Forschung zum Thema Flucht explizit als Demokratieforschung zu begreifen, ist ein relativ junger Ansatz und die Debatte um eine Demokratisierung der Fluchtforschung selbst steht erst am Anfang. Der folgende Beitrag des AK Demokratie und Flucht bringt eine Auswahl an Ansätzen aus politischer Philosophie und empirischer Sozialwissenschaft miteinander ins Gespräch, die zur Bearbeitung von Fragestellungen an dieser Schnittstelle beitragen können. Im Zentrum stehen einerseits Fragen nach den Mechanismen der politischen Exklusion von Geflüchteten und ihrer strukturellen Verankerung sowie den Teilhabemöglichkeiten und Kämpfen in ihrem Verhältnis zu Institutionen und Rechten. Andererseits diskutieren wir die Möglichkeiten einer partizipativeren und demokratischeren wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Flucht, die konzeptuell und methodisch die subjektiven Erfahrungen Geflüchteter stärker berücksichtigt. Eine angemessene Bearbeitung des Wechselverhältnisses von Demokratie und Flucht erfordert, so unsere Annahme, einen Dialog verschiedener Disziplinen und methodischer Herangehensweisen.
Geflüchtete Menschen sind zahlreichen Bedingungen und Einschränkungen ausgesetzt, auf die sie selbst kaum Einfluss haben. Dies gilt auch für ihre Situation(en) in Deutschland und Europa, denn formal gehören sie (noch) nicht zum demos der europäischen Demokratien. Während sich Zugangsmöglichkeiten zur konstituierten Bürger*innenschaft – wenn überhaupt – erst nach mehreren Jahren regulärem Aufenthalt und unter spezifischen Voraussetzungen (u.a. Sprachkenntnisse und Arbeitsmarktintegration) eröffnen, stellt sich für Schutzsuchende zunächst ganz grundsätzlich die Frage, wie sie als politische Subjekte mit Rechten anerkannt werden. Hannah Arendt formulierte, dass Geflüchteten das Recht fehle, Rechte zu haben. Dieses Recht auf politische Partizipation existiert nur in politischer Gemeinschaft, und genau diese haben Geflüchtete verloren. Worin die politische Exklusion Geflüchteter heute besteht und welche Möglichkeiten ihrer Überwindung es gibt, ist eine drängende wissenschaftliche Frage, die auch mit dem normativen Selbstverständnis demokratischer Aufnahmestaaten begründet werden kann. Dass diese einem Teil der Migrant*innen und Geflüchteten politische Rechte vorenthalten, erzeugt Legitimationsdefizite, die in Demokratien reflektiert werden sollten. Daher ist es notwendig, eine demokratietheoretische Perspektive in die Fluchtforschung einzubringen.
Ziel des Beitrags – wie auch der Arbeit des AK Demokratie und Flucht des Netzwerks Fluchtforschung, aus der heraus dieser Beitrag entstanden ist – ist es, empirische und theoretische Ansätze an der Schnittstelle Flucht und Demokratie in einen engeren Austausch zu bringen. Im Folgenden identifizieren wir Themen und Problemfelder, die in den Blick geraten, wenn wir Fluchtforschung als Demokratieforschung betreiben. Zudem stellen wir Ansätze heraus, die uns produktiv erscheinen, diese Schnittstelle zu bearbeiten, weil sie Ein- und Ausschlüsse von Teilhabe untersuchen sowie Subjektivierungen und politische Kämpfe in den Blick nehmen oder das Zusammenwirken von Forschenden und Geflüchteten reflektieren. Dabei führen wir zunächst in die Schwerpunktsetzungen philosophischer und sozialwissenschaftlicher Ansätze ein, entwickeln dann interdisziplinäre Fragestellungen im Spannungsfeld zwischen der Exklusion Geflüchteter und ihren Teilhabemöglichkeiten. Schließlich diskutieren wir die Möglichkeiten einer partizipativeren und damit aus unserer Sicht demokratischeren Beschäftigung mit dem Thema Flucht an.
