Editorial der neuen Zeitschrift für Flüchtlingsforschung

Von Marcel Berlinghoff, J. Olaf Kleist, Ulrike Krause und Jochen Oltmer

 

Die erste Ausgabe der Zeitschrift für Flüchtlingsforschung (Z’Flucht) ist erschienen. Im Editorial gehen die HerausgeberInnen auf Entwicklungen in der Flucht- und Flüchtlingsforschung sowie die Ziele der Zeitschrift ein, das in leicht geänderter Fassung im FlüchtlingsforschungsBlog veröffentlicht ist.

 

Mögen die Debatten in Politik, Medien und Öffentlichkeit der vergangenen zwei, drei Jahre auch etwas anderes suggerieren: Vertreibungen und Fluchtbewegungen sind keine neuen Phänomene und auch ihre Erforschung hat eine lange Tradition. Gleichwohl ist der Zeitpunkt günstig, eine Zeitschrift zur Flüchtlingsforschung zu gründen. Die Ankunft sehr vieler Asylsuchender in Europa führte seit 2015 zu sozialen und politischen Herausforderungen, die weithin als ›Flüchtlingskrise‹ rezipiert und diskutiert wurden. Von der globalen bis auf die lokale Ebene forderten Flucht und der Schutz von Flüchtlingen Politik und Gesellschaft, aber auch Forschung heraus. Gerade in der deutschen Wissenschaftslandschaft wurden umfassende Desiderate, ein Mangel an Kenntnissen über Flucht und Flüchtlinge deutlich, die die Forschung schnell aufzuarbeiten versuchte. Die rasante Zunahme an Forschungsprojekten in den verschiedensten Fächern und Forschungsbereichen seit 2015 (Kleist 2017) stellte dabei das gerade im Entstehen begriffene Feld der Flucht- und Flüchtlingsforschung vor eine entscheidende Herausforderung: Wie kann in einer sich schnell entwickelnden, zunehmend disparaten und unübersichtlichen Forschungslandschaft ein multidisziplinärer und dauerhafter Austausch über ein so komplexes Thema wie Flucht und Flüchtlingsschutz geleistet werden? Zeitschriften mit externen Begutachtungsverfahren sind in einer derart dynamischen Wissenschaftslandschaft eine wichtige Plattform für Forschende, um mit hohen Qualitätsstandards Erkenntnisse aus Forschungsprozessen zu teilen, in einem fortgesetzten wissenschaftlichen Diskurs in kritische Diskussionen zu treten und weiterführende Fragen zu beleuchten. Als eine solche Plattform versteht sich auch die Zeitschrift für Flüchtlingsforschung (Z’Flucht).

Im englischsprachigen Wissenschaftsraum besteht seit Anfang der 1980er Jahre eine Flucht- und Flüchtlingsforschung (Fiddian-Quasmedi et al. 2014), die inzwischen weltweit nicht nur spezialisierte Forschungszentren und entsprechend denominierte Professuren umfasst, sondern auch eine Vielzahl an einschlägigen Fachzeitschriften (siehe den Beitrag von Klaus Neumann in der ersten Ausgabe). Auch in Deutschland gibt es eine Tradition von Forschung und akademischen Veröffentlichungen über Gewaltmigration, Flucht, Flüchtlinge, Asyl und Flüchtlingsschutz: Staats- und rechtswissenschaftliche Abhandlungen entstanden bereits in der Zwischenkriegszeit in größerer Zahl (Oltmer 2005). Vielfältige Studien begleiteten dann den Prozess der Ankunft und Integration deutscher Flüchtlinge und Vertriebener der unmittelbaren Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs (Beer 2011), die Exilforschung begann in den späten 1960er Jahren mit einer intensiven Auseinandersetzung über die Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland (Hansen-Schaberg 2014), schließlich begleitete in den frühen 1990er Jahren eine breite wissenschaftliche Debatte die politischen und medialen Diskussionen um die Einschränkung des Asylgrundrechts. Doch die Untersuchungen, die in den Geschichtswissenschaften, den Politikwissenschaften, den Rechtswissenschaften oder den Literaturwissenschaften entwickelt wurden und sich als Beiträge zur Migrationsforschung, zur Exilforschung, zur Friedens- und Konfliktforschung oder zur Entwicklungsforschung verstanden, blieben weithin den Debatten ihrer Disziplin oder Forschungsrichtung verhaftet. Selten reagierten sie aufeinander, waren transdisziplinär informiert oder nahmen Theorieangebote und Ansätze aus anderen Fächern und Forschungszusammenhängen wahr.

