Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien vom 3. Oktober 2017 stellt fest, dass Rückschiebungen in der Grenzzone der spanischen Enklave Melilla nach Marokko gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen. Die Entscheidung ist bedeutsam, weil sie die Abgrenzung von legitimem Grenzschutz und konventionswidrigen Praktiken betrifft. Und damit die zentrale Frage in der Regulierung von Migration überhaupt: Die nach dem rechtlichen Ausgleich zwischen staatlichem Souveränitätsinteresse und den Rechten der Migranten, welche durch Menschenrechtsverträge geschützt sind. Die Auslegung dieser menschenrechtlichen Normen und der Bedingungen, unter denen sie einen Staat binden, nimmt über den konkreten Fall hinaus an einer gerichts- und rechtsordnungsübergreifenden Bemühung teil, Kriterien eines gerechten Ausgleichs beider Seiten zu formulieren.
Im Einzelnen ist nichts in der Argumentation des Gerichtshofs völlig überraschend: Er bestätigt sein Verständnis der allenfalls auch extraterritorialen Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), und festigt auf schlüssige Weise seine Rechtsprechung zum Verbot der Kollektivausweisung nach Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls. Bemerkenswert ist, worauf der Gerichtshof kaum eingeht: Auf Spaniens Behauptung, es habe ein offizieller Grenzposten bereitgestanden, um dort Asylanträge zu stellen, und das spiele eine Rolle für die Bewertung der Rückschiebungen. Das Urteil hat das Potential, ein wichtiger Referenzpunkt in der europäischen und internationalen Diskussion um Migrationskontrolle zu werden. Zunächst ist abzuwarten, ob Spanien eine Verweisung an die Große Kammer beantragt; angesichts der grundsätzlichen Bedeutung hätte eine solche gute Chancen, angenommen zu werden.
Die Umstände des Falls
Die Grenzzone zwischen Marokko und dem spanischen Melilla umfasst drei Zäune in Höhe von zweimal sechs und einmal drei Metern. Die Zäune haben neben Stacheldraht zudem Sprungvorrichtungen; Infrarotkameras und Bewegungsmelder sollen zusätzlich verhindern, dass unbemerkt die Grenze überwunden wird. An dieser Grenze fanden nun die im Fall bewerteten Vorgänge statt: Die Antragssteller, N.D. und N.T., hatten am 13. August 2014 versucht, nach Melilla zu gelangen. N.D. ist malischer Staatsangehöriger, N.T. ist Staatsangehöriger der Elfenbeinküste. Den Versuch, über die Zäune zu gelangen, unternahmen sie gemeinsam mit über siebzig anderen Migranten. Sie wurden dabei von der spanischen Guardia Civil aufgegriffen und umgehend nach Marokko zurückgeführt, ohne dass man ihre Identität festgestellt hätte. In Marokko fuhr man sie, nachdem ihnen medizinische Behandlung verweigert worden war, 300 Kilometer ins Landesinnere nach Fez und lud sie dort ohne weitere Hilfe oder Versorgung ab. Dass der Fall vor den EGMR kam, hatte wesentlich damit zu tun, dass Journalisten vor Ort waren und die Vorgänge filmten; später konnten N.D. und N.T. auf diesen Aufnahmen identifiziert werden.
Anwendbarkeit der EMRK und Opfereigenschaft
Zunächst war zu klären, ob die Vorschriften der EMRK Anwendung finden, d.h. ob die Vorfälle unter spanische Hoheitsgewalt im Sinne des Artikel 1 EMRK fielen. Von den drei Zäunen stehen zwei auf marokkanischem Territorium und einer auf spanischem. N.D. hatte den dritten Zaun erklommen, N.T. wurde zwischen zweitem und drittem aufgegriffen – all das spielte aber keine Rolle, wie der Gerichtshof festhielt, da Spanien auch jenseits seines Territoriums bei der Rückführung Kontrolle über die betreffenden Personen und somit Hoheitsgewalt ausgeübt hatte (para. 53, 54).
Ebenso wies das Gericht den Einwand Spaniens zurück, es fehle an der Opfereigenschaft der Antragssteller, die für eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK notwendig ist. Die spanische Regierung hatte argumentiert, die Videoaufnahmen ließen eine Identifizierung nicht eindeutig zu, und selbst wenn die Antragssteller bei den betreffenden Rückführungen betroffen gewesen wären, hätte ihr erfolgreicher späterer Versuch, nach Spanien zu gelangen, die Opfereigenschaft beendet. Den zweiten Punkt tut das Gericht mit einem Satz ab: das spätere Gelangen nach Spanien ändere an der fraglichen Konventionsverletzung nichts. Darüber hinaus sieht das Gericht es als glaubhaft an, dass N.D. und N.T. an dem betreffenden Tag unter den gefilmten Personen waren. Dass keine genaue Dokumentation der damals rückgeschobenen Individuen stattgefunden habe, sei ja gerade Spanien anzulasten (para. 60).
Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung
Zentrale Frage war, ob Spanien mit der Behandlung von N.D. und N.T. das Verbot der Kollektivausweisung nach Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK verletzt hatte. Das Gericht betont zunächst den Zweck des Verbots: Staaten sollen nicht einfach eine ganze Gruppe von Personen von ihrem Territorium verweisen, ohne die jeweils individuellen Umstände der Person zur Kenntnis zu nehmen und ihr damit auch die Möglichkeit zu geben, mit ihren Argumenten Gehör zu finden (para. 99). Vorliegend handelte es sich ganz klar um eine Ausweisung, hält das Gericht fest (para. 105). Ob N.D. und N.T. bereits auf spanischem Hoheitsgebiet waren, ist für die Bewertung irrelevant, weil das Verbot der Kollektivausweisung auch die Behandlung an der Grenze und die Verweigerung des Zugangs zum Territorium umfasst (para. 104). Die Ausweisung hatte auch einen Kollektivcharakter, weil es keinerlei Identitätsfeststellung geschweige denn Gelegenheit zur Äußerung gab. N.D. und N.T. wurden in einer Gruppe von 75 bis 80 Personen zurückgeschoben, einzelne Umstände spielten dabei keine Rolle (para. 107).
Zu zwei Punkten äußerst sich der EGMR nicht – ein Schweigen, das verdient, festgehalten zu werden: Spanien hatte vorgebracht, das Verbot der Kollektivausweisung könne nicht verletzt sein, da die Beschwerdeführer auf illegale Weise versucht hatten, auf spanisches Territorium zu gelangen. Und das obwohl offizielle Grenzübergänge bereitstanden, an denen sie ihr Asylgesuch hätten vorbringen können (para. 74). Es gäbe kein Recht, auf jedwedem Wege das Hoheitsgebiet eines Staates zu erreichen (para. 79). Die Beschwerdeführer wandten dagegen ein, eine Möglichkeit Asyl zu beantragen, habe insbesondere für Personen aus sub-saharischen Staaten nicht bestanden. Am Grenzposten von Beni-Enzar, um den es dabei ging, war nach den Vorfällen, im November 2014, ein Büro für internationalen Schutz eröffnet worden. Wie auch der Menschenrechtskommissar des Europarats und der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge in ihren Stellungnahmen betonten, bestand die Möglichkeit eines Asylantrags also zum einen im August 2014 noch nicht, und zum anderen auch danach fast ausschließlich für syrische Flüchtlinge (para. 86). Eine solche Vorabklassifizierung nach Nationalität widerspricht – das sei unabhängig von diesem Fall angemerkt – dem Prinzip einer individuellen Prüfung, wie es in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) niedergelegt ist. Sie wird in den Bemühungen der Europäischen Union, ein „Sortieren“ von Asylsuchenden und Migranten bereits in nordafrikanischen Staaten vorzunehmen, weiter Thema sein; hier ist es wichtig, immer wieder das Recht auf Zugang zu einem individuellen Verfahren unabhängig von Nationalität zu betonen.
Wozu der EGMR auch in Klarheit schweigt sind Überlegungen, ob das Verbot der Kollektivausweisung „ausländischer Personen“ irgendeine Beschränkung bedeutet. Die Beschwerdeführer und intervenierende Parteien (para. 82, 90) hatten betont, dass der Art. 4 ZP 4 Personen unabhängig von ihrem Status als Flüchtlinge schützt. Das ist eigentlich schon vom Wortlaut eindeutig und selbst mit Blick auf den Flüchtlingsschutz notwendig, denn eine Entscheidung über den Status kann ja immer erst hinterher getroffen werden. Im vorliegenden Fall wurde den Beschwerdeführern in späteren Verfahren kein Flüchtlingsstatus zuerkannt. Dass dies für die Bewertung keine Rolle spielt, bestätigte der Gerichtshof, indem er gar nicht auf eine mögliche Beschränkung einging.
Neben der Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung stellte der Gerichtshof auch eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK fest.
