Von Christiane Fröhlich und Ulrike Krause
Handelt es sich eher um ‚Flüchtlings-‘ oder um ‚Fluchtforschung‘? Dieser Frage gehen wir angeregt durch die Umbenennung vom Netzwerk Flüchtlingsforschung zum Netzwerk Fluchtforschung sowie vom FlüchtlingsforschungsBlog zum FluchtforschungsBlog in unserem Beitrag nach. Wir reflektieren Argumente für und gegen die Begriffe und stellen Rückbezüge zu ähnlichen Debatten in der englischsprachigen Wissenschaftslandschaft her.
Zur Zeit der Gründung des FlüchtlingsforschungsBlogs Anfang 2015 konnte in Deutschland noch nicht von einer etablierten Flucht- oder Flüchtlingsforschung gesprochen werden. Dies ist insofern im Gegensatz zu den Refugee Studies (später ergänzt durch Forced Migration Studies) im englischsprachigen Raum, die seit den 1980er Jahren ein fest etabliertes, interdisziplinäres Forschungsfeld darstellen. Dort besteht reger wissenschaftlicher Austausch etwa durch renommierte Fachzeitschriften wie das Journal of Refugee Studies, den Forced Migration Review und das International Journal of Refugee Law oder durch den Dachverband der International Association for the Study of Forced Migration (IASFM). An mehreren Universitäten wurden interdisziplinäre Institute wie das Refugee Studies Centre an der Universität Oxford, das Centre for Research on Migration, Refugees and Belonging an der Universität Ost-London und das Centre for Refugee Studies an der kanadischen Universität York geschaffen. Sie alle bieten auf das Feld spezialisierte Studiengänge an.
Schritt für Schritt sehen wir auch in der deutschen Wissenschaftslandschaft eine Institutionalisierung des Forschungsfeldes. Ein Indikator ist die Gründung des Netzwerks Flüchtlingsforschung im Jahr 2013 sowie die Förderung des Netzwerks ‚Grundlagen der Flüchtlingsforschung‘ durch die DFG zwei Jahre später. Die seither zunehmenden Forschungsaktivitäten im Bereich Flucht, Asyl und – ganz zentral – Agency von Geflüchteten schaffen Raum für kritische Reflexionen über Begriffe, Ansätze und den grundsätzlichen Aufbau des hierzulande recht neuen Forschungsfeldes. Die Auseinandersetzung mit der Frage, was wir in diesem Feld eigentlich untersuchen, worauf wir uns konzentrieren, führte für die Mitglieder des Netzwerks auf ihrer zweiten Konferenz im Oktober 2018 in Eichstätt sogar zur Umbenennung vom Netzwerk Flüchtlingsforschung zum Netzwerk Fluchtforschung – und somit auch vom FlüchtlingsforschungsBlog zum FluchtforschungsBlog.
Flucht- oder Flüchtlingsforschung?
Die Frage, ob es sich eher um ‚Flüchtlings-‘ oder um ‚Fluchtforschung‘ handelt, wurde auch im englischsprachigen Raum zu Refugee Studies oder Forced Migration Studies Mitte der 2000er Jahre kritisch diskutiert. Beispielsweise sprach sich Hathaway für das Festhalten an der ‚Flüchtlingsforschung‘ aus, u.a. um den (völker-)rechtlichen Besonderheiten der Flüchtlingskategorie Rechnung tragen zu können (kritisch DeWind). Indes verwies Chimni auf die Rolle von Machtasymmetrien zwischen Globalem Norden und Süden in der Forschung zu Flucht und Vertreibung. Er versteht die Wende von Refugee zu Forced Migration Studies als eingebettet in (post)koloniale Strukturen und als Ausdruck einer Strategie, politischen Humanitarismus zur Legitimierung einer neuen imperialen Weltordnung zu verwenden.
