Von Ulrike Krause und Janna Wessels
Anlässlich des Weltflüchtlingstags, der seit 2001 jährlich am 20. Juni stattfindet, reflektieren wir in diesem Beitrag die internationalen Entwicklungen von Flucht und Flüchtlingsschutz und diskutieren drei zentrale Herausforderungen. Dabei gehen wir auf den kürzlich veröffentlichten Bericht über globale Trends 2016 des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) ein.
Aktuelle Trends
Im Laufe des Jahres 2016 wurde bereits von anhaltender Flucht etwa aus Syrien oder im Jemen wie auch wiederaufflammenden Krisen wie im Südsudan berichtet, doch der aktuelle ‚Global Trends Report 2016‘ von UNHCR legt nun umfassende Zahlen vor. Ende 2016 gab es weltweit 65,6 Mio. ZwangsmigrantInnen: 22,5 Mio. Flüchtlinge, 40,3 Mio. Binnenvertriebene und 2,8 Mio. Asylsuchende. Hinzu kommen mindestens 10 Mio. Staatenlose sowie viele Menschen, die in keine dieser Rechtskategorien fallen wie klima- und umweltbedingte Geflüchtete.
Welche Entwicklungen sind erkennbar? Die Zahl der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden stieg von 2012 mit 35,8 Mio. Menschen auf 2016 um ca. 45% an. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge stammen aus drei Ländern: Syrien (5,5 Mio.), Afghanistan (2,5 Mio.) und Südsudan (1,4 Mio.). Zudem befinden sich mit 84% die meisten Flüchtlinge in Entwicklungsländern im Globalen Süden. Während hierzulande politisch und medial häufig der Anschein erweckt wird, dass Flüchtlinge mehrheitlich nach Deutschland bzw. Europa fliehen würden, offenbaren diese Daten ein gegensätzliches Bild: Die meisten Flüchtlinge fliehen aus Heimatländern in benachbarte Aufnahmestaaten und bleiben in ihren konfliktgeprägten Herkunftsregionen. Diese globale Verteilung wird mit Fokus auf Binnenvertriebene, also jene Menschen, die innerhalb ihrer Herkunftsländer geflohen sind, noch deutlicher. Es gibt nahezu doppelt so viele Binnenvertriebene wie Flüchtlinge und sie befinden sich fast ausschließlich in südlichen Regionen.
Diese Entwicklungen sind keineswegs neu, sondern knüpfen an Trends der Vorjahre an. Bereits 2015 wurde von einem neuen Höchststand geflüchteter und vertriebener Menschen berichtet – der 2016 abermals überholt wurde. Die weiterhin steigenden Trends sind in neuer Vertreibung, aber vor allem auch in langwierigen Flüchtlingssituationen begründet: 2016 gab es etwa 10,3 Mio. neue Vertriebene (2015 waren es 12,4 Mio. und 2014 13,9 Mio.). Dieser vergleichsweise geringe Anteil an 65,6 Mio. ZwangsmigrantInnen weltweit zeigt, dass das hohe Ausmaß geflüchteter Menschen vor allem durch langanhaltende Flüchtlingssituationen geprägt, die aufgrund fehlender dauerhafter Lösungen entstehen. UNHCR definiert Langzeitsituationen (engl. protracted refugee situations) als solche, bei denen 25.000 oder mehr Flüchtlinge derselben Nationalität seit mindestens fünf Jahren in einem bestimmten Asylland leben. Wenn palästinensische Flüchtlinge nicht mitgerechnet werden, waren Ende 2016 67% der Flüchtlinge (11,6 Mio.) in solchen Langzeitsituationen. Mehr als die Hälfte dauert bereits länger als 10 Jahre an, teilweise sogar länger als 30 Jahre.
Zentrale Herausforderungen
Aus diesen anhaltenden Trends können drei schwerwiegende und zusammenhängende Herausforderungen für das Flüchtlingsregime abgelesen werden: Probleme in der Teilung von Verantwortungen von Staaten, mit dem Finden dauerhafter Lösungen sowie in den Bedingungen für Flüchtlinge.
Im Flüchtlingsschutz ist die internationale Zusammenarbeit der Staaten unabdingbar. Darauf weist auch die Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) hin, allerdings sieht die GFK keinen Mechanismus zur Verantwortungsteilung vor. Die Entkopplung von Schutz und Verantwortungsteilung kann einerseits als Stärke des Systems gelesen werden: Nur so konnte die Konvention von einer so hohen Zahl an Staaten (aktuell: 145) ratifiziert werden. Andererseits stellt das Fehlen eines Systems zur Verantwortungsteilung gleichzeitig die größte Schwäche des Regimes dar. Flüchtlingsschutz ist ein Global Public Good. Während alle davon profitieren, scheinen Staaten nicht bereit, es selbst und im ausreichenden Maße zu gewährleisten.
