Wenn es um Klimawandel als Ursache von Migration und Flucht geht, dann bietet sich ein Gespräch mit Walter Kälin an. Seit dreißig Jahren forscht und lehrt Professor Kälin an der Universität Bern zum Flüchtlingsrecht und zum internationalen Menschenrechtsschutz. Ökologische Ursachen von Flucht zählen heute zu seinen Forschungsschwerpunkten. Neben seiner akademischen Arbeit war Walter Kälin im Rahmen der Vereinten Nationen tätig, unter anderem als Mitglied des UN-Menschenrechtsausschusses und Spezialberichterstatter für den UN-Menschenrechtsrat. Gegenwärtig vertritt Walter Kälin zudem die Nansen-Initiative, einen staatenbasierten Prozess, der sich zum Ziel gesetzt hat, Vorschläge für einen internationalen Umgang mit Flucht wegen Klimawandel und Naturkatastrophen zu entwickeln.
Herr Kälin, ich möchte mit Ihnen über die Arbeit mit der Nansen-Initiative sprechen. Sie sind „Envoy of the Chairmanship“ der Initiative. Sagen Sie, wie übersetzt man das eigentlich korrekt ins Deutsche?
(Lacht) Ich weiß es auch nicht, wir verwenden es immer auf Englisch.
Es handelt sich bei der Nansen-Initiative ja auch um eine internationale Angelegenheit. Wie kam es dazu und worum geht es?
Die Nansen-Initiative geht zurück auf die Diskussionen im Vorfeld der Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen. Mehrere Organisationen, unter anderem der UNHCR und die IOM, vertraten die Auffassung, dass auf Grund des Klimawandels Flucht und Migration zunehmen werden, und dieses Thema in die Verhandlungen Eingang finden müsse. Das passierte nicht in Kopenhagen, mündete aber in die Cancún Agreements von 2010, in welchen klimabedingte Migration ausdrücklich als Teil der Herausforderungen der Anpassung an den Klimawandel anerkannt wurde.
Der UN Hochkommissar für Flüchtlinge hatte dann gehofft von den Staaten grünes Licht zu bekommen, um die Diskussionen voranzutreiben. Als deutlich wurde, dass es für eine Bearbeitung im Rahmen des UNHCR keine ausreichend breite Zustimmung gab, stießen Norwegen und die Schweiz einen Prozess außerhalb der bestehenden Organisationen an: Die Nansen-Initiative. Die Idee war es, mit besonders interessierten Staaten zunächst einmal Informationen zu sammeln, Konsultationen durchzuführen und so eine Grundlage für die weitere Diskussion zu schaffen.
Bevor Sie zur Nansen-Initiative kamen, hatten Sie bereits ausgiebig zu klimabedingter Flucht gearbeitet. Wie kamen Sie erstmals mit dem Thema in Berührung?
Das war in meiner Zeit als Beauftragter des UN-Generalsekretärs für Binnenvertriebene. Damals habe ich mich intensiv mit Menschen beschäftigt, die auf Grund von Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen mussten. Auslöser war der Tsunami 2004, ich war gerade ins Amt gekommen und der Ansicht, dass die Definition des Binnenvertriebenen und die Guiding Principles auch diese Fälle umfassen und Anwendung finden.
Ich bin dann in die Region gereist, habe mit vielen Betroffenen und zahlreichen NGOs gesprochen, es wurde deutlich: Es gibt nicht nur im Krieg sondern auch in Katastrophensituationen Schutzprobleme. Um das Thema zu vertiefen, habe ich weitere Länder besucht, die von Katastrophen getroffen wurden: Nach Honduras 10 Jahre nach dem Hurrikan Mitch, nach New Orleans nach Katrina, nach Mosambik, nach Madagaskar; all das waren klima- und umweltbezogene Katastrophen. Die Lehren aus diesen Besuchen flossen in einen Bericht über den Schutz von Binnenvertriebenen in Katastrophensituationen ein, welchen ich 2009 dem Menschenrechtsrat unterbreitete, und bildeten eine wichtige Grundlage für einen Leitfaden für Schutzaktivitäten in solchen Situationen, welchen ich zusammen mit humanitären Organisationen entwickelte.
Das heißt, es begann mit dem Thema der Flucht wegen Umweltkatastrophen. In Ihren Aufsätzen machen Sie eine doppelte Unterscheidung innerhalb der klimabedingten Migration: zwischen Binnenvertriebenen und internationaler Flucht zum Einen, zwischen plötzlichen Katastrophen und langsamen Umweltverschlechterungen als Fluchtauslöser andererseits. Bei dieser Diversität von Szenarien – ist es überhaupt sinnvoll, zusammenfassend von „Klimaflüchtlingen“ zu sprechen?
