Die Machtübergabe an die Taliban. Ein Kommentar zum fehlerhaften internationalen Schutz für Geflüchtete

Der Abzug der westlichen Streitkräfte aus Afghanistan versetzte die Taliban in die Lage, die Macht binnen kurzer Zeit zu übernehmen. Die Taliban-Bewegung bemüht sich um ein Image, das ihr im Gegensatz zu ihrem Paria-Status in den 1990er Jahren internationale Anerkennung verschaffen würde. Die Situation der afghanischen Bevölkerung ist jedoch äußerst prekär – und das in einem allgemeinen internationalen Flüchtlingsregime, in dem die Asylsuche immer schwieriger wird.

 

Prekäre Entwicklungen in Afghanistan

Nach 20 Jahren teuer und bitterer militärischer Besatzung unter Führung der USA zur Errichtung eines säkularen Regimes mit einsatzfähigen Sicherheitskräften beherrschen die Taliban nun ganz Afghanistan. Nachdem die Trump-Administration und die Taliban im Februar 2020 in Doha eine Vereinbarung über den endgültigen Truppenabzug aus Afghanistan unterzeichnet hatten, kündigte Präsident Biden im Frühjahr 2021 an, dass er den Abzug bis zum 31. August weiterführen werde. Hier sollte nicht vergessen werden, dass sich die Taliban den Weg zu Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten über einen Truppenabzug durch unerbittliche bewaffnete Angriffe freigemacht haben. Zum Beispiel die 2018 Offensive in der Provinz Ghazni, bei der die Taliban einen wichtigen Armeestützpunkt einnahmen, war Teil größerer koordinierter Bemühungen der Taliban, nach und nach Provinzen einzunehmen. Zwischen Mai und Mitte August 2021 haben sich die Taliban schnell mobilisiert, Kontrollpunkte entlang strategischer Routen eingerichtet und ohne großen Widerstand die Kontrolle über das gesamte Land gewonnen. Laut einer Umfrage der Asia Foundation aus dem Jahr 2019 äußert nur eine kleine Minderheit der Befragten (13,4 %, überwiegend Paschtunen) Sympathie für die Taliban, was u.a. auf die drückende Armut im Land, die wahrgenommene tiefe Korruption in den öffentlichen Einrichtungen und deren Unfähigkeit, das Land zu verwalten, zurückzuführen ist.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die Taliban keine ethno-nationalistische Gruppe der Paschtunen sind und auch nie waren, auch wenn eine große Mehrheit ihrer Kämpfer es ist. Anders als in den 1990er Jahren, als die Eroberungen der nicht-paschtunischen Regionen im Norden des Landes besonders gewalttätig waren, versuchen sie jetzt, ihre nationale Basis zu verbreitern, indem sie andere ethnische Gruppen, insbesondere Tadschiken und Usbeken, rekrutieren. Dies ist ein bemerkenswerter Unterschied zur politischen Landschaft Afghanistans, in der die ethnische Dimension oft ein wichtiger Nenner ist. Die Taliban versuchen nun, eine nationale Basis zu errichten, was zum Teil auch ihren raschen Vormarsch im Norden des Landes erklären könnte. Dennoch bleibt ein Großteil der afghanischen Bevölkerung besorgt darüber, wie es weitergehen soll, jetzt wo die Taliban die Kontrolle haben. Angesichts der bereits alarmierenden humanitären Lage – fast 3,5 Millionen Binnenvertriebene leben unter prekären Bedingungen, die durch den COVID noch verschärft wurden – ist zu befürchten, dass sich die Situation in den kommenden Monaten und Wochen weiter verschlechtern wird.

Abgesehen von der geopolitischen Bedeutung dieser Wende für Länder wie China, Iran, Pakistan, Russland oder die Türkei und dem abnehmenden Einfluss der USA und der NATO im Allgemeinen in der Region bin ich als Migrationsforscher vor allem über die unmittelbare Panik und das Chaos besorgt, die die Bevölkerung erlebt. Die Bilder von Afghan*innen, die mit allen Mitteln versuchen, aus dem Land zu fliehen, sogar indem sie sich auf dem Flughafen von Kabul an Flugzeuge klammern, sind erschütternd. Aber in diesen beängstigenden Zeiten können sie fast noch als die Glücklicheren betrachten werden, denn sie haben es zumindest geschafft, den Kabuler Flughafen zu erreichen. Afghan*innen, die in Kandahar (der Taliban-Hochburg), Herat oder Mazar-i-Sharif leben, haben deutlich geringere Chancen, ihre Stadt zu verlassen und an den Flughafen zu gelangen. In diesen Regionen kontrollierten die Taliban nicht nur die Städte, sondern auch die Straßen dorthin und aus ihnen heraus durch mehrere Checkpoints.