Im Ergebnis ist der einzige Mechanismus zur Verantwortungszuschreibung im Flüchtlingsrecht das non-refoulement-Prinzip. Es ergibt sich aus Art. 33 GFK, gemäß dem kein Staat eine Person in ein Land zurückschieben darf, in dem ihm oder ihr Verfolgung aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Mitgliedschaft in einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Meinung droht. Das heißt, dass der Staat, in dem ein Flüchtling um Schutz ersucht, verpflichtet ist, diesen Schutzanspruch zu prüfen. Wenn eine Person einmal in den Hoheitsbereich eines Staates fällt, ist dieser für die Person verantwortlich. Es ist also ein System, das Anreize für Staaten setzt, das Ankommen von Flüchtlingen auf ihrem Staatsgebiet zu vermeiden. Dafür wird eine Reihe von sog. interception measures eingesetzt, wozu die Visumspflicht ebenso auch Sanktionen für Transportunternehmen (engl. carrier sanctions) zählen. Die Visumspflicht für alle Staaten, aus denen Menschen fliehen, ist der „expliziteste Blockademechanismus” für Asylsuchende. Kombiniert wird er mit Sanktionen für Fluggesellschaften, die als „Umsetzungsmechanismus“ für die Visumspflicht fungieren: Transportunternehmen müssen Geldstrafen zahlen, wenn sie Personen ohne gültige Einreisepapiere auf das Territorium eines Staates bringen. Zur Vermeidung dienen sog. Airline Screening Maßnahmen – Regierungen und die International Air Transport Association bilden Beschäftigte von Fluggesellschaften in der Identifikation von gefälschten Papieren aus. Außerdem stellen Staaten aus dem globalen Norden Immigrationskontrollbeamte an Flughäfen in Ländern im globalen Süden ab, wo sie in der Dokumentenkontrolle beraten und ausbilden. Insgesamt entsteht so ein System, das durch die Verhinderung der Aus- bzw. Weiterreise den meisten Flüchtlingen effektiv die Möglichkeit zur legalen Migration verwehrt. Dadurch wird einerseits das globale Ungleichgewicht in der Verteilung der Flüchtlinge erhalten. Andererseits sind Flüchtlinge gezwungen, auf irregulären Routen zu fliehen.
Auch für die nötigen Schutzmaßnahmen für die auf diese Weise in ihren Herkunftsregionen gehaltenen Menschen ist kein allgemeines System zur Verantwortungsteilung etabliert worden. Die Vereinten Nationen übernehmen nur administrative Kosten von UNHCR, wobei operative Maßnahmen (also z.B. das Betreiben von Flüchtlingscamps) durch ‚freiwillige Beiträge‘ von Staaten und anderen Gebern zu tragen sind. Daher können Staaten nicht nur entlang ihrer geopolitischen Interessen Gelder vergeben, zudem muss UNHCR jährlich um Förderung betteln. So war etwa die humanitäre Hilfe für syrische Flüchtlinge in der Region Ende 2016 43% und jene für südsudanesische Flüchtlinge 68% unterfinanziert. Im Endeffekt bedeutet dies für Flüchtlinge, dass sie weniger Leistungen wie Nahrung, Wasser, Unterbringung, medizinische Versorgung und Bildung erhalten können.
Dies betrifft nicht nur die Bereitstellung von Schutz und ihre (finanzielle) Unterstützung, sondern auch die Suche nach dauerhaften Lösungen für die betroffenen Personen in Fluchtsituationen. Den steigenden Zahlen von Geflüchteten stehen einem anhaltend geringem Ausmaß von dauerhaften Lösungen gegenüber. Als ‚dauerhafte Lösungen‘ werden die Maßnahmen bezeichnet, die eine Fluchtsituation langfristig beenden. Dazu zählen freiwillige Rückkehr in Heimatländer, Umsiedlung in sichere Drittstaaten (engl. resettlement) und dauerhafte lokale Integration. 2016 konnten nur 552 200 Flüchtlinge in Herkunftsländer zurückkehren, 189 300 umsiedeln und sich 23 000 lokal integrieren. Obwohl die Zahlen zum Vorjahr etwas gestiegen sind, wurde lediglich für 4,4% der Flüchtlinge weltweit eine dauerhafte Lösung gefunden.