Debatten zur Flucht- und/oder Flüchtlingsforschung in Deutschland können nicht losgelöst von jenen im englischsprachigen Raum betrachtet werden. Überschneidungen bestehen ganz grundsätzlich darin, sowohl das eigene wissenschaftliche Feld kritisch zu reflektieren, als auch Folgen, Begriffe und entsprechende Forschungsrahmen zu durchdenken und abzuwägen.
Flucht- und Flüchtlingsforschung beschäftigen sich mit weltweit stattfindender Mobilität von Menschen und ihren Ursachen und Auswirkungen, die generell nicht freiwillig, sondern erzwungen ist. Da die Differenzierung zwischen Zwang und Freiwilligkeit seit Jahren durchaus kritisch beleuchtet wird (siehe u.a. Richmond 1988; Erdal/Oeppen 2017), ist es notwendig zu betonen, dass wir die Zwangskomponente keinesfalls als Aberkennung von Agency bzw. Handlungsmacht fliehender und geflüchteter Menschen verstehen. Verfolgung, Kriege und gewaltsame Konflikte, Umwelt- und Klimaveränderungen oder andere Gefahren können vielmehr eine so starke Wirkung auf Menschen entfalten, dass sie sich zur Flucht entscheiden; wann genau, für wie lange und wohin Menschen gehen, wird aber noch von einer Vielfalt anderer Faktoren geprägt, die ebenfalls in Projekte der Fluchtforschung einfließen müssen.
Pro und Contra
Bei näherer Betrachtung fällt ein kritischer Punkt bei dem Begriff der ‚Flüchtlingsforschung‘ unmittelbar auf: Er konzentriert sich offenbar auf bestimmte Personen. Diesem Argument könnte entgegengesetzt werden, dass es sich bei dem Begriff ‚Flüchtling‘ um eine rechtliche oder politische Kategorie handeln würde, sodass auch hier der Fokus nicht zwangsläufig auf Menschen läge. In diesem Verständnis steht der Begriff vorrangig für einen rechtlichen Status, der in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definiert ist, von Staaten und Internationalen Organisationen zu- und aberkannt werden kann und mit Rechten und Pflichten einhergeht. Doch würden so nicht nur die Personen hinter dem Label ‚Flüchtling‘ strukturell vernachlässigt, sondern darüber hinaus all jene außer Acht gelassen, die nicht in die völkerrechtlich definierte Flüchtlingskategorie passen, aber dennoch als ‚auf der Flucht‘ verstanden werden müssen.
Beispiele hierfür sind vielfältig und betreffen unter anderem Menschen, die innerhalb ihrer Herkunftsländern fliehen, also ‚Binnenvertriebene‘, aber etwa auch jene, die wegen Umwelt- und Klimaveränderungen fliehen. Im Falle der sogenannten ‚Klimaflüchtlinge‘ im pazifischen Raum lehnen die Betroffenen den Begriff und die Kategorisierung als Flüchtling sogar offen ab. Ähnlich problematisch ist es, im Falle fliehender Menschen von Migrant*innen zu sprechen, denn dieser Begriff impliziert einen Grad an Freiwilligkeit, der die Realität nicht hinreichend abbildet und den betroffenen Menschen einen Anspruch auf Schutz absprechen kann. Auch wenn solche Abgrenzungen sicherlich nicht die Intention der Forschenden sind, die am Begriff der Flüchtlingsforschung festhalten möchten, legt dies offen, wie spannungsgeladen der Terminus ist.
Dies spiegelt sich auch in Debatten über Wirkungen des Flüchtlingsbegriffs wider. Der Begriff wird umgangssprachlich häufig verallgemeinernd für Menschen verwendet, die auf der Flucht und/oder an Aufnahmeorten sind, diesen rechtlichen Status – der durchaus mit Privilegien zusammenhängt – aber noch nicht erreicht haben und möglicherweise nie erreichen werden. Daran knüpft die Diskussion in Deutschland an, ob der Flüchtlingsbegriff noch haltbar oder mit dem Begriff ‚Geflüchtete‘ auszutauschen sei. Forschende gehen etwa auf disziplinär verortete Verständnisse ein, eruieren gesellschaftliche Wirkungen und Bedeutungen des Suffix ‚-ling‘ im Flüchtling oder wägen sprachwissenschaftlich Konnotationen ab. Zwar kam es bislang nicht zu einem Konsens, allerdings belegen die Diskussionen, wie dynamisch Sprache ist und wie wichtig Sprachpräzision und Wirkungsreflexion in der Forschung sind.