 

International unzureichende Reaktionen

Die Situation ist äußerst besorgniserregend, denn zahlreichen Afghan*innen, die mit den US-geführten NATO-Truppen zusammengearbeitet haben, sowie Frauen und Mädchen, Journalist*innen, Aktivist*innen, die an das Versprechen der Gleichberechtigung geglaubt haben, wurden einfach einem Regime ausgeliefert wurden, das eine lange Aufzeichnung systematischer Gewalt und öffentlicher Hinrichtungen, körperlicher Bestrafung und der extremen Unterdrückung von Grundfreiheiten aufweist. In dieser Hinsicht hat die internationale Gemeinschaft ihre Augen fast ausschließlich auf Kabul fixiert. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, Bilder und Berichte über die Lage in den Gebieten fern von Kabul zu erhalten, wo die Veränderungen wahrscheinlich noch viel radikaler sind. Zugegeben, es bleibt ungewiss, ob die Taliban von heute dieselben sind wie die Taliban von 1996. Sie versuchen, die Bevölkerung und den Rest der Welt zu beruhigen, indem sie z. B. erklären, dass sie sich nicht an denjenigen rächen werden, die in der Armee der Regierung des gestürzten Regimes gearbeitet haben oder dass sie es Frauen erlauben würden, weiter zu arbeiten.

Als eines der ärmsten Länder der Welt können sich die Taliban nicht leisten, sich völlig von der internationalen Staatengemeinschaft zu entfremden und damit jede Möglichkeit der internationalen Entwicklungshilfe auszuschließen. In diesem Zusammenhang haben die Taliban auch China versprochen, dass sie seine wirtschaftlichen Interessen in Afghanistan nicht angreifen werden, einschließlich seiner Investitionen in Minen und das massive Infrastrukturprogramm der “Belt and Road Initiative”. Darüber hinaus befürchtet China, dass Afghanistan zu einem sicheren Paradies für uigurische Kämpfer wird, die dann ihre Anschläge organisieren könnten. Der Taliban-Anführer Abdulghani Baradar hat versprochen, dass dieses Problem nicht auftreten wird. Im Gegenzug hat China das Taliban-Regime schnell begrüßt, um seine Interessen in Afghanistan zu wahren, völlig unbesorgt um die Rechte und die Sicherheit des afghanischen Volkes. Außerdem erklärte Suhail Shaheen, der Sprecher der Taliban, von Katar aus, die Taliban wollten eine Regierung bilden, in der alle Afghan*innen vertreten seien. Die Frage ist, wie glaubwürdig diese dargestellte Mäßigung ist.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die derzeitige Version der Taliban viel geschickter im Umgang mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit ist, sicherlich unterstützt von Katar, dessen Hauptstadt Doha seit langem ihr politisches Büro beherbergt und das die Friedensverhandlungen mit der Trump-Regierung erleichtert hat. Der Spielplan der Taliban besteht darin, internationale Anerkennung zu erlangen, was jedoch keine Garantie dafür ist, dass das Regime keine Übergriffe gegen die Bevölkerung begeht. Es gibt bereits Berichte internationaler Organisationen über die Brutalität der Bewegung insbesondere in den von Kabul entfernten Gebieten. Eine weitere Vertreibung der Bevölkerung, auch außerhalb des Landes, ist nach wie vor sehr wahrscheinlich.

Leider waren viele Erklärungen von Ländern, die Ressourcen mobilisieren könnten, um internationalen Schutz zu bieten, besorgniserregend. So bereitet sich die Türkei bereits auf eine massive Zuflucht von Afghan*innen vor und hat in den letzten Jahren begonnen, eine Mauer entlang ihrer Grenze zum Iran und Irak zu bauen, um die Durchreise von Afghan*innen zu verhindern. In diesem Zusammenhang erwägen viele EU-Mitgliedstaaten eine Ausweitung des EU-Türkei-Abkommens, indem sie zusätzliche Mittel überweisen, um die Weiterwanderung von Afghan*innen nach Europa zu verhindern.

In der Zwischenzeit haben die USA, Kanada und das Vereinigte Königreich zugesagt, jeweils 22.000 Afghan*innen aufzunehmen, während Deutschland erklärte, einen Evakuierungsplan für 10.000 Personen durchzuführen. In keinem dieser Fälle wurde jedoch ein genauer Zeitraum definiert und offengelegt. Was Frankreich betrifft, so hat Präsident Macron in seiner Rede am 16. August erklärt, dass „wir uns vor den Migrationsströmen schützen müssen“, was eine Umkehrung der Vulnerabilität ist.