Nein, das ergibt keinen Sinn. Zum Einen stellt sich die rechtliche Zuständigkeit bei diesen Szenarien ganz unterschiedlich dar: Binnenvertriebenen bleiben dem Recht ihres Staates unterstellt, da greifen auch viele menschenrechtliche Garantien. Wenn die Personen hingegen Staatengrenzen überschreiten, besteht eine Schutzlücke: Die wenigsten Fälle passen unter die Flüchtlingsdefinition der Genfer Konvention und es bleibt deshalb offen, ob Zufluchtsstaaten zu ihrer Aufnahme verpflichtet werden können.
Der Begriff des Klimaflüchtlings ergibt aber auch deshalb wenig Sinn, weil die Wissenschaft nicht in der Lage ist, zwischen einem bestimmten Wetterereignis und dem Klimawandel eine direkte Kausalbeziehung nachzuweisen. Was man feststellen kann, sind Trends, eine gewisse Zunahme der Häufigkeit und Stärke von derartigen Wetterkatastrophen. Kurz gesagt, die Bezeichnung „Klimaflüchtlinge“ hilft den Betroffenen nicht; ihnen könnte allzu leicht Schutz mit dem Argument verweigert werden, im konkreten Fall sei der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Flicht nicht bewiesen. Daher verwenden wir bei der Nansen-Initiative den Begriff „Klimaflüchtling“ nicht, sondern sprechen von Katastrophenvertriebenen.
Schauen wir uns also die einzelnen Szenarien an: Ein oft angeführtes Beispiel der klimabedingten Flucht sind die Bewohner eines Inselstaates, der wegen des steigenden Meeresspiegels untergehen wird. Das Gebiet ihres Staats verschwindet also. Handelt es sich hier um Flüchtlinge, denen anderswo Schutz zusteht? Das geltende internationale Recht kennt dafür keine Antwort, oder?
Wir hatten unsere erste Konsultation im Pazifik mit zehn Inselstaaten, die bereits und absehbar sehr schwer vom Klimawandel betroffen sind. Und die erste Botschaft, die wir dort bekamen, war die Aussage „Wir sind keine Flüchtlinge, und wir wollen keine Flüchtlinge werden“. Diese Menschen wollen keine Flüchtlinge sein im Sinne von Personen, die nur noch fliehen können und von humanitärer Hilfe abhängig werden. Ihre Botschaft war: „Wir wissen, dass wir weggehen müssen, aber wir wollen selbst bestimmen wie und wann, wir wollen uns vorbereiten können. Deshalb brauchen wir keinen Flüchtlingsstatus, sondern Kanäle, um regulär migrieren zu können.“ Der Akzent sollte deshalb auf regionalen Ansätzen und bilateralen Aufnahmeverträgen mit Staaten in der Region liegen. Der Wunsch, die eigene Kultur bewahren und deshalb in der Region bleiben zu können, ist bei den betroffenen Menschen sehr stark.
Das heißt es geht eher um eine kleinschrittige Anpassung als um ein neues internationales Abkommen?
Die Herausforderung ist sehr komplex, die Dynamiken und Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich von Region zu Region. Grenzüberschreitende Flucht gibt es vielfach in Zentralamerika, ebenso in weiten Teilen Afrikas, hingegen nur selten in Südostasien. Die Dynamiken unterscheiden sich stark regional, dementsprechend setzen wir auch auf regionale Antworten. Zudem kann die Nansen-Initiative auch keine globale Konvention vorbereiten, ein neues internationales Abkommen kann heutzutage eigentlich nur noch innerhalb von bestehenden Organisationen wie der UNO entwickelt werden. Ein solcher Schritt ist nicht in Aussicht, und deshalb haben wir uns gesagt: Es macht keinen Sinn zu warten, stattdessen müssen wir mit den besonders betroffenen Regionen vorangehen.
Aber haben wir es hier nicht auch mit einem Problem globaler Ungleichheit zu tun? Diejenigen Staaten, die den Klimawandel im Wesentlichen verursacht haben und auch am meisten zur Minderung oder Begrenzung beitragen könnten, sind zugleich diejenigen, die bislang am wenigsten davon zu spüren bekommen. Können regionale Abkommen und Abhilfen angesichts dieses Problems die Antwort sein? Braucht es nicht auch ein Abkommen, in dem die Staaten des Globalen Nordens sich zu Beiträgen verpflichten?
