Die Konstruktion eines Orakels. Von der Prophezeiung eines afrikanischen Ansturms auf Europa.

Überzogene Vorhersagen zur Migration aus Afrika sind derzeit im Trend. François Héran zeigt auf, dass sie nicht so sehr auf einer demografischen Analyse, als vielmehr auf wirtschaftsbasierten Spekulationen und einem Trugschluss fußen: Die Entwicklung Afrikas könne sich nur zu Lasten Europas vollziehen.

Der französische Titel La Ruée vers l’Europe (Ansturm auf Europa) und der deutsche Nach Europa! des Buchs von Stephen Smith nehmen sich nicht viel. Auch wenn die reißerischen Ankündigungen sich etwas unterscheiden, so vermitteln doch beide gut die Kernthese des Essayisten Stephen Smith: „Das junge Afrika macht sich unerbittlich auf den Weg zum alten Kontinent“ (S. 18). In der französischen Version heißt es: „das junge Afrika wird sich über den alten Kontinent ergießen; das liegt in der Natur der Dinge“ (übers. S. 15). Smith spricht in Anführungsstrichen auch von einem „Ansturm auf Europa“ (S. 133 und 215) sowie einem „run auf Europa“ (S. 223). Die These eines unabänderlichen demografischen Determinismus bleibt die gleiche.

Für Smith lassen sich dazu zwei Vorläufer heranziehen: Der Exodus armer Europäer in die Neue Welt am Ende des 19. Jahrhunderts sowie die Masseneinwanderung von Mexikanern in die Vereinigten Staaten seit den 1970er Jahren. Folgt Afrika dem mexikanischen Beispiel, sollten bis 2050 „in etwas mehr als 30 Jahren ein Fünftel bis ein Viertel der europäischen Bevölkerung afrikanischen Ursprungs sein“ (übers. S. 18). Der der deutschen Öffentlichkeit vermeintlich zugemutete Anteil sei, folgt man der deutschen Fassung des Buches, noch höher: „In etwas mehr als 30 Jahren wäre dann ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung in Europa afrikanischer Abstammung“ (S. 21). Ein aufschlussreicher Unterschied, was den sehr speziellen Umgang des Autors mit Zahlen betrifft.

In einem Interview mit dem Figaro am 14. September 2018 wundert sich Stephen Smith, dass seine Aussagen, wie ich in einer kürzlich erschienenen Analyse aufzeige, als überzogen bewertet werden können. Seine Vorhersagen mit zahlengestützten Argumenten widerlegen zu wollen, käme der Verteufelung seines Buches gleich und hätte zum Ziel, die Debatte im Keim zu ersticken. Meine Intention ist es im Gegenteil, genau diese zu eröffnen. Es steht genug auf dem Spiel, dass man sich die Mühe machen sollte, Methoden, Hypothesen und Grundlagen einer Prophezeiung zu untersuchen, deren Anziehungskraft darin besteht reißerisch zu sein.

Denn die von Smith genannten Zahlen haben direkt ins Ziel getroffen: In einem Interview vom 15. April 2018 rechtfertigte der französische Präsident Emmanuel Macron seine restriktive Einwanderungspolitik mit dem Verweis auf die demografische „Bombe“ Afrika, die in Smiths Werk „vorzüglich beschrieben“ sei. Verschiedentlich haben Intellektuelle und Politiker von Mitte-links bis an den rechten Rand sein Katastrophenszenario für die Forderung an die Politik herangezogen, dem scheinbaren Zustrom von Migranten gegenüber ihrer Verantwortung nachzukommen.

