Die Flüchtlingskrise schürt Diskussionen um eine Renationalisierung Europas. Neue temporäre Grenzkontrollen an europäischen Binnengrenzen wie der deutsch-österreichischen Grenze zeigen, dass Staaten vermehrt zu „Selbsthilfemaßnahmen“ greifen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und eine funktionierende Flüchtlingspolitik zu ermöglichen, sollte die halbherzige europäische Integration in Asylfragen fertiggestellt werden und die EU mehr Durchgriffsrechte erhalten.
Die Frage, wie die Flüchtlinge gerecht innerhalb der Europäischen Union (EU) aufgeteilt werden kann, erhitzt die Gemüter. Laut EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sollen 160.000 Flüchtlinge von Griechenland, Italien und Ungarn in andere EU-Staaten gebracht werden und ein „permanenter Umverteilungsmechanismus“ geschaffen werden. Obwohl das Europäische Parlament die Kommission unterstützt, gilt es abzuwarten, inwieweit die EU-Mitgliedsstaaten diese Pläne zulassen werden. Denn die EU tut sich schwer damit, offene Binnengrenzen und eine gemeinsame Asylpolitik unter einen Hut zu bringen. Die EU-Mitgliedstaaten wollen und brauchen offene Grenzen, um wirtschaftlichen Wachstum zu erzielen. Aber ihre oft eng verstandenen „nationalen Interessen“ stellen ein Hindernis für ein gemeinsames Vorgehen in europäischen Asylfragen dar.
Das Dilemma
Internationales Recht, im Speziellen die Genfer Flüchtlingskonvention, verpflichtet die Regierungen der EU zum Schutz von Flüchtlingen. Die EU hat es bis jetzt aber noch nicht geschafft, ein solidarisches und gerechtes Asylsystem zu schaffen. Dies betrifft im Speziellen die Verteilung von Flüchtlingen in Europa. Die reicheren, nördlichen Mitgliedstaaten der EU haben ihre Nachbarstaaten in den Schwitzkasten des Dublin-Systems genommen. Mit einer Politik von „Schengen-related carrots and sticks“ wurden EU-Randstaaten wie Italien und Griechenland dazu gebracht, die Dublin- und Eurodac-Regeln zu akzeptieren. Dies bedeutet, dass sie für die meisten Flüchtlinge zuständig gemacht wurden, die die EU über ihre Außengrenzen betraten. Auch der EU-Beitritt der ost- und mitteleuropäischen Länder wurde mit deren Zustimmung zu den bestehenden EU-Asylregeln verknüpft. Gleichzeitig wurden die nationalen Asylsysteme nur halbherzig harmonisiert. Es macht für die meisten Flüchtlinge noch immer einen großen Unterschied, ob sie ihren Asylantrag in Ungarn oder in Schweden stellen.
Das Ergebnis dieser Politik ist suboptimal. Von Anfang an gab es Vorwürfe, dass gewisse Staaten an der EU-Außengrenze die Dublin-Regeln ignorieren würden. Flüchtlingen würden keine Fingerabdrücke abgenommen werden, sodass sie in anderen EU-Staaten einen Asylantrag stellen können.
In der aktuellen Flüchtlingskrise sind die EU-Staaten von einer versteckten Nicht-Einhaltung zu einer offenen Ablehnung der Dublin-Regeln übergegangen. „Nationale Selbsthilfemaßnahmen“ sollen die ankommenden Flüchtlinge vom eigenen Land fernhalten und auf andere Länder umlenken. Deutschland und zum Teil auch Österreich stellten hierbei für einige Zeit eine bemerkenswerte Ausnahme dar, als sie Flüchtlinge aus Ungarn willkommen hießen. Dennoch ähnelt die aktuelle Situation im Großen und Ganzen einem flüchtlingspolitischen Schwarzer-Peter-Spiel, bei dem jede Regierung darauf bedacht ist, die Zahl der Flüchtlinge in ihrem Staat zu begrenzen. Das Fehlen einer produktiven Zusammenarbeit fügt der EU als Ganzes eine Niederlage zu. Die Bürger der EU verlieren ihren Glauben in die Lösungskompetenz der EU, und den betroffenen Flüchtlingen droht eine menschenunwürdige Behandlung.