Flucht und Demokratie – philosophische und sozialwissenschaftliche Zugänge
Schon in den Arbeiten Arendts verweist die Existenz des „Flüchtlings“ auf das Faktum politischer Exklusion, in der Menschen außerhalb der normativen Ordnung demokratischer Gesellschaften stehen. Gleichzeitig wird schon dort angedeutet, dass Geflüchtete auch innerhalb der prekären Sphäre des Politischen Möglichkeiten finden, Forderungen nach Teilhabe und Partizipation zu artikulieren. Auch 70 Jahre später sind Geflüchtete und Migrant*innen noch in vielfältiger Weise politisch ausgeschlossen. Deutschland und die EU haben Maßnahmen ergriffen, damit Asylsuchende die in den europäischen Staaten geltenden Schutzrechte gar nicht erst in Anspruch nehmen können. In den letzten Jahrzehnten hat sich gleichzeitig durch vielfältige Protestaktionen ein weltweites Aufbegehren geflüchteter Menschen gegen diese Verhältnisse entwickelt. Diese beiden Aspekte der Exklusion einerseits und des Kampfes um Teilhabe andererseits prägen die gegenwärtigen Debatten um Flucht und Demokratie.
Die Demokratieforschung hat sich lange Zeit auf den Staat konzentriert. Zuletzt wird jedoch verstärkt auf die Notwendigkeit hingewiesen, marginalisierte Perspektiven jenseits enger Staatlichkeit in die Betrachtung von Demokratie einzubeziehen. In der Philosophie sind es unter anderem deliberative Ansätze, die auf das normative Erfordernis der Einbeziehung der Anderen und deren Rechte aufmerksam machen. Sie betrachten Demokratie als einen kommunikativen Prozess, der auf Partizipation und Offenheit angelegt ist. Dadurch lassen sich auch politische Aushandlungsprozesse, in denen Geflüchtete Zugang zur politischen Gemeinschaft einfordern und die Grenzen eines bestehenden demos in Frage stellen, auf ihren demokratischen Gehalt hin untersuchen. Gleichwohl vermögen sie weniger die zugrundeliegenden Machtkonstellationen und produzierten Ausschlüsse zu erfassen. Hier eignen sich radikaldemokratische Ansätze, die Demokratie als eine widerständige Praxis verstehen, in der politische Regime mit Blick auf ihre territorialen und bürgerschaftlichen Grenzziehungen hinterfragt werden. Demokratische Praxis ereignet sich diesen Ansätzen zufolge dort, wo Geflüchtete als politische Subjekte in die Öffentlichkeit treten und ihren Status als Gleiche demonstrieren.
Zugleich wird in der sozialwissenschaftlichen Flucht- und Migrationsforschung diskutiert, wie staatliche Flucht-, Migrations- und Asylpolitik problematisiert werden kann, ohne migrantische Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. Viele Ansätze gehen heute davon aus, dass sich Grenzbildungen und Exklusionsprozesse nur unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens einer Vielzahl von Akteur*innen und Praktiken bestimmen lassen, die neben staatlichen Institutionen auch migrantische, zivilgesellschaftliche oder mediale Akteur*innen umfassen. Beiträge der letzten Jahre betonen die agency und Subjektivität Geflüchteter. Dazu gehört eine Vielzahl an empirischen Arbeiten, die u.a. die Selbstorganisation Geflüchteter, Proteste und/oder zivilgesellschaftliches Engagement auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene untersuchen.
Diese hier fokussierten Ansätze gehen davon aus, dass weder die Grenzen des demos noch die territorialen Grenzen demokratischer Staaten fix und unveränderlich sind. Da Demokratien ihre Institutionen und Verfahren prinzipiell für Diskussionen und unterschiedliche Meinungen offenhalten müssen, können Grenzregime, Migrations- und Asylpolitiken von allen Mitgliedern der Diskursgemeinschaft hinterfragt und neu verhandelt werden. Dadurch erweitert sich der demokratische Anspruch auf Gleichheit und Freiheit für alle, die (bisher noch) nicht zum demos gehören.
Von unterschiedlichen Zugängen zu interdisziplinären Fragestellungen
Ausgehend vom gemeinsamen Interesse an der Analyse von Exklusionsmechanismen und Teilhabemöglichkeiten lassen sich drei übergeordnete Fragestellungen identifizieren: erstens die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und territorialen Grenzen, zweitens die Frage nach Flucht und politischer Partizipation sowie drittens die Frage nach dem Zugang Geflüchteter zu Institutionen und Rechten.