Der Zustrom ist unvermeidlich – wenn…

Man muss bis zu den Seiten 133 und 138 des Buches vordringen um festzustellen, dass die Ankündigung eines Ansturms aus dem subsaharischen Afrika auf das alte Europa nur unter „zwei wesentlichen Bedingungen“ stattfinden kann: Die Region muss innerhalb von etwas mehr als dreißig Jahren die Armut besiegen und ihre Diaspora muss Zeit haben, sich zu entwickeln. So stellt man fest – ich komme darauf zurück –, dass die Prophezeiung einer Afrikanisierung Europas eher auf ökonomischen Mutmaßungen als auf Vorhersagen zur Bevölkerungsentwicklung beruht. Smith weiß sehr gut, dass die alle zwei Jahre aktualisierten Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen zwar von einer Verdopplung der Bevölkerung südlich der Sahara bis 2050 ausgehen (dem mittleren Szenario zufolge steigt sie von derzeit 900 Millionen auf 2,2 Milliarden). Dies reicht für den angekündigten Zustrom allerdings nicht aus. Dazu bräuchte es wirkungsmächtigere Mechanismen. Smith oktroyiert seiner Analyse deshalb von vornherein ein Endresultat auf, das den Beweis schuldig bleibt: Sofern Subsahara-Afrika in weniger als 30 Jahren das Entwicklungsniveau Mexikos erreicht, würden dessen Bewohner im gleichen Maße auswandern wie die Mexikaner – so seine Annahme.

Dabei lässt er außer Acht, dass das Afrika südlich der Sahara eben nicht Mexiko ist – nicht einmal Mexiko vor 30 Jahren – und dass es zwischen Ouagadougou oder Niamey und Mexiko-Stadt oder Guadalajara nicht viele Gemeinsamkeiten gibt. Wenn man den Index der menschlichen Entwicklung auf einer Skala von 1 bis 10 anordnet, wie ich dies in der bereits zitierten Studie getan habe, findet sich die Mehrheit der Länder südlich der Sahara derzeit bei 1, Mexiko auf Stufe 6, Frankreich bei 9 und die Vereinigten Staaten oder Deutschland auf Stufe 10. So massiv wie die Migration zwischen Ländern der Entwicklungsstufen 6 und 10 ist (dies betrifft eine Diaspora von 25 Millionen Menschen), so begrenzt ist jene zwischen den Entwicklungsstufen 1 und 9 bzw. 10 (weniger als 2,3 Millionen Menschen). Ist wirklich anzunehmen, dass Subsahara-Afrika bis 2050 im Eilschritt mehrere Entwicklungsstufen überspringen und das derzeitige Niveau Mexikos erreicht haben wird?

Das Unbekannte über das Bekannte verständlich machen

Eine Widerlegung des Vergleichs mit der Migration aus Europa nach Amerika kann man sich fast sparen, so sehr unterscheiden sich die Anziehungsfaktoren der Neuen Welt im 19. von denen Europas im 21. Jahrhundert. Dagegen lohnt ein genauerer Blick auf die Parallelen zu Mexiko, da sie für die Methodik des Autors im Hinblick auf Verweise und Argumentation bezeichnend sind. Die herangezogenen Quellen, Millman und Douthat (siehe Smith 2018: 21), beziehen sich keinesfalls auf wissenschaftliche Arbeiten. Im ersten Fall handelt es sich vielmehr um einen von Millman im Mai 2015 in der Zeitschrift Politico veröffentlichten Leitartikel, im zweiten um einen im August 2015 in der New York Times veröffentlichten Kommentar von Ross Douthat. Aus einem durchaus lohnenden Vergleich beider Texte ergibt sich, dass Smiths ausführlich beschriebene Analogie mit Mexiko Formulierungen Millmans repliziert, ohne diese als Zitate kenntlich zu machen. Ross Douthat, der regelmäßig Kommentare zu allen möglichen Themen verfasst, wird lediglich zitiert, weil er Millman zitiert.

Am Ende seines Buches erklärt Smith, dass die europäische Politik mit ihrem Festhalten am veralteten Konzept der Entwicklungszusammenarbeit „dazu führen [kann], dass aus dem Zufluss afrikanischer Migranten nach Europa ein ‚Ansturm‘ wird“ (S. 215). Zur Überraschung des Lesers ist der demografische Determinismus, welcher zu Beginn des Buches mit so viel Überzeugung vertreten wurde, nicht mehr unausweichlich. Doch nur wenige kommen an diesen Punkt. Den meisten bleibt die Botschaft des Titels im Kopf: Das Schlimmste wird eintreten, Afrika setzt zum Sturm auf Europa an.