Die Verantwortung der Industriestaaten ist evident. In unseren Konsultationen hat sich gezeigt, dass die Staaten des Globalen Südens unter diesem Aspekt von Klimagerechtigkeit vor allem erwarten, finanzielle Unterstützung zu bekommen. Finanzielle Unterstützung, um Maßnahmen der Anpassung an den Klimawandel und der Risikoreduktion vorzunehmen. Dazu gehören nicht nur technische Schutzmaßnahmen für besonders bedrohte Gebiete wie die Einführung dürreresistenter Pflanzen oder Dämme zum Schutz vor Überflutung, sondern beispielsweise auch Umsiedlungen im eigenen Land. Solche finanziellen Unterstützungen werden sicherlich auch ein Thema bei der Klimakonferenz in Paris sein.
Nach dem letzten Vorfall innerhalb der anhaltenden Katastrophe im Mittelmeer ist das Thema Flucht und Migration gerade wieder sehr prominent in der öffentlichen Diskussion. Was für eine Rolle spielt der Klimawandel für diese Fluchtgeschichten? Spielt er eine Rolle?
Die Gründe der Menschen, die dort fliehen, haben mutmaßlich auch mit Klimawandel zu tun, aber wir kennen die Fakten nicht. Diese Personen werden entweder als Gewaltflüchtlinge, beispielsweise aus Syrien, eingestuft oder als Wirtschaftsflüchtlinge, für die meist kein rechtlicher Schutz besteht. Wir haben keine konkreten Untersuchungen, inwieweit die Fluchtgründe vor allem Letzterer mit dem Klimawandel zusammenhängen. Hier fehlt es noch an Wissen, diese Fragen sind bislang nicht systematisch gestellt worden.
Was können wir von der Klimakonferenz in Paris erwarten?
Wichtig ist, dass in dem bindenden Pariser Abkommen das Thema von klimabedingter Flucht aufgeführt wird. Das ist wichtig, aber es ist auch mit viel Widerstand zu rechnen. Es geht darum, dass die Verantwortung der Staaten und der internationalen Gemeinschaft gegenüber den betroffenen Menschen anerkannt wird, und so unter anderem der Weg zu finanzieller Unterstützung der Regionen und für Schutzmechanismen geebnet wird.
Wie empfinden Sie die gegenwärtige Debatte um die europäische Asylpolitik? Welche Bedeutung hat sie für das Thema der klimabedingten Flucht?
Die Asyldebatte scheint mir gegenwärtig eher auf Restriktionen ausgerichtet und die Bereitschaft, eine weitere Kategorie von Flüchtlingen anzuerkennen, besteht kaum. Insofern kann man wohl sagen, dass die Nansen-Initiative nicht gerade im Trend liegt. Allerdings haben unsere Konsultationen gezeigt, dass erstaunlich viele Ansätze bestehen, auf welchen wir aufbauen können. Nationales Recht beispielsweise in Nord- und Südamerika, teilweise auch in Europa enthält Ansatzpunkte, um Menschen, die klimabedingt fliehen, Schutz zu gewähren. In der Schweiz ist das zum Beispiel das Instrument der vorläufigen Aufnahme, wenn eine Abschiebung im Lichte humanitärer Überlegungen unzumutbar wäre, in Zentralamerika die Tradition sogenannter humanitärer Visa für Katastrophenvertriebene, in den USA der sog. temporäre Schutzstatus, in Ostafrika der Rückgriff auf den weiten Flüchtlingsbegriff der afrikanischen Flüchtlingskonvention für Hungeropfer aus Somalia oder – gerade aktuell – der freie Personenverkehr zwischen Nepal und Indien. Das sind Ansätze in gewissen Teilen der Welt, die sich verallgemeinern ließen. Unsere Arbeiten haben auch gezeigt, dass Maßnahmen der Anpassung an den Klimawandel, der Risikoreduktion, der Umsiedlung oder der Erleichterung regulärer Migration für Menschen aus vom Klimawandel besonders betroffenen Regionen ein Bündel von Werkzeugen bilden, welche helfen, dass betroffene Menschen nicht fliehen müssen. Mit anderen Worten: Politischer Wille vorausgesetzt, können wir viel tun, betroffenen Menschen unter Respektierung ihrer Menschenrechte zu helfen, dass sie nicht fliehen müssen. Gleichzeitig müssen wir sie schützen, wo Flucht unvermeidbar ist. Das sind die beiden Kernbotschaften der Schutzagenda, welche die Nansen Initiative im Oktober dieses Jahres im Rahmen ihrer globalen Konsultation verabschieden wird.
English version of the interview.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie zur klima- und umweltbedingten Flucht, die gemeinsam durch den Völkerrechtsblog und den FlüchtlingsforschungsBlog herausgegeben wird.