Um Forschende zu vernetzen, die zu den vielfältigen Aspekten des Themenkomplexes Flucht, Asyl und Schutzsuchende arbeiten, gründete sich 2013 das Netzwerk Flüchtlingsforschung. Es stellte erstmals eine Plattform für die Debatte über die Grenzen von Disziplinen und Forschungsrichtungen hinweg zur Verfügung. Spätestens seit seiner großen Konferenz im Oktober 2016 (siehe den Beitrag von Julia Freudenberg und Ramona Rischke in der ersten Ausgabe) ist es auch zum zentralen Forum der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland geworden. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns wichtig und sehr passend, dass die Z’Flucht in Verbindung mit dem Netzwerk Flüchtlingsforschung herausgegeben wird. Das bedeutet, dass die Zeitschrift zwar eigenständig und kein Teil des Netzwerks ist, jedoch auch in Zukunft eine institutionelle Verbindung zwischen dem Vorstand des Netzwerks und den Herausgeberinnen und Herausgebern der Zeitschrift besteht, die zurzeit vor allem eine von personellen Überschneidungen ist.

Die Zeitschrift für Flüchtlingsforschung zielt darauf, die Flucht- und Flüchtlingsforschung im deutschsprachigen Raum zu etablieren und zu stärken sowie einen Anknüpfungspunkt für das internationale Feld der Forced Migration and Refugee Studies zu bieten. Für die Zeitschrift für Flüchtlingsforschung stellt sich die Frage, wie ihr Gegenstand verstanden werden soll und wer ein ›Flüchtling‹ ist – eine Frage, mit der sich die internationale Flucht- und Flüchtlingsforschung seit ihrem Bestehen beschäftigt. ›Flüchtling‹ ist zum einen eine rechtliche und administrative Kategorie, an die ein besonderer Status, besondere Rechte und Leistungen gebunden sind. Doch ist das Label ›Flüchtling‹ umkämpft und sowohl historisch, politisch als auch geographisch variabel (Zetter 1991, 2007). Nicht zuletzt deswegen wurden immer wieder Diskussionen über rechtliche und praktische Implikationen des Flüchtlingsstatus und -schutzes geführt (vgl. Betts 2013; Hathaway 2005; Shacknove 1985; Turton 2003). So widmet sich die Flucht- und Flüchtlingsforschung auch der großen Zahl von Menschen und ihrem (fehlenden) Schutz, die etwa innerhalb ihrer Herkunftsländer (Kälin 2014) flohen, staatenlos geworden sind (Bradley 2014), aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen (McAdam 2010) oder von Kriegen und Gewalt (Krause 2016) ihre Heimat verlassen mussten. Eine Vielzahl von Begriffen und Kategorien helfen zwar, Unterscheidungen zu treffen, die auf den Status, die Fluchtgründe und die unterschiedlichsten Zuschreibungen verweisen. Es geht in der Flucht- und Flüchtlingsforschung aber auch um die kritische Reflexion darüber, welche Zuschreibungen die Schutzsuchenden erfahren, vor welchen Strukturen und Ereignissen sie fliehen, welchen Bedingungen sie im Kontext ihrer Mobilisierung unterworfen sind und wie Staaten, humanitäre Organisationen, Zivilgesellschaften und Schutzsuchende selbst Flucht und Vertreibung verstehen, einordnen und vor dem Hintergrund spezifischer Vorstellungen und Bilder politisch und medial aushandeln.

Die Zeitschrift für Flüchtlingsforschung möchte durch empirische Studien, theoretische Reflexionen und methodische Debatten diese vielfältigen Diskussionen über Flucht und Vertreibung, Flüchtlinge und Flüchtlingsschutz aufgreifen. Mit globalem, regionalem, nationalem und lokalem Bezug werden unter anderem Fragen zu den Hintergründen, Bedingungen und Folgen von Flucht und Vertreibung, Flüchtlingsschutz und auch Schutzverhinderung sowie das Handeln von Geflüchteten und ihre Strategien im Umgang mit Fluchterfahrungen bearbeitet. Die Zeitschrift widmet sich den Forschungen über gewaltsam vertriebene und vor Gewalt oder Katastrophen fliehende oder geflohene Menschen, egal auf welche Weise sie kategorisiert wurden und welche Debatten, Diskurse, Handlungen, Praktiken und Konzepte auf sie bezogen werden. Trotz des Bezugs auf ›Flüchtlinge‹ im Titel der Z’Flucht, der auf das internationale Feld der Refugee Studies verweist, geht es in der Zeitschrift keineswegs ausschließlich um die Rechtskategorie des Flüchtlings, sondern um alle relevanten Fragestellungen zu Flucht und andere Formen der Gewaltmigration.

