Nur etwa 1% aller Flüchtenden im Universitätsalter weltweit haben Zugang zu Hochschulbildung. Das geisteswissenschaftliche Angebot ist noch begrenzter. Das Global History Lab an der Universität Princeton bietet sowohl einen Massive Open Online Course (MOOC) als auch einen Small Private Online Course (SPOC) mit Fokus auf Globalgeschichte und historische Forschung an, die es Flüchtenden und Lernende aus den Aufnahmeländern ermöglichen, zusammen in einem internationalen und digitalen Lernumfeld zu studieren.
In seinem Artikel „Refugees and History: Why we must address the past” (2007) zeigt Philip Marfleet auf, dass Flucht- und Flüchtlingsstudien und Geschichtswissenschaften historisch überwiegend getrennte Wege gingen. Dieser Blogpost macht es sich zur Aufgabe Projekte aus der Geschichtswissenschaft, welche innovative Lösungsansätze für das Problem der Integration von Stimmen von Geflüchteten in historischen Erzählungen aufgreifen, vorzustellen. Der Beitrag stellt insbesondere zwei Lehrangebote in der Globalgeschichte vor, die das Global History Lab der Princeton Universität für Flüchtlinge und nicht-Flüchtlingsstudierende aus der ganzen Welt anbietet. Ich selbst nehme an diesen Programmen seit 2016 teil, zunächst als Lehrbeauftragte für das Global History Lab im Kakuma Flüchtlingslager in Kenia und zurzeit als Entwicklern und Dozentin des History Dialog Projektes. Ich hoffe mit diesem Blogpost einen Diskussionsimpuls über das gemeinsame horizontale Lehren und Forschen mit Flüchtlings- und Gastlandstudierenden in den Geisteswissenschaften zu setzen.
Hochschulbildung von Flüchtlingen
Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) haben weniger als 1% aller Flüchtlinge im Studienalter Zugang zu tertiärer Bildung; im Vergleich zu 34% der jungen Erwachsenen im Allgemeinen. Erschwerend kommt hinzu, dass von den ungefähr 70,8 Millionen Zwangsvertriebenen weltweit, unter denen 25,9 Millionen Flüchtlinge sind, über 80% in Entwicklungsländern leben, wo der tertiäre Bildungssektor ohnehin überlastet und unterfinanziert ist. In Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es „der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen”. Dies ist für die überwältigende Mehrheit der Geflüchteten jedoch bloße Theorie, da es gerade im Kontext der Flucht in Camps nicht nur an Verfügbarkeit, sondern auch an Zugänglichkeit des Hochschulangebots fehlt. In der UNHCR Bildungsstrategie 2012-16 wurde die Zentralität von Hochschulbildungsmöglichkeiten für Flüchtlinge anerkannt, jedoch steckt die Umsetzung dieses Schwerpunktes immer noch in den Kinderschuhen. Die Angebote von Princetons Global History Lab setzen genau hier an und verstehen sich als Experiment humanitären Lernens.
Das Global History Lab
Das Global History Lab (GHL) ist zugleich ein Massive Open Online Course, ein sogenannter MOOC, über Globalgeschichte und ein Experiment zu humanitärer Hochschulbildung. Dieses Lernumfeld verbindet Flüchtlinge in Europa, Afrika und dem Mittleren Osten mit Studierenden aus der ganzen Welt, auch an der Universität Princeton. Für eine Teilnahme der Flüchtlinge muss ihre Hochschulzugangsberechtigung vorliegen und sie sollten über ausreichend Englischkenntnisse verfügen. Ihre Teilnahme wird, wenn nötig, finanziell unterstützt, so dass diese Studierenden sich z.B. die Anfahrten zu Lern- und Internetzentren leisten können. Der Kurs und die benötigten Materialien stehen den Teilnehmenden kostenlos zur Verfügung. Princetons Global History Lab stellt eine Teilnahmebescheinigung aus, Leistungspunkte werden über die Partnerorganisationen vergeben. Dieser Kurs strebt ein besseres Verständnis von globaler Integration – aber auch von Desintegration – an, beispielsweise durch Gruppendiskussionen von Fallbeispielen aus der Globalgeschichte, vom Handel entlang der Seidenstraße bis zu den globalen Auswirkungen des Kalten Krieges. Die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg soll durch eine horizontale und kollaborative Unterrichtsphilosophie unterstützt werden. Teams von Studierenden bearbeiten gemeinsame historische Probleme und stellen ihre Arbeiten in einem gemeinschaftlichen Online-Galerieraum aus.