Smith weiß, dass, global gesehen, der Großteil der Migranten nicht aus den ärmsten Ländern kommt (S. 143). Er weiß, dass die Menschen südlich der Sahara überhaupt nicht über die Ressourcen für eine Massenemigration verfügen. Ihm ist bewusst, dass die Entwicklungszusammenarbeit die Auswanderung aller Wahrscheinlichkeit nach erst befeuern wird, anstatt sie einzudämmen – eine Erkenntnis, die ihm in einigen Kommentaren zugeschrieben wird, als wäre das der Entwicklungsökonomie nicht seit langem bekannt. Doch Smiths Wissen zum Thema stammt aus zweiter Hand. Ausführlich zitiert er einen Leitartikel von Jeremy Harding, einer der Chefredakteure des London Review of Books und Autor einer Reportage zu Grenzüberquerungen (S. 143). Es finden sich in Smiths Essay einige Verweise auf den aktuellen Forschungsstand, die allerdings auf indirektem, hauptsächlich journalistischem oder literarischem Weg einfließen. Hier liegt aber nicht das Problem, sondern vielmehr in der Tatsache, dass Smith den Forschungsstand da außer Acht lässt, wo er sich für Subsahara-Afrika einen beschleunigten Ausstieg aus der Armut vorstellt, was dann den Strom der Migranten speist.

Lücken in den Quellen und Verweisen

Einem erfahrenen Afrika-Spezialisten erscheinen die herangezogenen Quellen lückenhaft und veraltet. So vertritt Smith die Annahme, dass die Demografen vor der Entwicklung der Geburtenraten in Afrika die Augen verschlossen hätten. In meiner Studie in La Vie des idées zitiere ich zahlreiche Forschende (Caldwell, Tabutin, Schoumaker, Leridon, Casterline etc.), die seit den 1990er Jahren auf die Blockierung des demografischen Wandels in Afrika und den bestehenden Zusammenhang mit der Unterentwicklung verweisen. Blindheit der Demografie? Doch wohl eher des Autors, der keine dieser überaus zugänglichen Publikationen aufgreift.

Smith misst den Umfragen des Gallup-Instituts zu Migrationsvorhaben, denen zufolge über ein Drittel der Menschen südlich der Sahara ihr Heimatland verlassen möchten, große Bedeutung bei. Dabei zitiert er, über einen Artikel einer französischen Tageszeitung, ohne Gegenprüfung der Daten aus zweiter Hand. Es ist jedoch wichtig, die Fragestellung einzubeziehen: „Wenn Sie im Idealfall die Möglichkeit hätten, würden Sie sich dauerhaft in einem anderen Land niederlassen oder weiterhin hier leben wollen?“. Mit der Frage, ob dies in den nächsten 12 Monaten passieren solle, oder nach bereits begonnenen Vorbereitungen, sinkt die Zustimmungsrate auf unter fünf Prozent. Somit ergibt sich eine große Diskrepanz zwischen Traum und Realität. Auch die italienischen Forscher, die von der Europäischen Kommission mit der Auswertung der Daten aus diesen Umfragen beauftragt waren, kamen zum gleichen Schluss: Der von Gallup auf dieser Grundlage entwickelte Index zum Migrationspotential hat keinerlei Voraussagekraft.

Die Datenbank zur bilateralen Migration: Absage an das Modell der kommunizierenden Gefäße

Die eklatanteste Schwachstelle in Smiths Essay ist der fehlende Verweis auf eine der wichtigsten Quellen zur Migrationslage weltweit, die Online-Datenbank der Weltbank zu bilateraler Migration, die seit etwa 15 Jahren von OECD, Weltbank und Internationalem Währungsfonds erstellt wird und die ich für die Monatszeitschrift Population & Societies zu Rate gezogen habe, wie viele andere Forschende auch. Es handelt sich um eine Tabelle aus 215 Zeilen und 215 Spalten, die für jedes Land die Anzahl der im Ausland lebenden Bürger, also 266 Millionen Migranten von insgesamt 7,7 Milliarden Menschen, verzeichnet. Die Kohärenz der Gesamtübersicht lässt sich über den systematischen Abgleich von Herkunfts- und Zielländern prüfen.