Angesichts der unterschiedlichen fachlichen Perspektiven, aus denen heraus entsprechende Fragen gestellt werden können, gilt ein besonderes Augenmerk der Zeitschrift für Flüchtlingsforschung der multidisziplinären Diskussion. In den vergangenen Jahren haben vornehmlich die Rechtswissenschaft, die Soziologie, die Geschichtswissenschaft und die Politikwissenschaft, aber auch die Philosophie, die Ethnologie, die Sprach- und Literaturwissenschaft, die Psychologie, die Geographie und die Wirtschaftswissenschaft Beiträge zur Flucht- und Flüchtlingsforschung geleistet. Diese Disziplinen werden gewiss auch in der Z’Flucht einen Großteil der Aufsätze beisteuern. Doch die Zeitschrift ist keineswegs disziplinär gebunden. Vielmehr ist es uns wichtig, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus all jenen Fächern und Forschungsrichtungen zu Wort kommen zu lassen, die einen Beitrag leisten können, Flucht und andere Formen von Gewaltmigration sowie Flüchtlingsschutz und dessen Defizite zu verstehen und zu erklären. Zur Sicherung der Multi- und Interdisziplinarität der Zeitschrift repräsentiert der Wissenschaftliche Beirat die disziplinäre Breite der Flucht- und Flüchtlingsforschung und unterstützt die Zeitschrift durch inhaltliche Beratung, Vernetzung und Begutachtungen. Für die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen, sich sofort für die Mitarbeit zur Verfügung zu stellen, bedanken wir uns an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich.

Da Flucht und andere Formen der Gewaltmigration nicht nur einen wachsenden Forschungsbereich, sondern auch ein breites politisches und praktisches Handlungsfeld darstellen, möchte die Zeitschrift auch zum Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis beitragen. Bereits 2003 prägten Loren Landau und Karen Jacobsen diesbezüglich den Begriff des »dualen Imperativs«. Er besagt, dass Forschende sowohl wissenschaftliche Anforderungen in der Flüchtlingsforschung zu erfüllen haben, als auch dafür sorgen sollen, das erlangte Wissen und die Erkenntnisse Entscheidungsträgerinnen und -trägern sowie Organisationen anzutragen (Jacobsen/Landau 2003). Im Einklang mit dem dualen Imperativ wird die politische, praktische und gesellschaftliche Bedeutung der Flucht- und Flüchtlingsforschung in der Zeitschrift in dem Sinne gerahmt, dass Aufsätze sowohl einen Beitrag zum Verständnis von Lebensbedingungen, Selbstkonzepten und Handlungsmöglichkeiten von Fliehenden und Geflüchteten als auch zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse leisten können. Explizit berücksichtigt die Zeitschrift diesen Dialog von Wissenschaft und Praxis dadurch, dass einerseits wissenschaftliche Aufsätze einen Anwendungsbezug haben können, andererseits Beiträge von Autorinnen und Autoren aus Praxis und Politik eingereicht werden sollen, sofern sie für die Flucht- und Flüchtlingsforschung relevant sind.