Was spricht für den Begriff der Fluchtforschung? Entgegen der augenscheinlich auf Personen oder Statusgruppen – Flüchtlinge – bezogenen Flüchtlingsforschung ist die Fluchtforschung bereits im Wortsinn weiter gefasst. Der Begriff der Fluchtforschung reiht sich in auf konkrete Phänomene ausgerichtete wissenschaftliche Arbeitsfelder ein. Beispiele bieten die Friedens- und Konfliktforschung, die Sicherheits-, Katastrophen-, Migrations- oder auch die Medien-, Versorgungs- oder Gesundheitsforschung. All diese Felder haben Relevanz für Gesellschaft, Individuen und politische Prozesse. Der Phänomenbezug bedeutet daher keinesfalls, dass die Menschen, die geflohen sind, eine untergeordnete Rolle spielen.
Doch wird die inhaltliche Komplexität der Analyse weltweit stattfindender, erzwungener Mobilität von Menschen mit ihren Ursachen und Auswirkungen im Begriff ‚Fluchtforschung‘ automatisch berücksichtigt? Dies könnte selbstverständlich angezweifelt werden, da sich die Fluchtforschung im Wortsinn zunächst auf das Phänomen und die Handlung der Flucht zu beziehen scheint. Jedoch bedeutet die Erforschung von Flucht gleichwohl, die Ursachen und Wirkungen von Flucht zu betrachten. Dies deckt sowohl die Auseinandersetzung mit Handlungsvermögen, Gefahren und Lebensverhältnisse der Menschen ab, als auch die politischen und humanitären Prozesse, die zumeist in der Folge (oder teilweise sogar als Verursachung) von Flucht bedeutsam sind. Eben diese Weite wurde auch in der englischsprachigen Diskussion von DeWind herausgestellt: „A forced migration perspective brings attention not only to these broader protective needs of individuals but also to the social and political circumstances that produce persecution and conflict and that limit access to protection.“
Quo Vadis?
Fluchtforschung legt also den Fokus per definitionem weniger auf den rechtlichen Status als auf den Zwangscharakter der Mobilität. Eine solche Ausweitung der Forschung auf alle Fliehenden wird allerdings auch kritisch beleuchtet. So betont Scalettaris, dass Mobilitätsprozesse vielfältiger sind und eine „clear-cut distinction“ unterschiedlicher migrierender und fliehender Gruppen selten auf reale Entwicklungen zutrifft. Überdies sieht Bakewell Probleme in der engen Verbindung zu Policy-Debatten und -Kategorien, über die wissenschaftliche Arbeiten hinausgehen sollten.
In diesem Bewusstsein verstehen wir Fluchtforschung nicht als ein Feld, das andere Mobilitätsformen ausschließt, sondern als eines, dass ein besonderes Interesse an Fluchtformen, -ursachen und -wirkungen hat. Und dies schließt die kritische Auseinandersetzung mit Policy-Debatten und -kategorien ein.
In jedem Fall halten wir diese terminologischen Überlegungen für wichtig, da der deutsche Diskurs sich derzeit noch an einem Punkt befindet, an dem in der Beschäftigung mit fliehenden/geflüchteten Menschen mit sehr verschiedenen Begrifflichkeiten gearbeitet wird, deren politische und rechtliche Konnotationen jedoch nicht immer ausreichend reflektiert werden. Es ist Aufgabe der Forschung, hier für größere Klarheit zu sorgen, da sprachliche Präzision und Differenzierung insbesondere in diesem emotional und politisch so aufgeladenen Feld unentbehrlich sind.