Demokratie und territoriale Grenzen
Die sozialwissenschaftlichen Border Studies und die Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung zeigen, wie räumliche Bewegungen von Personen(gruppen) erst durch rechtliche Konstrukte zu (legaler und illegaler bzw. regulärer oder irregulärer) Migration werden. Flucht- und Grenzpolitik liegen dabei eng beieinander, wenn beispielsweise Visapolitik systematisch zum Ausschluss Asylsuchender genutzt wird. Solche nationalen Regelungen unterliegen oft rein bürokratischen Verfahren ohne demokratische Kontrolle. Dies wirft die Frage auf, ob nationalstaatliche und supranationale Grenzregime sowie (unilaterale) Grenzkontrollen grundsätzlich ein Demokratiedefizit aufweisen. Sollten nicht auch diejenigen, die der Gewalt von Grenzkontrollen unterworfen sind, ein Mitspracherecht über die politische Ausgestaltung von Grenzen haben?
Wie etwaige Legitimationsdefizite behoben werden könnten, wird kontrovers diskutiert: Forderungen reichen von einer Stärkung kosmopolitischer Institutionen mit deliberativen Strukturen bis zum transformativen Potenzial eines „radikal demokratischen Ungehorsams“, durch den repressive Grenzpolitiken in Frage gestellt werden. Für die demokratietheoretische Problematisierung des europäischen Grenzregimes sind darüber hinaus postkoloniale Ansätze zentral. Ausgehend vom nekropolitisch gedeuteten Grenzregime Europas stellt sich die Frage, welche Wege Geflüchtete angesichts einer systematischen und systemischen Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Leben finden können, um nicht nur zu überleben, sondern als politische Subjekte erkennbar zu werden. Hier spielen mitunter migrantische Netzwerke und pro-migrantischer Aktivismus eine wichtige Rolle, weil sie – beispielsweise durch Proteste gegen Abschiebungen – die gegenwärtigen Praktiken des Ausschlusses sichtbar machen.
Demokratisierung bürgerschaftlicher Grenzen – politische Partizipation
“Flucht” impliziert meist, dass jemand sein*ihr eigenes Land verlässt, Grenzen überquert und in einem anderen Land (vorübergehend) Schutz sucht bzw. dauerhaft sesshaft wird. Viele Geflüchtete und Migrant*innen haben anfangs oder auch über viele Jahre hinweg einen prekären Aufenthaltsstatus, sind von Abschiebung bedroht oder in die Illegalität gezwungen. Selbst diejenigen mit einer legalen Bleibeperspektive haben oft nur eingeschränkte politische Rechte. So sind das Wahlrecht und der Zugang zu politischen Institutionen meist an die Staatsbürger*innenschaft gebunden. Demokratietheoretisch stellt sich die Frage, welche Partizipationsmöglichkeiten Geflüchtete in den Ankunftsstaaten haben (sollten). Radikale und agonale Demokratietheorien eröffnen einen Perspektivwechsel, indem sie Demokratien von ihren Ausschlüssen her denken und dadurch zeigen, dass Demokratien immer wieder ihren normativen Anspruch auf Inklusion unterlaufen.
Empirische Partizipationsforschung untersucht dann die konkrete Ausgestaltung des politischen Aushandlungsprozesses und dessen Rahmenbedingungen. Für Geflüchtete sind die Hürden für Partizipation aufgrund fehlender (Staats-)Bürger*innenschaft und der Ausgestaltung der Migrations- und Asylpolitik besonders hoch. Nichtsdestoweniger können beispielsweise auch in Lagern und Unterkünften informelle Strukturen der Partizipation entstehen, die bestehende Hierarchien herausfordern. Konkret entfalten sich dabei in lokalen und situativen Kontexten Formen der Beteiligung wie beispielsweise durch die eigenwillige Zubereitung und Versorgung mit Nahrungsmitteln in Unterkünften, obwohl Strukturen des Migrations- und Asylsystems diese eigentlich verunmöglichen.
Demokratie und (Nicht-)Zugang zu Institutionen und Rechten
Politische Rechte sind an die Staatsbürger*innenschaft gebunden, die „Flüchtlingen“ per definitionem fehlt. In der demokratietheoretischen Fluchtforschung wird davon ausgegangen, dass eine Kritik am Konzept der Staatsbürger*innenschaft helfen kann, den (Nicht-)Zugang zu Institutionen und Rechten besser zu verstehen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie Geflüchtete Zugang zu politischen Rechten und Institutionen erhalten könnten.