Dieser geringe Umfang muss mit einer ungenügenden Kooperation von Staaten und einer mangelnden Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme verbunden werden – sowohl in Flüchtlingssituationen als auch in der Bearbeitung der Fluchtursachen. Denn solange Staaten nicht ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen erklären, können Flüchtlinge weder umsiedeln noch sich lokal mit Perspektive auf Bleiberecht integrieren. Und solange gewaltsame Konflikte in Herkunftsländern anhalten, können die Menschen auch nicht dorthin zurückkehren. Genau dies prägt jedoch die globalen Entwicklungen im Flüchtlingsschutz seit den 1960er Jahren: Staaten zögern, Flüchtlinge aufzunehmen und konzentrieren sich auf die ‚freiwillige Rückführung‘, die indes aufgrund langwieriger Konflikte selten umsetzbar ist.
Dadurch liegt der Fokus zunehmend auf der viel zitierten „Fluchtursachenbekämpfung“ bzw. Minderung von Fluchtursachen. Die Bundesregierung konzentriert sich hierbei auf die Entwicklungszusammenarbeit und verfolgt die Logik, dass eine strukturelle Verbesserung von Lebensverhältnissen die Flucht von Menschen vermeiden würde. Jedoch scheitert diese Logik daran, dass die meisten Menschen vor gewaltsamen Konflikten fliehen, die erreichte Fortschritte binnen kurzer Zeit schwächen. Fluchtursachen zu minimieren bedeutet somit essentiell Konflikte (bestenfalls mit zivilen Mittel) zu bearbeiten, was eine Entwicklungszusammenarbeit im Kriegsfall kaum leisten kann. Vielmehr zeigt sich, dass Flüchtlingssituationen (Aufnahmeland) und Fluchtursachen (Herkunftsland) in unterschiedlichen Regionen sind, in denen unterschiedliche Akteure tätig werden. UNHCR hat bspw. nichts mit der Bearbeitung von Fluchtursachen zu tun, sondern konzentriert sich auf den Schutz von geflüchteten Gruppen. Während die Entwicklungszusammenarbeit kein Instrument gegen Fluchtursachen ist, kann sie einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Flüchtlinge in Aufnahmeländern leisten, indem der humanitäre Schutz ‚entwicklungsorientiert‘ komplementiert wird.
Diese Aspekte wirken sich immens auf Flüchtlinge, also die Familien, die Frauen, Männer, Kinder und Älteren aus. Sie müssen häufig über Jahre bis hin zu Jahrzehnten in Ungewissheit über ihre Zukunft im Exil bleiben. Nach wie vor werden sie häufig in Flüchtlingslagern untergebracht, die als Übergangräume für den Flüchtlingsschutz geschaffen werden, sich aber aufgrund von Langzeitsituationen zu begrenzten Lebensräumen entwickeln. Die Lager dienen vor allem auch der Kontrolle der Menschen durch staatliche und humanitäre Institutionen und weisen in vielerlei Hinsicht prekäre Bedingungen auf. Flüchtlingslager befinden sich meist in ländlichen Regionen, physisch und ökonomisch weitgehend von der Außenwelt abgeschottet. Trotz bereitgestellter Schutzleistungen sind die Menschen dort mit vielen Probleme konfrontiert. Zusätzlich zu rechtlichen und strukturellen Restriktionen wie fehlende Arbeitsmöglichkeiten sind sie diversen Gefahren ausgesetzt. Insbesondere Frauen und Mädchen können sexueller und geschlechterbasierter Gewalt zum Opfer fallen. Aufgrund der vielfältigen Einschränkungen und Risiken werden Flüchtlingslager häufig mit ‚Warenhäusern‘ verglichen, „a form of human warehousing and ‚storage‘ of refugees“. Auf die ohnehin limitierten humanitären Leistungen bleiben sie meist angewiesen und wenn Finanzierungen unzureichend sind, intensivieren sich diese Gefahren und Einschränkungen abermals.
Auch wenn UNHCR um eine ausgewogene Berichterstattung bemüht ist und immer auch über positive Entwicklungen berichtet, ist die jährliche Veröffentlichung der Global Trends dennoch ein schmerzliches Zeugnis von der politischen Bankrotterklärung der Staaten. Die Ursachen für die zentralen Herausforderungen des Flüchtlingsregimes sind lange bekannt – dennoch mangelt es weitgehend an politischem Willen zu einer besseren Verantwortungsteilung, die die Möglichkeiten für dauerhafte Lösungen verbessern und damit die Situation der Betroffenen und auch die Lage der Staaten im globalen Süden, die den Löwenanteil der Schutzleistungen übernehmen, verbessern würden.
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