Flucht und Vertreibung in Afrika

Camps, Kontrollen und Konventionen

Ein Viertel der weltweit 65,3 Millionen Geflüchteten befinden sich heute in Afrika. Dazu beherbergen Länder wie Kenia, Äthiopien und Tansania die vier größten Flüchtlingslager der Welt. Im globalen Vergleich ist der Kontinent somit das Epizentrum innerstaatlicher und grenzüberschreitender Fluchtbewegungen. Mit der Blogreihe Flucht und Vertreibung in Afrika wollen wir diese Entwicklungen genauer nachzeichnen und unser Augenmerk ganz bewusst auf Orte wie Dadaab, Nyarugusu, Goma, und Dakar richten, die oftmals nur als Nebenschauplätze der europäischen „Flüchtlingskrise“ in Erscheinung treten.

 

Am 6. Mai 2016 gab die kenianische Regierung bekannt, die Flüchtlingslager Dadaab und Kakuma endgültig schließen zu wollen. Die Entscheidung kam fast genau ein Jahr nachdem sie dies schon einmal angekündigt und etwas später unter internationalem Druck revidiert hatte. Im April 2015 forderte Vize-Präsident William Ruto die Abschiebung von 350.000 somalischen Flüchtlingen aus Dadaab – wenige Tage nach einem Terroranschlag auf eine Universität in Garissa, bei dem 148 Menschen starben. Ein Jahr später hieß es erneut in einer Stellungnahme des Innenministeriums in Nairobi:

„Aufgrund nationaler Sicherheitsinteressen hat die Regierung Kenias beschlossen, dass unsere Gastfreundschaft gegenüber Flüchtlingen nun ein Ende haben muss.“

In der deutschen Presse stieß dies jedoch auf wenig Interesse. Nur einige wenige Beiträge erschienen zunächst in der taz, im Spiegel, im Deutschlandfunk und in der Tagesschau. Doch auch diese gaben meist nicht mehr als die Pressemitteilung oder eine kurze Zusammenfassung wieder. Die Blicke blieben auf Flüchtlinge in Europa gerichtet.

Aus diesem Grund setzten wir uns in einer auf diesem Blog erscheinenden Reihe eingehend mit dem Thema Flucht und Vertreibung in Afrika auseinander. Ganz bewusst richten wir unseren Fokus weg von Europa und schauen uns stattdessen an, wie Flüchtlingsschutz und -politik auf unserem Nachbarkontinent funktioniert.

Hierbei geht es uns darum, die unterschiedlichen Erfahrungen, historischen Wurzeln und politischen Begebenheiten von Flucht und Vertreibung in den Ländern Afrikas zu untersuchen, Bedingungen in Flüchtlingslagern und urbanen Zentren zu hinterfragen und dadurch über den Horizont einer eurozentrischen Flüchtlingsforschung hinauszugehen. Denn wer der globalen „Flüchtlingskrise“ auf die Spur kommen will, darf nicht nur nach Calais und Idomeni, sondern muss auch nach Dadaab und Goma schauen.

 

Flucht in Afrika: Ein Überblick

Laut der UNHCR Global Trends 2015 und des IDMC Global Report on Internal Displacement (GRID) 2016 stellen Afrikas Flüchtlinge mehr als ein Viertel der weltweit 65,3 Millionen Geflüchteten, das entspricht etwa 16,3 Millionen Menschen. Neben rechtlich anerkannten „Flüchtlingen“, die auf ihrer Flucht Staatsgrenzen überschritten haben, schließt dies auch Binnenvertriebene – sogenannte internally displaced persons (IDPs) – ein. IDPs sind Menschen die aufgrund von Kriegen, Konflikten und Naturkatastrophen innerhalb ihrer Heimatländer vertrieben wurden und dadurch keinen Antrag auf Asyl in einem Zweitland stellen können. Sie sind also nicht völkerrechtlich durch die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt. Tatsächlich sind die meisten Geflüchteten in Afrika – knapp 75% – in Wirklichkeit Binnenvertriebene.

Während Flüchtlingsschutz – inklusive Registrierung, Verwaltung und Versorgung – in Europa von staatlichen Institutionen geregelt wird, übernehmen in Afrika das UNHCR und seine Partnerorganisationen diese Aufgaben. Dabei tauschen afrikanische Staaten in der Praxis gewisse souveräne Hoheitsrechte ein, für eine verstärkte Präsenz und finanzielle Entschädigung durch internationale Hilfsorganisationen.

Afrikas Grenzen sind nicht nur porös, und deshalb für Flüchtlinge einfach zu überschreiten, sondern sind in weiten Teilen des Kontinents nicht einmal genau abgesteckt. Doch aufgrund dieser relativen Durchlässigkeit greifen viele afrikanische Regierungen auf eine bekannte Ordnungspraxis zurück – das Flüchtlingslager. Dort werden Flüchtlinge räumlich konzentriert, kontrolliert und können gezählt, versorgt und kategorisiert werden. Vier der bevölkerungsreichsten Flüchtlingslager der Welt befinden derzeit in Afrika: Dadaab in Kenia, Dollo Ado in Äthiopien, Kakuma in Kenia und Nyarugusu in Tansania. Einige sprechen deshalb von Afrika als „Kontinent des Flüchtlingslagers“. Während in Europa rund 14% der registrierten Flüchtlinge in Lagern und Asylunterkünften leben sind es in Afrika ganze 83%.