Eine Argumentationslinie zielt darauf ab, die Hürden zur Erlangung der Staatsbürger*innenschaft zu senken. Eine weitere schlägt vor, das Wahlrecht von der Staatsbürger*innenschaft zu entkoppeln. Eine dritte Linie – die vor allem in den Citizenship Studies vertreten wird – argumentiert für eine Reinterpretation des Begriffs der Staatsbürger*innenschaft: Geflüchtete und andere Non-Citizens kämpfen durch widerständige Praktiken für ihre Rechte und handeln dadurch politisch – also wie Staatsbürger*innen. Damit realisieren sie performativ einen Status, den sie de facto (noch) gar nicht haben und bringen den Citizenship-Begriff selbst „in Fluss”, wodurch zugleich der völkerrechtliche Begriff des „Flüchtlings“ als Non-Citizen hinterfragt wird.
Eine interessante politische Entwicklung lässt sich in diesem Zusammenhang auf kommunaler Ebene beobachten, wenn sich Solidarity oder Sanctuary Cities für einen Zugang Geflüchteter und illegalisierter Menschen zu u.a. Bildung, medizinischer Versorgung und Sozialleistungen einsetzen. Unter dem Schlagwort Urban Citizenship entdeckt die Fluchtforschung hier einen politischen Handlungs- und Partizipationsraum für Geflüchtete sowie Potenzial für eine Transformation des nationalstaatlichen Ausschlusses.
Demokratisierung der Fluchtforschung
Auch die Forschungspraxis selbst kann daraufhin befragt werden, wie demokratisch sie ist. Die Demokratieforschung kann dabei helfen, kritisch die Probleme einer Fokussierung auf Geflüchtete als Forschungsobjekte zu benennen und Möglichkeiten zu eruieren, wie Geflüchtete an der Forschung teilhaben können: So argumentieren Ansätze in ethnographisch arbeitenden Kultur- und Sozialwissenschaften sowie im Rahmen der Border, Citizenship und Critical Migration Studies, dass es innerhalb der Forschung weder ein objektives Wissen noch einen (politisch) neutralen Standpunkt geben kann. Vielmehr sind Erkenntnisinteressen, Auswahl der Gegenstände sowie der Methoden und Theorien immer auch geprägt durch diejenigen, die diese Forschung betreiben. Folglich macht es einen Unterschied, ob Fluchtforschung aus der/den Perspektive(n) von Personen durchgeführt wird, die in privilegierten Positionen leben oder entlang der Perspektive(n) von Personen, die eigene Flucht- und Diskriminierungserfahrungen gemacht haben.
Ein anderer Ansatzpunkt innerhalb der qualitativen Sozialforschung wird darin gesehen, Geflüchtete in den Forschungsprozess so einzubeziehen, dass sie auf Ausrichtung und Design der Studien Einfluss nehmen können. Im Bereich der Demokratietheorie sind es zudem vor allem deliberative, radikaldemokratische und pragmatistische Ansätze, die versuchen, die Perspektive Geflüchteter begrifflich zu erschließen, um sie in normativen Diskursen etwa der Ethik oder des Rechts zur Geltung zu bringen. Darüber hinaus gibt es Bemühungen, diese Arbeit an Begriffen durch ethnographische Forschungen zu bereichern, um der idealtheoretisch ausgerichteten Philosophie ihren Lebensweltbezug zu sichern.
Zusammenfassung und Ausblick
Es wurden drei Problemkomplexe herausgestellt, die eine Agenda für eine zukünftige Fluchtforschung bilden könnten, die sich als Demokratieforschung versteht. Erstens sollten wir die Mechanismen der politischen Exklusion besser verstehen und untersuchen, wie sie in ihrer Kolonialität in nationalen, supranationalen und internationalen Institutionen und Verfahren verankert sind. Zweitens gilt es, die vorhandenen Teilhabemöglichkeiten von Geflüchteten zu analysieren und das Verhältnis zwischen Institutionen und Rechten, die Partizipation garantieren (sollen), sowie politischen Kämpfen um Anerkennung zu bestimmen. Schließlich wäre – drittens – zu fragen, wie Flucht- und Migrationsforschung partizipativer und damit demokratischer gestaltet werden kann, sodass die Erfahrungen und Perspektiven Geflüchteter besser berücksichtigt werden können, als dies bisher der Fall ist.
Bei diesem Text handelt es sich um eine Kurzfassung des Forumsbeitrags “Fluchtforschung als Demokratieforschung: Ein Dialog zwischen politischer Philosophie und empirischen Sozialwissenschaften“, in: Z’Flucht 6 (2), S. 284-302.