politischen Diskurs mit einer derartigen Wirkungsabsicht feststellen. Auch wenn der „Schutz der Grenze“ in Bezug auf die „EU-Außengrenze“ im politisch-medialen Migrationsdiskurs seit 2015 konjunkturell immer wieder einen zentralen Topos darstellte – oftmals im Umfeld von Schiffsunglücken oder im Zusammenhang mit innenpolitischen Debatten um „überforderte Kommunen“ und Aufnahmeinfrastrukturen – lässt sich seit wenigen Jahren eine weitere Verschiebung und Radikalisierung auch in Deutschland beobachten, wobei mittlerweile Grenzkontrollen nationalisiert (als Binnen-Grenzkontrollen) und als Frage der nationalen Sicherheit geframt werden. Dabei lässt sich zurückblickend feststellen, dass bereits seit 2022 vor allem die CDU unter ihrem neuen Vorsitzenden Merz eine geografische und zeitliche Ausweitung von Kontrollen an den deutschen (!) und damit Schengen-Binnengrenzen sowie eine Radikalisierung von Zurückweisungen bei jeder Gelegenheit als oberste migrations- und sicherheitspolitische Maxime in die öffentliche und politische Debatte einbrachte, wobei Friedrich Merz im März 2023 bereits von „Notstand“ sprach. Zusätzlich erhielt diese Debatte Nahrung durch eine Reihe tödlicher Übergriffe durch Personen mit Migrations- und Fluchthintergrund und die Ampelregierung führte im Oktober 2023 zusätzlich zu den Grenzkontrollen zu Österreich, die seit 2015 durchgehend bestehen, vorübergehende Kontrollen auch zu Polen, der Tschechischen Republik und der Schweiz nach Art. 25 Schengener Grenzcodex ein, die sie im Dezember 2023 um weitere sechs Monate mit dem Argument der Eindämmung von „Schleuserkriminalität“ und „irregulären Migration“ verlängerte. Obwohl die Asylantragszahlen 2024 stark sanken, die Gewerkschaft der Polizei flächendeckende Grenzkontrollen angesichts des hohen Personaleinsatzes für ineffektiv und letztlich nicht durchführbar erklärte und viele Rechtsexpert:innen in permanenten Grenzkontrollen und Zurückweisungen einen Verstoß gegen das Europarecht sahen, und sowohl Österreich als auch Polen Warnungen aussprachen, spitzte Merz die politische Debatte im Januar 2025 rechts-populistisch zu: So brachte er trotz signalisierter AFD-Zustimmung einen sogenannte 5-Punkte-Plan zur Migrationsabwehr in den Bundestag ein, und postulierte in Trumpscher Manier eines Regierens per executive order direkt nach der Wahl per Richtlinienkompetenz die Grenzen schließen und alle – auch Asylsuchende – zurückweisen lassen zu wollen. Auch wenn Hunderttausende aus der Zivilgesellschaft dies als rechtspopulistischen Dammbruch bezeichneten, wurde die CDU mit ihrer Programmatik nicht nur stärkste Partei, sondern ihre Forderungen fanden auch nahezu ungebrochen Einzug in die Koalitionsvereinbarungen.

Hiermit verlässt die neue CDU/SPD-Regierung das regelbasierte Gemeinsame Europäische Asylsystem, wie die Dublin-Verordnung, und votiert für eine nationalistische Lösung, womit sich die neue deutsche Koalitionsregierung in den Club jener (Mitte)-rechts-autoritär und populistisch regierten Länder Europas einreiht, die EU-Asylnormen unterlaufen und Urteile der europäischen Gerichtshöfe ignorieren. Sie läuft damit auch Gefahr, die europäische Migrations- und Grenzpolitik in die 1990er Jahre zurück zu katapultieren. Damals wurde bereits einmal über Jahre an der deutsch-polnisch und -tschechischen Grenze ein Grenzregime mit unzähligen Toten und Verletzten hochgerüstet, begleitet von einer rassistischen Mobilisierung der Gesellschaft, die als Baseballschläger-Jahre mit brennenden Flüchtlingsunterkünften und von Migrant:innen bewohnten Häusern in Erinnerung bleibt. Auch heute nehmen rassistisch und rechtsextrem motivierte Gewalttaten wieder zu. Die „Grenze“ als Apparatur, Narrativ und Ort von Bildproduktionen einer bedrohten, aber wehrhaften Nation leistet diesem politischen autoritären Driften Vorschub und legitimiert „Order statt Law“-Politiken.

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