Die Wurzeln der Gewalt erkennen: Geschlechtsspezifische Auswirkungen des Kriegs in Myanmar auf Bangladeschs Flüchtlingslager

Geschlechtsspezifische Gewalt und Unsicherheit haben in den Flüchtlingslagern in Bangladesch, in denen über eine Millionen aus Myanmar geflohene Rohingya leben, im letzten Jahr zugenommen. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dieser Zunahme der Gewalt in den Camps und der Eskalation des Krieges in Myanmars Region Rakhine. Welche Dimensionen der geschlechtsspezifischen Gewalt erfahren die Rohingya und wie gehen die betroffenen Frauen und Männer damit um? Der Beitrag fasst zentrale Ergebnisse aktueller Forschung, die vom britischen Forschungsprogramm Cross-Border Conflict Evidence, Policy and Trends (XCEPT) gefördert wurde, zusammen und hebt dabei insbesondere die grenzüberschreitenden Dynamiken und neue Formen der Gewalt gegen Männer hervor.

 

„Der Krieg wütet jenseits der Grenze, während wir schlaflose Nächte in den Flüchtlingslagern von Bangladesch ertragen“, erzählt ein 30-jähriger Rohingya-Mann, der sich in nahe gelegenen Dörfern versteckt, um der Zwangsrekrutierung durch bewaffnete Gruppen zu entgehen.

Der Bürgerkrieg in Myanmar hat internationale Grenzen längst überschritten. Während wir diese Zeilen schreiben, durchläuft die Region Rakhine im Westen Myanmars einen seismischen Wandel. Seit dem Zusammenbruch eines Waffenstillstands im November 2023 liefern sich Myanmars Militärjunta und die Arakan Army, eine bewaffnete regionale Unabhängigkeitsbewegung, einen heftigen Krieg um die Zukunft der Region. Die Rohingya – eine zum Großteil muslimische ethnische Minderheit, die seit Jahrhunderten im heutigen Grenzgebiet von Myanmar und Bangladesch lebt, aber seit Jahrzehnten von Myanmars Militärregierung diskriminiert, verfolgt und gewaltsam vertrieben wird – sind nun wiederum ins Kreuzfeuer der aktuellen Kämpfe geraten. Die Kämpfe haben zum Tod von mehr als 1.300 Menschen im Jahr 2024, zu erneuten Massenvertreibungen der Rohingya und zu einer neuen territorialen Ordnung geführt. Die Arakan Army konnte erhebliche Gebietsgewinne verbuchen und kontrolliert nun den größten Teil der Region Rakhine, einschließlich der gesamten Grenze zu Bangladesch.

Diese dramatischen Machtverschiebungen werfen einen langen Schatten auf die ohnehin ungewisse Zukunft der Rohingya – sowohl in Myanmar, wo noch immer etwa 630.000 Rohingya-Binnenvertriebene leben, als auch in Bangladesch, in das 2017 über 700.000 Rohingya flohen.

 

Neue Formen geschlechtsspezifischer Gewalt in den Camps verstehen

Kolleg*innen des internationalem Forschungsinstituts bicc (Bonn International Centre for Conflict Studies), des Centre for Dependency and Slavery Studies (BCDSS) an der Universität Bonn und der Universität Dhaka haben gemeinsam eine einjährige Studie im Rahmen des Forschungsprogramms Cross-Border Conflict Evidence, Policy and Trends (XCEPT) durchgeführt. Vor dem Hintergrund der langanhaltenden Vertreibungskrise in Bangladesch war das Ziel unserer Forschung, die transnationalen Auswirkungen des Krieges in den nahe an der Grenze zu Myanmar gelegenen Flüchtlingslagern und insbesondere den Umgang der Rohingya mit weit verbreiteter geschlechtsspezifischer Gewalt besser zu verstehen.