Was tun?
Das Ausmaß der ankommenden Flüchtlinge ist für die EU überraschend gekommen. Kann die EU das bestehende Asylsystem beibehalten, wenn die Asylantragszahlen wieder abnehmen? Dies könnte funktionieren. In den 1990er Jahren gab es schon einmal eine Debatte um die Einführung eines Quotensystems für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Als deren Zahlen aber wieder sanken, verstummte auch diese Diskussion. Angesichts des syrischen Bürgerkriegs und der Umbrüche im arabischen Raum ist von einer ähnlichen Entwicklung in der aktuellen Situation aber nicht auszugehen.
Ist daher das wahrscheinlichste Szenario tatsächlich eine „Renationalisierung Europas“, wie mehr und mehr Beobachter vorhersagen? Dies bedeutet, dass die Macht und Interessen einzelner Nationalstaaten ohne Rücksicht auf europäische Solidarität und/oder die Lage anderer Staaten voran gestellt werden. Die negative Dynamik der aktuellen Krise deutet darauf hin – es fehlt der politische Wille zur staatlichen Zusammenarbeit. Im Speziellen in Parteien rechts der Mitte scheint eine Rückkehr zu innereuropäischen Grenzkontrollen eine Perspektive, die an Akzeptanz gewinnt. Mitte September 2015 beendete Deutschland den Zeitabschnitt, in dem Flüchtlinge ungehindert einreisen konnten, und führte vorübergehende Grenzkontrollen zu seinem Nachbarland Österreich ein – andere Staaten folgten. Diese Maßnahmen sollen erwirken, dass Flüchtlinge in dem Land bleiben, in dem sie sich befinden.
Aber diese Politik hat ihren Preis. Der Wettbewerb der Nationalstaaten, wer am besten die Verantwortung für Asylfragen auf Nachbarstaaten auslagern kann, droht zuzunehmen. Sollten Grenzkontrollen ihren vorübergehenden Charakter verlieren, kann dies das Ende der Reisefreiheit innerhalb der EU bedeuten. Handel und wirtschaftlicher Austausch werden mit Hindernissen zu kämpfen haben.
Die Alternative
Die Alternative ist, mehr „Europa“ zuzulassen. In diese Richtung gehen auch die Vorschläge der Kommission. Eine Reform der EU-Asylpolitik sollte eine rechtlich verpflichtende Quote für die Verteilung der Asylsuchenden innerhalb der EU beinhalten. Auch sollten die EU-Mitgliedstaaten nicht nur eine oberflächige Harmonisierung ihrer nationalen Asylsysteme vornehmen, sondern tatsächlich einheitliche europäische Standards schaffen. Sie könnten sich auf gemeinsame europäische Asylverfahren und EU-geführte Erstaufnahmezentren an den Außengrenzen verständigen. Ein viel stärkeres Engagement in den Krisenregionen wäre selbstverständlich.
Europa muss nicht an der Balance zwischen Reisefreiheit und Migrationskontrolle scheitern, aber die aktuelle Situation erfordert einen qualitativen Sprung hin zu mehr europäischer Politik, notfalls auch mehr Durchgriffsrechte für die EU. Dagegen wehren sich nicht nur die osteuropäischen Länder, wenn sie sich gegen eine EU-Quotenregelung stellen. Dies betrifft auch Länder wie Österreich und Deutschland, welche in der Harmonisierung der EU-Asylpolitik oft als Bremser aufgetreten ist. Den EU-Mitgliedstaaten muss aber klar sein, dass sich eine Renationalisierung Europas nur dann vermeiden lässt, wenn man gesamteuropäische Lösungen und Ansätze auch tatsächlich zulässt und umsetzt.
Aktualisierte Fassung eines Gastkommentars veröffentlicht in der Tageszeitung „Der Standard“, 9. September 2015.