Geschichte und der aktuelle Stand der historischen Flüchtlingsforschung

Dieser Vortrag wurde beim Arbeitstreffen „Geschichte und Gedächtnis in der Flüchtlingsforschung” des DFG-Netzwerkes Grundlagen der Flüchtlingsforschung gehalten. Die originale Version des Vortrags (in Englisch) ist hier zugänglich.

 

Die aktuelle Flüchtlingsforschung umfasst viele Disziplinen, wobei Völkerrecht und Sozialanthropologie oft als die wichtigsten Felder in der Flüchtlingsforschung betrachtet werden. Aber das war nicht immer so. Sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen HistorikerInnen eine wichtige und zentrale Position bei der Erforschung der Flüchtlingspolitik ein: Dies gilt insbesondere für die Dokumentation und Interpretation der Flüchtlingspolitik in Europa sowie die Rolle der damals dort gegründeten internationalen Organisationen.

Als eigenständiges Forschungsfeld entstand die Flüchtlingsforschung in den 1980er Jahren und war größtenteils politikorientiert. Lang anhaltende Flüchtlingssituationen in Südost- und Südasien, am Horn von Afrika, im südlichen Afrika, in Mexiko und Zentralamerika sowie steigende Zahlen von Asylsuchenden in Europa und Nordamerika machten Flucht und Asyl zu dringenden und hervorstechenden politische Fragen. Durch die vietnamesischen Boatpeople, die kubanischen Flüchtlinge der Mariel-Bootskrise, die Bootsflüchtlinge aus Haiti, die Arbeit der US Select Commission on Immigration and Refugee Policy und die anschließende Verabschiedung des US-amerikanischen Flüchtlingsgesetzes 1980 erhielten Flüchtlingsfragen mehr Aufmerksamkeit von PolitikerInnen in den USA. In den frühen 1980er bis in die 1990er Jahre spielten US-amerikanische Stiftungen, insbesondere die Ford Foundation entscheidende Rollen bei der Unterstützung und Finanzierung früher Forschung und Veröffentlichungen zu Themen der Flüchtlingspolitik. Zudem finanzierte Ford die Gründung von politischen Flüchtlingsforschungs- und Advocacy-Gruppen, wie zum Beispiel die Refugee Policy Group, das Lawyers Committee for Human Rights und viele mehr.

In Kanada finanzierten Ford und andere Stiftungen die Gründung des Refugee Studies Center der York University in Toronto. Im Vereinigten Königreich gründete Barbara Harrell-Bond mit finanzieller Unterstützung politikorientierter Stiftungen das Refugee Studies Program. In Europa wurden wichtige Arbeiten in der frühen historischen Flüchtlingsforschung an der Lund University realisiert, vor allem über die Rolle von internationalen Organisationen und des internationalen Flüchtlingsregimes während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als sich die Flüchtlingsforschung als eigenständiges akademisches Feld herausbildete, wurden Fachzeitschriften wie das Journal of Refugee Studies und das Journal of International Refugee Law gegründet. 1990 wurde der Grundstein für die Internationale Vereinigung zur Erforschung von Zwangsmigration (IASFM) gelegt, die eine stetig steigende Zahl an Mitgliedern aus der ganzen Welt hat.

In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten hat sich die Flüchtlingsforschung von der ursprünglich engen Bindung an Advocacy und Politikgestaltung gelöst und sich zu einem unabhängigen wissenschaftlichen Forschungsfeld entwickelt. Dieses umfasst heute sowohl streng wissenschaftliche Forschung, die zu einer Reihe von Sozialwissenschaften, philosophischen und Rechtstheorien beiträgt, als auch auf Politik- und Praxisberatung konzentrierte Forschung.

Seit das Feld der Flüchtlingsforschung ausgereift ist, gewinnt die Geschichtswissenschaft und die Forschung von HistorikerInnen an Bedeutung und fächert sich breiter auf. Forschungsthemen, die zuvor vernachlässigt worden waren, wie die Geschichte der Vertreibung bei der Teilung Indiens 1948 (Yasmin Khan), die Geschichte der Zwangsvertreibung zur Zeit der Sowjetunion (Peter Gatrell) und die Geschichte der Repatriierung von Flüchtlingen (Katy Long, Marjoleine Zieck) und viele andere geraten nun in den Blick.

In den letzten Jahren haben HistorikerInnen bedeutende Beiträge zur Flüchtlingsforschung geleistet. Von besonderer Bedeutung sind die jüngsten Bemühungen, disziplinübergreifend zur Flüchtlingsforschung beizutragen.