Die Zeitschrift veröffentlicht Beiträge in drei Rubriken, die unterschiedliche Formate zusammenführen. Im Zentrum stehen die wissenschaftlichen Aufsätze, die Ergebnisse und Erkenntnisse zu spezifischen Fragen der Forschung zu Flucht und anderen Formen der Gewaltmigration präsentieren, methodisch und theoretisch reflektiert sind, den aktuellen Stand der Wissenschaft berücksichtigen und diesen weiterentwickeln. Wie bei allen wissenschaftlichen Zeitschriften ist die Qualitätssicherung eine wesentliche Komponente, die durch ein doppelt anonymisiertes Begutachtungsverfahren gewährleistet wird (double-blind peer review). Dadurch kann eine Beurteilung der Qualität eingereichter Aufsätze garantiertwerden, die unabhängig von Person, Position, Geschlecht und institutioneller Anbindung der Autorinnen und Autoren ist. Die zweite Rubrik umfasst Forumsbeiträge. Diese bieten kürzere (Feld-)Forschungsberichte, nehmen begriffliche, theoretische, methodische, konzeptionelle und forschungsethische Fragen in den Blick oder betreffen aktuelle Diskussionen der Forschung. In dieser Rubrik können Beiträge aus der Praxis veröffentlicht werden. Forumsbeiträge werden durch die Herausgeberinnen und Herausgeber der Zeitschrift geprüft. Die dritte Rubrik umfasst Rezensionen und Konferenzberichte. Rezensionen und Literaturberichte können zu einzelnen oder mehreren Neuerscheinungen der vorangegangenen zwei Jahre verfasst werden. Dabei werden angesichts der interdisziplinären Ausrichtung der Zeitschrift für Flüchtlingsforschung Publikationen mit fachübergreifender Relevanz bevorzugt. Beiträge zu allen Rubriken können fortlaufend eingereicht werden. Darüber hinaus können in der Zeitschrift sowohl Themenhefte als auch Sonderbände erscheinen, die von externen Herausgeberinnen und Herausgebern zusammengestellt und veröffentlicht werden. Während Themenhefte gelegentlich herausgegebene thematisch ausgerichtete Ausgaben der Zeitschrift bieten, stellen Sonderbände ausführlichere Werke dar, die maximal einmal pro Heftjahrgang veröffentlicht werden.

Die Zeitschrift für Flüchtlingsforschung hat sich vorgenommen, einen wissenschaftlich stets fundierten, breit angelegten und immer reflexiven Beitrag zu einem rasch an Fahrt gewinnenden Forschungsfeld zu bieten. Wir hoffen sehr auf das Interesse in Wissenschaft und Praxis und wünschen uns viele kritische Leserinnen und Leser, die den Weg der Z’Flucht wohlwollend begleiten und fördern.

 

Weitere Informationen zur Zeitschrift für Flüchtlingsforschung sind auf dem Netzwerk Flüchtlingsforschung und bei Nomos zugänglich.

 

Photo Credit:

(c) Nomos

 

Literatur

Beer, Mathias (2011), Flucht und Vertreibung der Deutschen: Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München.

Betts, Alexander (2013), Survival Migration: Failed Governance and the Crisis of Displacement, Ithaca, NY.

Bradley, Megan (2014), Rethinking Refugeehood: Statelessness, Repatriation, and Refugee Agency, Review of International Studies, 40 (1), 101–123.

Fiddian-Qasmiyeh, Elena, et al. (2014), Introduction: Refugee and Forced Migration Studies in Transition, in: Fiddian-Qasmiyeh, Elena et al. (Hrsg.) The Oxford Handbook of Refugee and Forced Migration Studies, Oxford, 1–19.

Hansen-Schabert, Inge (2014), Exilforschung – Stand und Perspektiven, Aus Politik und Zeitgeschichte, (42), 3–9.

Hathaway, James C. (2005), The Rights of Refugees under International Law, Cambridge.

Jacobsen, Karen/Landau, Loren B. (2003), The Dual Imperative in Refugee Research: Some Methodological and Ethical Considerations in Social Science Research on Forced Migration, Disasters, 27 (3), 185–206.

Kälin, Walter (2014), Internal Displacement, in: Fiddian-Qasmiyeh, Elena et al. (Hrsg.) The Oxford Handbook of Refugee and Forced Migration Studies, Oxford, 163–175.

Kleist, J. Olaf (2017), Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland: Akteure, Themen und Strukturen, Flucht: Forschung und Transfer: State-of-the-Art Papier, Nr. 1.

Krause, Ulrike (2016), Konflikt-Flucht-Nexus: Globales Ausmaß, genderbezogene Auswirkungen und politische Relevanz, S&F Sicherheit und Frieden, 34 (1), 46–51.

McAdam, Jane (Hrsg.) (2010), Climate Change and Displacement. Multidisciplinary Perspectives, Oxford.

Oltmer, Jochen (2005), Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen.

Shacknove, Andrew E. (1985), Who Is a Refugee?, Ethics, 95 (2), 274–284.

Turton, David (2003), Conceptualising Forced Migration, RSC Working Paper, Nr. 12.

Zetter, Roger (1991), Labelling Refugees: Forming and Transforming a Bureaucratic Identity, Journal of Refugee Studies, 4 (1), 39–62.

Zetter, Roger (2007), More Labels, Fewer Refugees: Remaking the Refugee Label in an Era of Globalization, Journal of Refugee Studies, 20 (2), 172–192.

 

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