Bei unserer empirischen Forschung im April bis Juni 2024 haben wir in der bangladeschischen Region Cox’s Bazar qualitative Methoden eingesetzt: 84 persönliche Interviews und neun Fokusgruppendiskussionen mit weiblichen und männlichen in den Flüchtlingslagern lebenden Rohingya, 19 Interviews mit Mitarbeiter*innen humanitärer Organisation, der lokalen Behörden und Medien, und teilnehmende Beobachtung in den Camps sowie der Grenzregion. Ergänzt wurde unsere Erhebung durch die Analyse von Konflikt- und Satellitendaten.

 

Die Vertreibungssituation der Rohingya und die Gewalt in den Lagern

Die eskalierende Gewalt in Rakhine hat die Bevölkerung dort neuen Bedrohungen von verschiedenen Seiten ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen berichteten von Drohnenangriffen, gezielten Tötungen, Brandstiftung, Vergewaltigungen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen gegen die Rohingya. Eine neue Vertreibungswelle folgte: In der zweiten Jahreshälfte suchten etwa 80.000 Rohingya in Bangladesch Zuflucht, Tausende wurden aber vom bangladeschischen Grenzschutz am Grenzübertritt gehindert oder gewaltsam zurückgewiesen. Im Dezember 2024 überstieg die offizielle Zahl der Geflüchteten, die in Bangladeschs Region Cox’s Bazar in 34 Flüchtlingslagern unmittelbar an der Grenze zu Myanmar leben, erstmals die Zahl von einer Millionen.

Diese Lager verfügen zwar über eine grundlegende Infrastruktur, die Rechte der „Zwangsvertriebenen aus Myanmar“, wie die Rohingya in Bangladesch offiziell bezeichnet werden, da das Land die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat, werden allerdings von der Regierung gezielt eingeschränkt. Sie dürfen offiziell die Lager nicht verlassen, haben nur wenige Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und sind fast vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen. Da die Chancen der freiwilligen Rückkehr auf Grund des Krieges in Myanmar äußert gering sind, hat sich die langanhaltende Vertreibungskrise der Rohingya weiter verschärft. Zudem sind die Camps zu Schauplätzen gewalttätiger Machtkämpfe zwischen bewaffneten Gruppen geworden: der Arakan Rohingya Salvation Army, der Rohingya Solidarity Organisation, der Arakan Rohingya Army und der Islami Mahas. Diese Gruppen haben unter den Flüchtlingen ein Klima der Angst geschaffen. Sie kontrollieren die Lager informell als „Nachtregierungen“ und agieren in den Lagern und im Grenzgebiet zwischen Bangladesch und Myanmar nahezu ungestraft.

Im letzten Jahr wurden die vertriebenen Rohingya erneut in den eskalierenden Krieg hineingezogen. Auch die Zufluchtsorte in Bangladesch bieten keinen ausreichenden Schutz mehr, sondern sind Teil eines „erweiterten Schlachtfelds“ geworden. Diese Ausweitung des Konflikts hat auch die Muster der Gewalt in den Lagern verändert: Männer und Jungen werden zwangsrekrutiert, und die sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat sich nochmals erhöht. Wir verstehen die Transnationalisierung des Krieges, d.h. die grenzüberschreitende Ausweitung dieses Konfliktes, daher auch als eine zentrale Triebkraft der geschlechtsspezifischen Gewalt.

 

