Ein Forschungsfeld im Umbruch: Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland von 2011 bis 2016

In den letzten Jahren hat die Forschung zu Flucht und Flüchtlingen einen regelrechten Boom erlebt. Das Thema wurde in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaftlichen und anderen Disziplinen mit einer Vielzahl von neuen Forschungsprojekten untersucht. Doch das zunehmende Interesse – allein die Zahl der Mitglieder im Netzwerk Flüchtlingsforschung stieg von 38 Anfang 2015 auf 228 Ende 2016 und auf über 300 Ende 2017 – führte auch zu einem Verlust des Überblicks über das Forschungsfeld. In einem nun vorliegenden, ausführlichen Forschungsbericht werden umfassende Daten zu Projekten ausgewertet, die zwischen 2011 und 2016 Aspekte von Flucht und Flüchtlingen untersucht haben. Trotz einer starken Zunahme der Zahl neu begonnener Projekte werden eine thematische Verengung und Herausforderungen für eine nachhaltige Flucht- und Flüchtlingsforschung deutlich. Zentrale Ergebnisse der Studie werden hier vorgestellt und abschließend Überlegungen zur Zukunft der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland angestellt.

 

Erhebung

Das BMBF geförderte Verbundprojekt „Flucht: Forschung und Transfer“, das durch das BICC in Bonn und das IMIS der Universität Osnabrück durchgeführt wird, begann 2016 den Stand der Flucht- und Flüchtlingsforschung aufzuarbeiten. In einer SQL-Datenbank werden dafür Angaben zu aktuell über 570 Forschungsprojekten gesammelt, die in Deutschland zum Themenkomplex Flucht und Flüchtlinge durchgeführt werden.

Die vorliegende Analyse der Flucht- und Flüchtlingsforschung basiert auf umfassenden Angaben zu 511 Projekten (Stand August 2017), die zwischen 2011 und 2016 zum Thema Flucht und Flüchtlinge durchgeführt wurden. Zur Datengenerierung wurden im Sommer und Herbst 2016 die Gesis-Forschungsdatenbank SOFISwiki ausgewertet und 1.300 ausgewählte Wissenschaftler*innen und Institutionen kontaktiert. Aufgenommen wurden Projekte, die Flucht oder Flüchtlinge explizit als Untersuchungsgegenstand haben, auf eigenen Untersuchungen basieren, unter Beteiligung einer deutschen Forschungseinrichtung durchgeführt werden, eine eigene Budget aufweisen und nicht vor 2011 abgeschlossen wurden.

Die Projekte könne online durchsucht und auf einer Forschungslandkarte anhand zugehöriger Institutionen visualisiert werden (Abb. 1). Die Datensammlung wird fortgesetzt und entsprechende Projekte können weiterhin gemeldet werden.

 

Hintergrund

Die Erforschung von Flucht, Flüchtlingen und Flüchtlingspolitik ist keineswegs ein völlig neues Phänomen. Von vereinzelten Forschungsarbeiten vor dem Zweiten Weltkrieg abgesehen, wurden seit in den 1950er und 1960erJahren im Rahmen der deutschen Sektionen der „Association européenne pour l’étude du problème des réfugiés“ (AER) und der „Association for the Study of the World Refugee Problem“ (AWR) die Vertreibungsfolgen des Zweiten Weltkriegs wie auch in Ansätzen andere Fluchtsituationen untersucht.

Die Forschung hat sich wie in den folgenden Jahrzehnten immer dann dem Thema besonders gewidmet, wenn es auch Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen war, wie beispielsweise in den 1980er und 1990er Jahren. Doch fand die Flucht- und Flüchtlingsforschung nie eine eigenständige Institutionalisierung an deutschen Hochschulen wie die Refugee and Forced Migration Studies im englischsprachigen Raum. Ab den frühen 1980er Jahren hat sie sich in Großbritannien und Kanada wie auch in vielen weiteren Ländern etabliert. In Deutschland fand ab den 1990 Jahren Forschung zu Flucht und Flüchtlingen im Rahmen der Migrationsforschung, der Friedens- und Konfliktforschung und anderen Forschungsbereichen statt, war aber weitgehend randständig.

Die Gründung des Netzwerks Flüchtlingsforschung war ab 2013 ein erster Versuch, Wissenschaftler*innen aus der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland zusammen zu bringen. Von einer Randständigkeit der Flucht- und Flüchtlingsforschung kann spätestens seit 2015 nicht mehr gesprochen werden.

 

Der Boom

Unsere Erhebung im Rahmen des „Flucht: Forschung und Transfer“-Projekts zeigt, dass 2016 fünfmal so viele Forschungsprojekte begonnen wurden (175 erfasste Projekte) wie 2013 (35 erfasste Projekte) (Abb. 2).