 

Flüchtlingsregimes

Entstanden ist das afrikanische Flüchtlingsregime im Zuge der Dekolonisierung des Kontinents in den 1960er Jahren. Damals unterzeichneten viele Regierungschefs die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und die Protokolle von 1967. Doch schnell wurde klar, dass diese Übereinkommen vor allem auf europäische Erfahrungen aus dem Völkerbund und den zwei Weltkriegen aufbauten und versuchten, diese auf ein globales Flüchtlingsregime zu übertragen. Nach Artikel 1 der Konvention von 1951 gelten nur Menschen als Flüchtlinge, die ihr Heimatland aus „begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ verlassen mussten. Für afrikanische Staatschefs war dies jedoch zu eng gefasst, denn vor allem Dekolonisierungs- und Bürgerkriege, Armut, Naturkatastrophen und Staatszerfall veranlassten Menschen dort zur Flucht.

Um diesem Eurozentrismus zu begegnen, verabschiedete die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) eine zusätzliche Flüchtlingskonvention für Afrika. Diese afrikanische Konvention erweiterte den Flüchtlingsbegriff auf Personen, die vor äußerer Aggression, Besatzung, ausländischer Vorherrschaft oder allgemeinen Gewaltzuständen geflohen waren. Die Aufbruchsstimmung der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen läutete Dekaden der Hoffnung, des Wirtschaftswachstums und des Panafrikanismus ein. Julius Nyerere – damaliger Präsident Tansanias und politischer Denker – warb für offenere Grenzen und panafrikanische Solidarität. Aufgrund der Gastfreundschaft seines Landes gegenüber burundischen Flüchtlingen erhielt Nyerere im Jahr 1983 den Nansen Refugee Award.

Doch dies veränderte sich rasch in den 1980er und 1990er Jahren. Viele afrikanische Staaten revidierten diese „Politik der offenen Türen“. In Anbetracht von Strukturanpassungsmaßnahmen und Spardiktaten durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF) geriet das liberale afrikanische Flüchtlingsregime ins Wanken. Auch Europa und Nordamerika verschärften zur einer Zeit ihre Asylpolitik, in der humanitäre Hilfe aufgrund des ruandischen Völkermords von 1994 und den verheerenden Kongokriegen (1996-2003) am nötigsten wurde.

Heute sehen wir in Afrika jedoch beides – langjährige Gastfreundschaft und Xenophobie, offene Türen und staatliche Repression gegenüber Geflüchteten.

 

Afrika: Analysen statt Schlagzeilen

In Mitten der europäischen „Flüchtlingskrise“ vergessen wir stets eines: Afrika – und nicht Europa – steht im Zentrum des globalen Flüchtlingsregimes. In afrikanischen Ländern haben humanitäre Organisationen über Jahrzehnte neuen Verfahrensweisen zur Nothilfe, Kontroll- und Zählmechanismen und Camp-Strukturen erprobt. Afrikanische Staaten haben durch die 1969 OAU Flüchtlingskonvention den rechtlichen Begriff des „Flüchtlings“ entscheidend mitgeprägt und den regionalen Bedürfnissen angepasst. Was auf dem Kontinent geschieht, ist deshalb keine Randerscheinung, sondern hat weitreichende Konsequenzen für unser globales Verständnis zu Flucht und Flüchtlingspolitik.

Mit den Beiträgen in der Blogreihe Flucht und Vertreibung in Afrika wollen wir dies genauer nachzeichnen. Aus verschiedenen Disziplinen berichten WissenschaftlerInnen über unterschiedliche Flüchtlingssituationen, politische Herausforderungen und Fluchtalltag von Ghana, Senegal, DR Kongo und der Zentralafrikanischen Republik, bis hin nach Kenia, Uganda und Tansania. Um die globalen Fluchtbewegungen besser verstehen zu können, schauen wir uns ganz gezielt Orte wie Dadaab, Nyarugusu, Goma oder Dakar an, die nicht häufig ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gelangen.

Durch fortlaufende Beiträge wollen wir unseren Blick auf Afrikas Flüchtlingsregime schärfen und dortige gesellschaftliche Zusammenhänge nachvollziehen, statt Schlagzeilen zu produzieren. Afrika ist nicht nur ein Kontinent der Flucht und – wie vor kurzem in Kenia – der reaktionären Flüchtlingspolitik. Es ist auch ein Reservoir an progressiven politischen und humanitären Ideen. Julius Nyerere gab deshalb in Bezug auf die Asylpolitik bereits 1969 die Weisung:

„Wenn eine Tür geschlossen ist, sollte man versuchen sie zu öffnen; ist sie nur halboffen, dann muss man sie anstoßen bis sie ganz offen ist.“

 

Dieser Auftaktbeitrag ist Teil der Blogreihe Flucht und Vertreibung in Afrika des Arbeitskreises Afrika des Netzwerks Flüchtlingsforschung.

 

 

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