Zwangsrekrutierungen von Männern als Form der geschlechtsspezifischen Gewalt

Seit Anfang 2024 hat das myanmarische Militär, das verzweifelt versuchte die Kontrolle in der Rakhine zu behalten, Rohingya-Männer und -Jungen innerhalb Rakhines zwangsrekrutiert und dabei ihre Verwundbarkeit und Staatenlosigkeit gezielt ausgenutzt. Die bewaffneten Gruppen, die in den Lagern in Bangladesch aktiv sind und im Grenzraum mobil agieren können, begannen kurz darauf ebenfalls damit, Rohingya-Flüchtlinge dazu zu verpflichten, im Krieg in Myanmar zu kämpfen. Berichten zufolge wurden mehr als 5.000 männliche Rohingya gewaltsam oder freiwillig rekrutiert. Sie wurden daraufhin im Umgang mit Waffen ausgebildet, an Kriegsparteien in Myanmar verkauft, um für diese zu kämpfen, oder in Einheiten bewaffneter Rohingya-Gruppen aufgenommen, die aktiv in die Kämpfe eingreifen. In ihren Rekrutierungskampagnen nutzen die bewaffneten Rohingya-Gruppen nicht nur Gewalt, sie bedienen auch ein moralisch, religiös und kulturell geprägtes Verständnis von Ehre, einer „militarisierten Männlichkeit“ und Nationalstaatsbildung. So sollen die jungen Rohingya-Männer zu den Waffen greifen, um ihre Ethnie und ihre Religion schützen und ihre Heimat zurückzuerobern. Die jungen Geflüchteten werden dadurch zur Zielscheibe für neue Formen der Gewalt und patriarchalische Normen innerhalb der Rohingya-Community werden bekräftigt.

 

Gewalt gegen Frauen als Druckmittel im transnationalisierten Krieg

Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt haben in den letzten Jahren in den Rohingya-Lagern zugenommen und sind mittlerweile zu erschreckend „normalen“ Alltagserfahrung von Frauen und Mädchen geworden. In den Flüchtlingslagern sind sie vielfachen Bedrohungen, körperlichen Angriffen, sexueller Gewalt und emotionalem Missbrauch durch ihre Partner, machtvolle Männer ihrer Community, Männer aus der Gastgemeinde und Mitglieder bewaffneter Gruppen ausgesetzt. Junge Frauen und Mädchen werden auch zu frühen Ehen und einige sogar zur Sexarbeit gezwungen. Diese verheerenden Erfahrungen schränken das tägliche Leben der Rohingya-Frauen stark ein und hinterlassen tiefe Wunden in der Psyche vieler. Ein Vertreter einer humanitären Nichtregierungsorganisation, die in den Camps tätig ist, erläuterte uns in diesem Zusammenhang eine weitere Taktik bewaffneter Gruppen, Rohingya-Männer für den Krieg zu zwangsrekrutieren: „Wenn der Bruder, der Vater oder der Ehemann nicht nach Myanmar gehen und kämpfen will, bedrohen die Gruppen diese Familien, insbesondere die Töchter oder Ehefrauen. Die Frauen werden entführt und vergewaltigt, wenn die Männer nicht mitmachen.“

Die Rohingya-Frauen sind aber nicht nur Opfer neuer Formen der Gewalt, viele stellen sich den Zwangsrekrutierungen auch entschieden entgegen, verstecken junge Männer vor den bewaffneten Gruppen oder helfen ihnen zur Flucht aus den Camps. Die jüngste Welle der Gewalt hat die Geschlechterverhältnisse in den Lagern zwar nicht verändert, aber zu einer weiteren Verschiebung des sozialen Gefüges geführt. Aufgrund der Zwangsrekrutierungen, des Todes von Kämpfern und der Weiterreise von Männern, z. B. auf dem gefährlichen Seeweg nach Indonesien oder Malaysia, werden nun immer mehr Haushalte in den Lagern von Frauen geführt. Die Abwesenheit der Männer verstärkt allerdings die bereits bestehende Verwundbarkeit von Frauen gegenüber geschlechtsbasierter Gewalt.