Nicht Europa oder Frankreich sind durch afghanische Migrant*innen bedroht, sondern die afghanische Bevölkerung ist von einem brutalen Regime mit möglichen Verbindungen zu Al-Qaida bedroht. Es sind die Afghan*innen, die sich in einer Krise befinden und nicht Europa. Erst wenn die westlichen Länder diese Sichtweise vollständig ablehnen, kann die internationale Gemeinschaft damit beginnen, humane, pragmatische und angemessene Lösungen für Bevölkerungsgruppen zu diskutieren, die internationalen Schutz benötigen.

In Deutschland scheint der Slogan der CDU „2015 nie wieder“ in der Situation in Afghanistan ein neues Echo zu finden: Laschet plädierte dafür, die Afghan*innen in der Region, insbesondere in Pakistan und im Iran, zu unterstützen, anstatt zu signalisieren, dass Deutschland sie aufnehmen würde. Das Problem dabei ist, dass hier eine direkte Umsiedlung nie in Betracht gezogen wird. Diese Erklärungen und begrenzten Angebote zur Umsiedlung sind unzureichend, weil es immer noch an einer koordinierten und raschen internationalen Reaktion fehlt, um einer gefährdeten und bedrohten Bevölkerung internationalen Schutz zu bieten. Umso tragischer ist es, dass die internationale Gemeinschaft, insbesondere in Europa, seit 2015 nicht in der Lage waren, einen Notfallplan für die Bereitstellung von internationalem Schutz zu entwickeln, der schnell umgesetzt werden könnte.

 

Handlungsbedarfe

Im Moment brauchen wir ein schnelles und umfassendes Umsiedlungsprogramm, das sich auf den Schutz von Gefährdeten und Geflüchteten stützt und zunächst eine weitere Evakuierung ermöglicht. Jede Maßnahme zur Gewährung von internationalem Schutz für Afghan*innen muss diese Grundprinzipien bekräftigen: Jede afghanische Person hat das Recht, Afghanistan zu verlassen und anderenorts Asyl zu suchen; Afghan*innen, die Asyl suchen, dürfen nicht nach Afghanistan zurückgeführt werden, wenn ihr Leben eindeutig in Gefahr ist; die internationale Gemeinschaft muss Asylsuchende im Einklang mit einer gerechten Aufteilung der Verantwortung aufnehmen. Wir könnten auch damit beginnen, die Bedingungen für die Familienzusammenführung zu erweitern, die in vielen westlichen Ländern bereits bestehen. Die Familienzusammenführung ist ein Recht, und unter diesen außergewöhnlichen Umständen sollte sie auf einen größeren Verwandtenkreis ausgedehnt werden, damit eine größere Zahl von Personen davon profitieren und wieder angesiedelt werden kann.

Allgemein bedeutet dies, dass Pläne zur Zurückweisung von Asylsuchenden, die ohne Visum eingereist sind, wie sie das beispielsweise Vereinigte Königreich mit seinem Gesetz über die „Nationality and Border Bill“ plant, inakzeptabel sind und einen Verstoß gegen das internationale Flüchtlingsrecht darstellen. Es liegt nahe, dass die reflexartige Reaktion der westlichen Länder auf die Eindämmung der afghanischen Asylsuchenden könnte schließlich in der Normalisierung des Taliban-Regimes im Diskurs, ihre Legitimation finden. Es liegt auf der Hand, dass die reflexartige Reaktion der westlichen Länder auf die Eindämmung der afghanischen Asylsuchenden schließlich in einer Erzählung über die Normalisierung des Taliban-Regimes, insbesondere im Krieg gegen ISIS-Khorasan, ihre Legitimation finden würde. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges werden die Taliban wieder einmal als Verbündete gegen die Barbarei dargestellt werden.

Darüber hinaus sollten wir uns nicht nur auf Menschen in Afghanistan konzentrieren. Es gibt bereits Tausende von Afghan*innen, die auf den griechischen Inseln festsitzen (etwa 2.500 allein auf Lesbos), und viele Afghan*innen, die sich in anderen Ländern in ungewissen Verhältnissen befinden, wie z. B. in Pakistan und Iran, die seit 1979 Millionen von vertriebenen Afghan*innen aufgenommen haben. In beiden Ländern sind die Aussichten auf eine Integration vor Ort aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage äußerst gering, ihr Lebensstandard hat sich verschlechtert und es droht ständig die Abschiebung. Hinzu kommt auch das Problem der afghanischen Minderheit der Hazara, die vor allem in Pakistan von Verfolgung bedroht ist.

Anstelle einer konzertierten und koordinierten Bereitstellung von internationalem Schutz durch die internationale Gemeinschaft befinden wir uns also weiterhin in einer Situation der synchronisierten Eindämmung von Menschen unter dem Vorwand, die Stabilität in Afghanistan zu fördern.

 

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