Um einzelne Länder oder Länderdifferenzen darzustellen, kann die Datenbank um eine Reihe an Indikatoren erweitert werden, beispielsweise um nach Geschlecht oder Alter geordnete Wachstumsraten, basierend auf den Bevölkerungsprojektionen der Vereinten Nationen. Ein solcher Ansatz mag arbeitsintensiver sein als die Lektüre politischer Kommentare oder literarischer Leitartikel, doch er resultiert am Ende in einem den Wirtschaftswissenschaften und der Demografie hinlänglich bekannten Fazit: Das Modell der kommunizierenden Gefäße funktioniert nicht. Die Vorstellung einer Migration aus den geburtenstärksten in die geburtenärmsten Länder, aus den ärmsten in die reichsten, aus den am dichtesten in die am dünnsten bevölkerten, aus den Tropen in gemäßigte Zonen und schließlich aus den jüngsten in die ältesten Länder, wie es der Untertitel des Buches suggeriert, ist schlicht falsch. Wie oft habe ich lesen müssen, dass der hohe Bevölkerungsdruck unausweichlich in die Gebiete mit dem niedrigsten Druck entweichen würde! Leider ist die Bildhaftigkeit einer Metapher kein Garant dafür, dass sie auch richtig ist. Denn die tatsächlichen Migrationsbewegungen lassen sich über das Bild des vollen, bald überbordenden Gefäßes nicht abbilden. Den höchsten Anteil an der Migration in die reichsten Länder haben eher mittelgroße Länder oder Regionen mit mittleren Einkommen: Mexiko, die Türkei, der Maghreb, der Balkan, Zentralasien. Vor allem aber handelt es sich um Länder mit einem starken Geburtenabfall, was auf Subsahara-Afrika derzeit keinesfalls zutrifft.

Ökonomische Spekulationen anstelle demografischer Analysen

Sofern die derzeitigen Emigrationsfaktoren bestehen bleiben, kann – über den Abgleich der internationalen Datenbank zur bilateralen Migration nach Generationen mit den Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen für 2050 – das Gewicht der Migration in den Aufnahmeländern abgeschätzt werden. Genau dies habe ich für Population & Societies untersucht. Daraus ergibt sich für 2050 eine Anzahl Migranten aus Subsahara-Afrika, die wesentlich niedriger – etwa fünfmal geringer – ist als die von Smith ins Spiel gebrachte (ca. 2,4% des Europäischen Bevölkerung, statt 25% in Smiths Version). Was bedeutet diese Differenz? Eigentlich nur, dass das Szenario eines Zustroms von Migranten aus Afrika südlich der Sahara nach Europa im Wesentlichen nicht auf einem demografischen Determinismus, sondern vielmehr auf hochgradig unsicheren Hypothesen zur wirtschaftlichen Entwicklung basiert. Die demografiebasierte Argumentation, auf die der Untertitel des Buches „Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“ und die Einleitung „Von den Höhen der Alterspyramide“ verweisen, ist für die Konstruktion dieser Prophezeiung überaus nebensächlich. Zu Recht, denn eine Analyse der verfügbaren Daten fehlt bei Smith vollkommen.

Meine Schätzungen für 2050 bewegen sich etwa in der gleichen Größenordnung wie die zweier umfassender Auswertungen der internationalen Datenbank zur bilateralen Migration durch den Internationalen Währungsfonds und die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission. Smith zitiert die erste Untersuchung, ohne allerdings auf die Tatsache einzugehen, dass der Anstieg der Migranten aus Afrika südlich der Sahara, die den Kontinent verlassen haben, seit den Volkszählungen aus dem Jahr 2000 im Wesentlichen dem Bevölkerungswachstum entspricht. Proportional dazu hat sich der Anteil an Migranten, die in anderen Ländern der Region bleiben, seit 1990 wenig verändert: etwa drei Viertel (derzeit 70 % gegenüber nur 15 %, die nach Europa gehen). Die innerafrikanische Migration dürfte, auch im Zuge des Abkommens zur Personenfreizügigkeit, welches 27 afrikanische Länder im März 2018 unterzeichnet haben, steigen.