Es gibt zwei ineinandergreifende Ziele des Kurses. Zum einen soll Globalgeschichte global gelernt werden. Alle Studierenden beschäftigen sich mit der Geschichte der Welt von 1300 bis zur Gegenwart, indem sie thematische Schwerpunkte wählen (z.B. Staatenlosigkeit; Krieg; Handel und Integration; Wissenschaft, Medizin und globale Gesundheit). Studierende diskutieren die Dynamiken von globaler Integration und Fragmentierung von Dschingis Khan bis zu der jüngsten Rohingya Krise. Zum anderen strebt der Kurs an, die Lücke zwischen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen zu überbrücken. Mit Hilfe von Online-Technologien und jungen Lehrbeauftragten, die in Fernkursen und Notfallzonenprotokollen für den Einsatz in Flüchtlingscamps ausgebildet wurden, wird ein Online- und Offline-Ökosystem kreiert, indem Nichtflüchtlinge und ihre geflüchteten KommilitonInnen voneinander lernen.
Im Herbst 2016 wurde dieser Kurs mit Unterstützung von InZone und dem UNHCR in Flüchtlingslagern, zunächst in Kakuma in Kenia und Azraq in Jordanien und in urbanen Flüchtlingskontexten wie z.B. in Amman in Jordanien, angeboten. Mittlerweile sind neue Partner hinzugekommen, die die Vorauswahl der Studierenden treffen, die Infrastruktur bereit stellen und den Kurs gegebenenfalls in ihre Curricula integrieren sowie Leistungspunkte vergeben: Kepler in Kigali/Rwanda, Kiron mit Sitz in Amman über die Studierende innerhalb der MENA Region eingebunden werden, die Whitaker Peace and Development Initiative in der Flüchtlingssiedlung Kiryandongo in Uganda, Sciences Po Paris, und die Panteion Universität in Athen. Eine Partnerschaft mit der Universität Potsdam ist in Planung.
Seit ich 2016 als Lehrbeauftragte für das GHL im Kakuma Flüchtlingslager Globalgeschichte unterrichtete ist viel passiert. Im Herbst 2017 führte ich einen weiterführenden Workshop zur Methode des Life History Writing mit AbsolventInnen des GHL durch. Inspiriert von diesen Erfahrungen und vielen Gesprächen mit den Studierenden konzipierte ich ein Folgeprojekt für erfolgreiche und interessierte AbsolventInnen des GHLs, welches sich seit April 2019 in der Pilotphase befindet: das History Dialogue Projekt.
Das History Dialogue Projekt
Die Grundidee des History Dialogue Projektes (HDP) ist es, Flüchtlingsstudierende, also KonsumentInnen von historischem Wissen, zu ProduzentInnen eben dieses Wissens auszubilden. Hierbei geht es nicht nur darum, im Unterricht Primär- und Sekundärquellen gemeinsam zu interpretieren und sowohl mündlich als auch schriftlich argumentativ darzustellen wie die Studierenden es im GHL tun. Vielmehr geht es um die Aktivierung historischer Forschung junger Geflüchteter. Durch diese Arbeiten soll Raum für Dialog geschafft werden, um Globalgeschichte auch durch Narrative der Vertriebenen, erzählt und kontextualisiert von Ihnen selbst, zu erschließen. Der neun Monate dauernde Kurs ist in fünf Abschnitte gegliedert, wobei Flüchtlingsstudierende zunächst in Methoden wie Oral History ausgebildet werden und ethische sowie Sicherheitsfragen bezüglich der geschichtswissenschaftlichen Forschungsvorhaben reflektieren. In einem zweiten Teil geht es sowohl um die theoretische Reflektion von Narrativen und Storytelling-Initiativen als auch um die Konzeption eines jeweils eigenen Forschungsprojektes. Im dritten Teil werden die Studierenden in ihrer Feldarbeit angeleitet, bevor sie im vierten Teil ihre Ergebnisse ausarbeiten und diese im fünften und letzten Teil des Kurses vorstellen und diskutieren.