 

Die Bedeutung des Grenzraums in diesem transnationalen Konflikt

Die neuen Gewaltdynamiken verdeutlichen nochmals die transnationale Verflechtung zwischen den Flüchtlingslagern und dem burmesisch-bangladeschischen Grenzraum. Der Krieg weitet sich zwar nicht einfach in das Nachbarland aus, da keine Kampfhandlungen auf bangladeschischem Territorium erfolgen. Doch die Netzwerke der Konfliktparteien erstrecken sich über die Grenzen hinweg. Die Zwangsrekrutierungen zur Zuführung von neuen Kämpfern als „Kanonenfutter“ im Krieg ist nur ein Aspekt dieser grenzüberschreitenden Verflechtung. Die gewachsene Macht sowohl der bewaffneten Rohingya-Gruppen in Bangladesch als auch der Arakan-Armee in Myanmar beruht auf ihrer Mobilität und ihren Netzwerken auf beiden Seiten der Grenze. Der grenzüberschreitende Handel mit legalen und illegalen Gütern, einschließlich Drogen, sowie Menschenschmuggel und Entführung gegen Lösegeld sind ein fester Bestandteil der transnationalen Kriegsökonomie, welche die Gewalt in beiden Ländern weiter anheizt. Die Kontrolle des Grenzraums spielte daher auch eine entscheidende strategische Rolle im Krieg.

 

Neue Wege aus der Spirale der Gewalt

Die humanitäre Krise der Rohingya und die in diesem Kontext weit verbreite geschlechtsspezifische Gewalt müssen grundlegend anders betrachtet werden, insbesondere wenn wir sie in ihren Ursachen und in ihrer transnationalen Einbettung verstehen wollen. Bislang haben die Regierung von Bangladesch und die internationalen Partner geschlechtsspezifische Gewalt gegen Rohingya als ein lokales humanitäres Problem betrachtet, das hauptsächlich Frauen betrifft. Es stimmt zwar, dass Frauen und Mädchen am stärksten gefährdet sind und die meisten Vorfälle von geschlechtsspezifischer Gewalt in den Lagern stattfinden, aber diese Konzentration auf Gewalt gegen Frauen und den Ort der Lager ist zu eng gefasst. Wie wir skizziert haben, sind neue Muster geschlechtsspezifischer Gewalt entstanden, bei denen Rohingya-Männer die Hauptziele sind und die eindeutig mit den grenzüberschreitenden Verstrickungen bewaffneter Gruppen in Verbindung stehen.

Die Regierung von Bangladesch und humanitäre Organisationen müssen nicht nur ihre Bemühungen zum Schutz von Rohingya-Frauen und -Männern in den Flüchtlingslagern ausbauen, sie müssen auch die Wurzeln und translokale Einbettung geschlechtsspezifischer Gewalt verstehen und angehen. Dies kann durch vernetzt gedachte Maßnahmen innerhalb der Rohingya-Community, in den Flüchtlingslagern und im burmesisch-bangladeschischen Grenzraum gelingen. Erste Vorschläge hierfür haben wir in unseren direkt auf den Forschungserkenntnissen beruhenden Handlungsempfehlungen formuliert und im Januar 2025 mit der Regierung von Bangladesch, UN-Organisationen sowie lokalen und internationalen humanitären Organisationen diskutiert.

Die jüngsten Änderungen in der politischen Landschaft Bangladeschs, die Bildung einer Rohingya-Taskforce und der bevorstehende UN-Gipfel zur Lage der Rohingya unter der Leitung der Übergangsregierung Bangladeschs bieten nun eine seltene Gelegenheit, die offiziellen und humanitären Strategien, die seit fast einem Jahrzehnt gelten, neu zu gestalten. Diese Chance darf nicht verpasst werden, um neue Lösungen für diese langanhaltende Vertreibungskrise zu finden, Flüchtlingslager als zentrale humanitäre Technologie zu überdenken, und dann auch die transnationalen Wurzeln von Unsicherheit und geschlechtsspezifischer Gewalt in diesem umkämpften Grenzgebiet anzugehen.

 

Hinweis: Eine kürzere englischsprachige Version dieses Beitrags ist unter dem Titel „Spaces of refuge as ‘extended battlefields’: gendered impacts of Myanmar’s civil war in the Rohingya camps in Bangladesh” auf dem XCEPT Blog erschienen.

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