„Neue Herausforderungen“
Der EGMR fügt in den Erwägungen die Formel ein, dass er die „neuen Herausforderungen“ zur Kenntnis nimmt (para. 101), die sich den europäischen Staaten bei der Migrationskontrolle aufgrund der „wirtschaftlichen Krise sowie sozialen und politischen Veränderungen in manchen Regionen Afrikas und des Nahen Ostens“ stellen. Diese Formel hatte der Gerichtshof bereits im Fall Khlaifia (dort para. 241) und im Fall Hirsi Jamaa (dort para. 176) verwendet. Damit betont er, dass er die Souveränitätsinteressen der Staaten sehr wohl sieht und beachtet – eine rhetorische Stütze, wenn anschließend klargestellt wird, dass diese Interessen eben dort ihre Grenze finden, wo ihre Verfolgung Individualrechte aus der Konvention verletzt. Andererseits suggeriert die Formel, dass allgemeine politischen Umstände Eingang in die Abwägung finden. Das ist insofern bedenklich, als „allgemeine politischen Umstände“ sich nicht als eindeutiger Wert ermitteln lassen, sondern stark von der kollektiven Wahrnehmung abhängen und damit den sich jeweils durchsetzenden öffentlichen Meinungen ausgesetzt sind. Gerichten allgemein obliegt es aber gerade, die Grundrechte Einzelner ungeachtet politischer Stimmungen der Mehrheit zu schützen.
„Leute wie wir“
Es geht bei dem Verbot der Kollektivausweisung um die notwendige Identifikation Einzelner. Aber auch bereits bei der Möglichkeit, eine Individualbeschwerde vorzubringen – hier ist es wichtig sich vor Augen zu führen, welche aktive Rolle Nichtregierungsorganisationen einnehmen müssen, damit eine entsprechende Konstellation überhaupt vor den EGMR kommt und geprüft werden kann. Um die notwendige Identifikation Einzelner geht es letztlich auch bei der Wahrnehmung eines solchen Falls in der demokratischen Öffentlichkeit: Er bietet Anlass, die Situation an den europäischen Außengrenzen in den Blick zu nehmen und sich mit Details auseinanderzusetzen, für deren Regelung nicht nur die spanischen, sondern letztlich die europäischen Bürgerinnen und Bürger Verantwortung tragen. Und als Individualbeschwerde verbindet der Fall dies nicht mit dem ausgewiesenen Kollektiv, sondern mit den einzelnen Personen, N.D. und N.T..
Jeweils 5000 Euro wurden den beiden Antragsstellern als Ausgleich des immateriellen Schadens letztlich zuerkannt. Dabei spielte ohne Frage eine Rolle, dass sie in einem weiteren Versuch erfolgreich nach Spanien gelangt und von dort nach einem Verfahren ausgewiesen worden waren. Die berechnete Schadenssumme orientierte sich demnach nicht an der Vorenthaltung eines Asylverfahrens, sondern an der Vorenthaltung zu diesem Zeitpunkt sowie an dem konventionswidrigen Umgang mit den Antragsstellern. Dass ich die Schadensberechnung hier zum Abschluss erwähne, hat mit dem kurzen und seltsamen Sondervotum des Richters Dmitry Dedov zu tun: Der stimmt in der Sache in allen Punkten zu, hält aber die 5000 Euro für übertrieben. Die Feststellung der Konventionsverletzung genüge, um dem immateriellen Schaden beizukommen, schließlich sei der Schaden nicht schwer. Dedov betont zur Begründung, dass die Antragssteller mit Gewalt und illegalerweise die Grenze überwunden hätten. Man solle sich doch bitte einmal in die Lage der Grenzbeamten versetzen, die „Leute wie wir“ (sic!) sind und Respekt verdienen.
Der Zusammenhang dieser Feststellung mit dem immateriellen Schaden der Antragssteller blieb mir verborgen. Dennoch verdeutlicht dieses bizarre Sondervotum zweierlei: Erstens, wie langlebig das falsche Argument „aber sie handelten illegal“ ist – trotz Pönalisierungsverbot des Artikel 31 (1) der Genfer Flüchtlingskonvention und selbst für einen Richter, der gerade zuvor mit der Mehrheit festgestellt hat, dass keine legale Möglichkeiten bestanden, einen Asylantrag zu stellen. Und zweitens, dass es wert ist, sich jenseits aller rechtlichen Fragen zu erinnern, dass auch die Migranten, seien sie nun schutzberechtigt nach dem internationalen Recht oder nicht, „Leute wie wir“ sind.
Dieser Beitrag erscheint auch im Verfassungsblog.
Photo Credits:
(c) Michael Coghlan