Zum Beispiel geht Peter Gatrell in dem 2011 erschienenen Buch Free World? The Campaign to Save the World’s Refugees, 1956–1963 über den traditionellen Fokus auf internationale Organisationen und Staaten hinaus und untersucht die bedeutende Rolle, die transnationale Netzwerke und nichtstaatliche Akteure (darunter Freiwilligenorganisationen, Kirchen und private Stiftungen) mit ihren Forderungen nach Veränderungen und Perspektivwechseln sowie ihre Einflussnahme auf staatliche Haltungen gegenüber Flüchtlingen während der World Refugee Campaign 1959 bis 1961 spielten. Damit leistet die Studie von Gatrell nicht nur einen Beitrag zur Flüchtlingsgeschichte des frühen Kalten Krieges. Sie baut auch auf frühere Erkenntnisse von WissenschaftlerInnen der Internationalen Beziehungen über Advocay-Netzwerke und die Rolle von NGOs, um zu verdeutlichen, dass nichtstaatliche Akteure einen maßgeblichen Einfluss auf die Praktiken der Flüchtlingspolitik haben.

In seinem aktuellen Buch The Making of the Modern Refugee analysiert Gatrell nicht nur die Praktiken und Politiken von Staaten und internationalen Organisationen gegenüber Flüchtlingen. Er integriert auch die Erlebnisse einzelner Flüchtlinge und anderer Vertriebenen und macht diesen Aspekt zu einem zentralen Merkmal seiner Studie über die Flüchtlingspolitik im 20. Jahrhundert. Auf diese Weise schafft das Buch nicht nur Abhilfe gegen die vorherige häufig systematische Ausgrenzung von Flüchtlingen in historischen Studien. Es zeigt auch die Notwendigkeit neben den traditionellen historischen Quellen und Methoden auf weitere vielfältige Disziplinen und Felder zurückzugreifen wie etwa die Sozialanthropologie oder Romane, Gedichte, Filme, Lieder, persönliche Tagebücher und andere oft übersehende Quellen. Sie helfen, die Einzigartigkeit der Erfahrungen von Flüchtlingen, den Schmerz des Exils und die Geschichte und Folgen von Vertreibung zum Leben zu erwecken.

Diese und andere aktuelle Forschungsinitiativen von HistorikerInnen, die sich Theorien, Forschungsmethoden sowie Erkenntnissen anderer wissenschaftlicher Disziplinen im Bereich der Flüchtlingsforschung annehmen, sind vielleicht das vielversprechendste Zeichen für eine zukünftig wachsende Beteiligung von HistorikerInnen in diesem Forschungsfeld.

Die zukünftige Forschungsagenda von HistorikerInnen öffnet ein weites Feld. Um nur ein Beispiel zu geben: Die Septemberausgabe 2012 des Journal of Refugee Studies mit dem Titel The Refugee Issue in the Postwar World, 1945–1960 hob die eurozentrische Ausrichtung der meisten früheren historischen Studien über Flüchtlingspolitik und insbesondere das internationale Flüchtlingsregime hervor, welches nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet wurde. Während hierdurch Millionen von Menschen in Europa vertrieben wurden, führten Kriege und Kriegsfolgen in Asien und anderen Regionen zu genauso vielen, wenn nicht sogar mehr Flüchtlingen und Vertriebenen. Das wurde bisher von HistorikerInnen nicht ausreichend gewürdigt. Folglich besteht ein dringender Bedarf an mehr historischer Forschung über die Flüchtlingskrisen außerhalb Europas sowohl während des Zweiten Weltkrieges als auch der frühen Nachkriegszeit. Auch haben sich GeschichtswissenschaftlerInnen bisher fast ausschließlich auf die Rolle und das Wachstum des UNHCR konzentriert und dabei die Geschichte und Relevanz von vielen parallelen internationalen Flüchtlingsorganisationen während des Zweiten Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit ignoriert. Die erheblichen Forschungslücken über diese wichtige Zeit bieten HistorikerInnen zahlreiche Möglichkeiten, diese Verzerrung durch neue Forschungsvorhaben zu beheben.

Schließlich ist historische Forschung nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Praxis wertvoll. Die Flüchtlingsforschung spielt weiterhin eine wichtige beratende Rolle für besser informierte und effektivere Flüchtlingspolitiken und -praktiken. Das ist vor allem in Zeiten globaler Flüchtlingskrisen von Bedeutung. Die Geschichte und die Reflexion über die Vergangenheit sind unter diesen Bedingungen sehr wichtig. Viele der aktuellen Probleme und Dilemmata des internationalen Flüchtlingsregimes sind zeitlos und stellen sich nicht zum ersten Mal. Gleichwohl neigen, wie Alexander Betts und andere anmahnen, staatliche und internationale Organisationen dazu, die aktuelle Flüchtlingskrise als präzedenzlos zu betrachten und dabei Lehren aus der Vergangenheit zu ignorieren. Dem UNHCR und der internationalen Gemeinschaft fehlt meist eine historische Perspektive auf vergangene Operationen, Politik und Praxis und sie versuchen ständig ‚das Rad neu zu erfinden‘. HistorikerInnen können uns an vergangene Antworten auf Flüchtlingskrisen erinnern und uns Instrumente an die Hand geben, mit denen wir vergangene Präzedenzfälle untersuchen können. Wenn das internationale Flüchtlingsregime die Gründe für vergangene Erfolge und Misserfolge verstehen kann, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für bessere und effektivere Politiken heute und in der Zukunft.

 

Vielen Dank an Dorothee Fees, Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg für die Übersetzung! 

 

 

 

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