Auch wenn der steile Anstieg an die zeitgleiche Zunahme der Asylberwerberzahlen erinnert, so muss betont werden, dass dies lediglich eine Korrelation ist. Die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen und deren Thematisierung angesichts der Ankunft von Schutzsuchende in Deutschland führten zu erhöhtem Forschungsinteresse und neuen Forschungsfragen. Das bedeutet, dass trotz fallender Asylbewerberzahlen nicht auch unmittelbar das Forschungsinteresse zurückgeht. Die Flucht- und Flüchtlingsforschung ist, wie auch historisch zu sehen ist, von gesellschaftlichen und politischen Interesses abhängig.

 

Projektarten

Diese Abhängigkeit der Flucht- und Flüchtlingsforschung von gesellschaftlichen Trends ist besonders markant aufgrund des geringen Grades ihrer Institutionalisierung. Forschungen werden vorwiegend durch Drittmittelprojekte ermöglicht. Dies war nicht immer so. Rund 50 Prozent der 2014 begonnen Projekte waren Promotionen. Doch die Bedeutung von Qualifizierungsarbeiten, die das Forschungsfeld bis dahin wesentlich trugen, ließ in den folgenden Jahren merklich nach. 2016 waren 50 Prozent der neu begonnenen Forschungsprojekte drittmittelfinanziert (Abb. 3).

Zwar nahm schon seit 2013 die Zahl der durch Institute selbstfinanzierten Projekte zu, jedoch war externe Finanzierung 2015 und 2016 weitaus gewichtiger. Mit dieser Entwicklung nahm auch die Projektdauer merklich ab, während 2013 begonnene Projekte noch durchschnittlich 34,8 Monaten andauerten, reduzierte sie sich auf 22,3 Monate in 2016. 35 Prozent der 2016 begonnenen Projekte liefen nicht länger als ein Jahr.

 

Forschungseinrichtungen

Wir können eine Zunahme der begonnen Forschungsprojekte sowohl an außeruniversitären Forschungseinrichtungen, an Universitäten als auch an Fachhochschulen beobachten, wobei Fachhochschulen eine proportional größere Zunahme verzeichnen (Abb. 4). Obwohl einige Institutionen mit vielen einschlägigen Forschungsprojekten hervorstechen, insbesondere das IAB und das BAMF, beide in Nürnberg, sowie das IMIS in Osnabrück, ist es bemerkenswert, dass im gesamten Bundesgebiet zu Flucht und Flüchtlingen geforscht wird.

Die Verteilung ist jedoch nicht gleichmäßig: Während Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen überdurchschnittlich viele Projekte aufweisen, gab es im Untersuchungszeitraum in Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen eher wenige Forschungsprojekte zu Flucht und Flüchtlingen. Auch Kooperationen finden in dem Forschungsfeld noch wenig statt. Im Durchschnitt waren an einem Projekt 1,8 Forschungseinrichtungen beteiligt, 61 Prozent der Projekte wurden allerdings von einer Forschungseinrichtung ohne Kooperationspartner durchgeführt.

 

Forschungsthemen

Eine weite Bandbreite an Disziplinen ist an der Flucht- und Flüchtlingsforschung beteiligt und wir können in den Fächern einen ähnlichen Anstieg der Anzahl der Forschungsprojekte konstatieren. Durchweg trugen die Soziologie, Politikwissenschaften und die Erziehungswissenschaften, von einigen Variationen abgesehen, am häufigsten zu Projekten bei. Die im Forschungsfeld behandelten Themen erfuhren jedoch eine Zuspitzung.

Wir baten bei der Meldung von Projekten, diese vorgegebenen Themenbereichen zuzuordnen, wobei von allen Nennungen 41 Prozent auf „Aufnahme und Integration“, 27 Prozent auf „Flüchtlingspolitik“, 14 Prozent auf „Gewaltmigration“ und 18 Prozent auf „sonstiges“ fielen. Auch bei einer stärker ausdifferenzierten Zuordnung wird die Dominanz von Integrationsthemen in der Forschung deutlich. Doch das Verhältnis änderte sich mit der Zeit (Abb. 5). Während sich vor 2015 zwischen 28 und 38 Prozent der im jeweiligen Jahr begonnen Projekte mit Aufnahme und Integration beschäftigten, so waren es 2016 über 50 Prozent. Insbesondere der Themenbereich Gewaltmigration, also Fluchthintergründe und -prozesse, war nur noch selten Gegenstand von Forschungsprojekten.

 

Forschungsregionen

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in Hinblick auf untersuchte Forschungsregionen feststellen. Insgesamt widmen sich knapp vier Fünftel aller Projekte der deutschen Flucht- und Flüchtlingsforschung auf Westeuropa (Abb. 6). Obwohl laut UNHCR 84 Prozent aller Flüchtlinge in Länder im Globalen Süden leben, sind diese Forschungsregionen nur selten im Fokus von Forschungsprojekten. Die Türkei mit 9 Prozent sowie Syrien, Jordanien und Afghanistan mit je 6 Prozent führen die Liste der am häufigsten behandelten Länder jenseits des Globalen Nordens an.