Smith ist sich zwar im Klaren, dass extreme Armut keinen Migrationsfaktor darstellt, er nährt nichtsdestotrotz weiterhin Varianten des Mythos der kommunizierenden Gefäße, insbesondere, wenn er auf den unnachgiebigen Druck zu sprechen kommt, den die Mehrheit der ungeduldig ihre Emanzipation herbeisehnenden Jungen auf alternde Gesellschaften ausübe. Er geht soweit zu suggerieren, dass die europäischen Gesellschaften, die aufgrund der Alterung ihrer Bevölkerung ihre Rentensysteme nicht mehr finanzieren könnten, sich einzig einem Dilemma gegenübersähen: ihre Grenzen mit dem Risiko des eigenen Untergangs zu schließen oder sie, auf die Gefahr hin, unter der Masse afrikanischer Beitragszahler nachzugeben, zu öffnen. So „muss er [der alte Kontinent] akzeptieren, dass ein Viertel der Einwohner Europas im Jahr 2050 junge ‚Afrikaner‘ sein werden, wenn er seine Sozialsysteme auch nur auf einem Mindeststandard halten will?“ (S. 172). Der französische Text spricht sogar davon, dass die europäische Bevölkerung der unter Dreißigjährigen 2050 zur Hälfte „afrikanisch“ sein wird! (S. 180). Smith zitiert hier den Bericht der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen zur „Bestandserhaltungsmigration“, der regelmäßig von den Vertretern der These des „großen Bevölkerungsaustauschs“ angeführt wird. 

Weder alarmieren noch beschwichtigen. Fakten darstellen.

Glaubt man steif und fest an das Szenario einer massiven, ungeordneten Zuwanderung aus dem Süden, stellt sich nur noch die Frage, wieviel Zeit noch bleibt, ihr den Weg zu versperren. In einer derartig konstruierten Debatte kann Smith sich ein Zögern erlauben: Die Politik hat noch einen Spielraum, doch die Zeit läuft ab. Nur ein für die Argumentation zentraler Punkt ist sicher: Was die Entwicklung anbelangt, „werden die guten Nachrichten aus Afrika schlechte Nachrichten für Europa sein“ (S. 215). Es scheint bei Smith ganz so, als wenn jeder der beiden Kontinente nur auf Kosten des anderen überleben könne. Ein neapolitanischer Brauch besagt, dass man niemandem ein frohes neues Jahr wünschen kann, ohne gleichzeitig jemand anderem heimlich ein schlechtes zu wünschen. Und genau hier liegt der Schlüssel des Buches: nicht in der rigorosen Darstellung eines demografischen Automatismus, sondern in einer spekulativen Wirtschaftsprognose, die mit ihrer Annahme einer beschleunigten Steigerung des Entwicklungsniveaus innerhalb von 30 Jahren für Afrika in dem Maße optimistisch wie sie für Europa katastrophal ist.

Die Demografie ähnelt der Musik: Sie zieht viele Amateure an, doch nur wenige können eine Partitur lesen. Im vorliegenden Fall besteht ein Irrtum hinsichtlich der Spielart selbst, die sich aus ökonomischen Spekulationen und einer auf Sensation ausgerichteten Kommunikation zusammensetzt, nicht jedoch aus einer demografiebasierten Beweisführung. Angesichts der Furcht vor der zahlenmäßigen Überflutung, einer fälschlicherweise objektiv scheinenden Variante der Angst vor dem Fremden, hat die Demografie die Pflicht, die Öffentlichkeit in Bezug auf die tatsächliche Größenordnung von Einwanderungsbewegungen aufzuklären. Sie hat ferner die Art der angewandten Hypothesen sowie die ihnen unterliegenden Vorurteile herauszuarbeiten. Ziel der Demografie ist es, entgegen einer weitverbreiteten Vorstellung, weder zu beschwichtigen, noch zu alarmieren. Sie will das Ausmaß der Dinge vielmehr über deren tatsächliche Dimensionen erfassen, der einzige Weg, langfristig einer klarsichtigen Politik den richtigen Weg zu weisen. Übertriebene Metaphern finden in der öffentlichen Meinung leicht Anklang. In diesen wirren Zeiten erfordert eine echte Verantwortungsethik von der Presse wie von der Politik allerdings, sich nicht von falschen Prophezeiungen im Mantel des wissenschaftlichen Diskurses beirren zu lassen.

Der Beitrag ist die gekürzte und veränderte Fassung eines Essays, der am 18. September 2018 in der Zeitschrift La Vie des Idées und auf der Internetseite des Institut des migrations (CNRS, Collège de France) im Französischen veröffentlicht wurde.

Übersetzung: Simone Gruhl, Berlin.

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