Bei diesem Projekt geht es nicht darum, über die realen Machtverhältnisse in der Wissensproduktion und die materiell und ökonomisch ungleichen Bedingungen des Nord-Süd-Verhältnisses oder über die asymmetrische soziale Position von westlichen WissenschaftlerInnen gegenüber den Geflüchteten hinwegzutäuschen. Es geht vielmehr darum, es den Studierenden durch Wissensvermittlung und gemeinsame kritische Reflektion sowie auch durch Zurverfügungstellung notwendiger materieller Ressourcen zu ermöglichen, lokale Geschichten ihrer Wahl im globalgeschichtlichen Kontext darzustellen. Damit ändert sich auch die Sichtweise der Studierenden auf ihre Welt. In den Worten eines äthiopischen Studenten:
“I become a historian who is able to consciously and systematically observe the environment and different happenings, create relationships, co-construct and interpret narratives by linking them to the past; think about the context, causes, and forces that brought such happenings; and also look for similar happenings around the world to see the global picture. In general, it is a new experience that makes me see and interpret life in more complete form”.
Damit verbunden ermöglicht das HDP auch eine Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs als AutorInnen eigener Beiträge. Diese Teilnahme nimmt ganz unterschiedliche Formen an, die auf die individuellen Bedürfnisse der Studierenden zugeschnitten sind. Manche bewerben sich bei Konferenzen und schreiben wissenschaftliche Artikel oder bereiten Präsentationen für ihr Umfeld vor. Andere sind aus Ihrer eigenen Geschichte heraus motiviert, ihrer Forschungsfrage nachzugehen, möchten diese aber zunächst noch nicht mit einer breiteren Öffentlichkeit teilen.
Diese Art von direkter Arbeit mit Flüchtlingen birgt neben aller Bestätigung und Freude auch ein paar Risiken und Frustrationen. Einige bringen alte und neue Traumata von ihrer Flucht und ihrem Campleben mit, andere haben Hoffnungen und Zukunftsträume, die sie in die Bildungsmöglichkeiten und die Beziehung mit den Lehrenden und Mitstudierenden setzen. Dann gibt es die Herausforderung, das Campleben oder Flüchtlingsleben in Metropolen mit einem zu einem gewissen Grad flexiblen aber trotzdem fremdbestimmten Studienplan in Einklang zu bringen. Es geht aber auch um banalere Frustrationen mit schwankenden Internetverbindungen und dem unregelmäßigen Zugang zu Computern. Trotz dieser Frustrationen sind die Studierenden meist sehr optimistisch was Blended-Learning Kurse mit Online Komponenten angeht. Ein syrischer Student erzählt:
“For me, the internet itself (…) was my greater self-education chance. (…) In the absence of HDP I think I would lose my road somehow, so it is a great compass for me. (…) In addition, it gives me a great social ambience instead of solo studying. (…) I think we have gotten tired of the old educations systems and need to try something new.”
Die Saat beginnt aufzugehen
Gerade habe ich die Abstracts der sechs Studierenden kommentiert, die ihre Forschung auf einer internationalen Konferenz zum Thema Zwangsmigration vorstellen möchten und den Antrag eines Studierenden durchgesehen, der sich bei der National Geographic Society um Unterstützung für seine neue unabhängige historisch-dokumentarische Gesellschaft beworben hat, um die Geschichte des Kakuma Flüchtlingscamps aus der Perspektive einiger Langzeitbewohner zu portraitieren. Die Geschichten, die die Studierenden erzählen, sind vielfältig, doch was Sie verbindet, ist, dass Studierende ihre lokale Expertise einsetzen, um mit Hilfe von Oral History Interviews, Beobachtung und lokalen Textquellen ihre Projekt im Rahmen von globalgeschichtlichen Themenkomplexen zu erzählen. So entstehen gerade Arbeiten wie sie nicht im globalen Norden hätten entstehen können. Es gibt vieles, was sich in der Umsetzung des Pilotprojektes noch verbessern lässt, doch es bewegt sich etwas. Die Saat beginnt aufzugehen und mehr Menschen in Konfliktregionen haben Zugang zu den Werkzeugen und Möglichkeiten, historische Narrative nicht nur kritisch zu hinterfragen, sondern auch ihre eigenen Geschichten zu erzählen.