Wenn Forschungen zu Subsahara-Afrika oder dem Nahen Osten durchgeführt werden, so überwiegen hier Forschungen zu Gewaltmigration. Gerade Forschungen zu Deutschland, insgesamt 67 Prozent, haben im Laufe der Zeit allerdings noch stark zugenommen. Während das Verhältnis zwischen Projekten mit und ohne Deutschlandbezug bis 2013 noch einigermaßen ausgeglichen war, waren 2016 nur noch rund 20 Prozent der Forschungsprojekte ohne Deutschlandbezug. So lässt sich gegenüber der globalen Dimension des Forschungsthemas eine starke Verzerrung im regionalen Fokus der deutschen Flucht- und Flüchtlingsforschung erkennen.

 

Ausblick

Die Flucht- und Flüchtlingsforschung hat in den vergangenen Jahren zweifelsohne einen Boom in Deutschland erlebt. Diese Entwicklungen sind nicht spurlos an dem Forschungsfeld vorbeigegangen. Strukturell sehen wir viele neue Akteure im Forschungsfeld, das angesichts geringer Kooperationen jedoch von einer Zersplitterung bedroht ist. Inhaltlich können wir eine Verengung auf Integrationsthemen und auf Forschungen zu Deutschland konstatieren. Um die vielen neugewonnenen Expertisen, Erkenntnisse und Strukturen nicht wieder zu verlieren, bedarf das Forschungsfeld dringend einer Reform.

Wir sehen erste Ansätze einer Institutionalisierung mit der Einrichtung von Professuren und auch Forschungszentren, die sich mal mehr mal weniger explizit der Flucht- und Flüchtlingsforschung widmen. Dies ist ein wichtiger Anfang, um Nachhaltigkeit und Nachwuchs im Forschungsfeld zu ermöglichen. Hier sind insbesondere Bund, Länder und Hochschulen wie auch große Stiftungen gefragt, die Gelegenheit des sich etablierenden Forschungsfeldes nicht vorbeiziehen zu lassen. Über Stellen oder gar Institute hinaus gilt es jedoch insbesondere dezentrale Strukturen zu stärken und spezifische Expertisen in der Flucht- und Flüchtlingsforschung an bestehenden Forschungseinrichtungen zu stärken und zu vernetzen. Das Netzwerk Flüchtlingsforschung ist ein erstes wichtiges Forum für Wissenschaftler*innen das jedoch um Vernetzung, Kooperationen und Verbundprojekte auf der Ebene von Forschungseinrichtungen ergänzt werden muss.

Die Arbeitskreise und die Konferenzen des Netzwerks Flüchtlingsforschung sowie die Z’Flucht: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung leisten wichtige inhaltliche Koordinationsaufgaben für das Forschungsfeld. Durch diese können die Forschungen beteiligter Wissenschaftler*innen aufeinander bezogen werden. Dies erlaubte die gemeinsame Weiterentwicklung entstandener Forschungsschwerpunkte. Forscher*innen sollten aber auch die Leerstellen und Desiderata im Forschungsfeld aufnehmen (die wir gerade in State-of-Research Papieren aufarbeiten). Die Komplexität des Themas macht deutlich, dass Aufnahme und Integration nicht losgelöst von Flüchtlingspolitik und Gewaltmigration erforscht werden können. Die Aufgabe der inhaltlichen Ausdifferenzierung der Flucht- und Flüchtlingsforschung liegt letztlich bei den Forschenden selbst, die mit Eigen- und Drittmitteln neue Projekte entwickeln können. Und so wird die Zukunft der Flucht- und Flüchtlingsforschung nicht zuletzt von den daran beteiligten Wissenschaftler*innen bestimmt – ob sie wie schon zuvor nach einem Boom wieder in der Obskurität versinkt oder sich als relevantes Forschungsfeld in der deutschen und internationalen Wissenschaftslandschaft etablieren kann.

 

 

Dieser Beitrag basiert auf dem Forschungsbericht
J. Olaf Kleist: Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland: Akteure, Themen und Strukturen, mit einem Beitrag von Lars Wirkus, State-of-Research Papier 10, Verbundprojekt ‚Flucht: Forschung und Transfer‘, Osnabrück: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück / Bonn: Internationales Konversionszentrum Bonn (BICC), Februar 2018.

Der Bericht kann kostenlos heruntergeladen werden oder vom „Flucht: Forschung und Transfer“-Projekt bestellt werden: fft-imis@uni-osnabrueck.de

 

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