Hat der Flüchtling ein Geschlecht?

Feministische Einflüsse auf das Flüchtlingsrecht

Als die zweite Feminismuswelle das Flüchtlingsrecht erreichte, hat sie dort zu einem grundlegenden Umdenken geführt. Aber die Integration von Genderfragen ins Flüchtlingsrecht ist noch nicht abgeschlossen. Die Erkenntnisse der dritten Feminismuswelle machen fortbestehende Herausforderungen sichtbar und können einen entscheidenden Beitrag zur Fortentwicklung des Flüchtlingsrechts leisten.

 

Selbst ein oberflächlicher Blick auf die Flüchtlingsrechtsprechung der frühen 1980er Jahre zeigt schnell, dass der Rahmen, der 1951 mit der Genfer Flüchtlingskonvention für Flüchtlinge entworfen worden war, viel besser auf Männer passte als auf Frauen. Die Flüchtlingsdefinition konzentriert sich stark auf öffentliche Akteure: diejenigen, die sich an den formalen, “big P” Politics (also Parteipolitik, Regierung, Parlamente) beteiligen und an Gruppenaktivitäten teilnehmen. Die ursprünglich vorgesehenen Flüchtlinge waren Oppositionelle, die vor Verfolgung durch repressive Regime flohen. Inspiriert wurde dieses Paradigma von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den sich verfestigenden Verwerfungslinien des Kalten Krieges. Der klassische Flüchtling war daher der sowjetische Dissident oder die jüdische Person in Deutschland. Der klassische Unterdrücker war der Staat. In anderen Worten: Als flüchtlingsrechtlich relevant angesehen wurde Repression in der öffentlichen Sphäre, wie zum Beispiel eine niedergeschlagene Demonstration, nicht aber solche in der sogenannten Privatsphäre, beispielsweise häusliche Gewalt.

 

Die zweite Welle der Frauenbewegung: Das Private ist politisch

Als die zweite Frauenbewegung in den 1980er Jahren auch das Flüchtlingsrecht erreichte, hat sie mit ihrer zentralen These „Das Private ist politisch“ die Auslegungspraxis der Flüchtlingsdefinition aus der Genfer Konvention grundlegend verändert. Durch die Aufweichung zwischen öffentlichem und privatem Bereich setzte sich die Erkenntnis durch, dass bestimmte geschlechtsspezifische Aspekte ebenso zu einer Verfolgungssituation führen wie die Situation des „klassischen“ politischen Dissidenten, dem vom Staat für seine Opposition Gefängnis oder Folter droht.

So setzte sich die Auffassung durch, dass die Übertretung von Normen – wie Sex außerhalb der Ehe, Ablehnung von Kleidungsvorschriften etc. – ebenso wie z.B. sexuelle Orientierung oder Trans-Identitäten anerkannte Fluchtgründe sein können. Und dass sexuelle Gewalt, Zwangsheirat, Ehrenmorde, Zwangsrekrutierung, Genitalverstümmelung und auch häusliche Gewalt Verfolgungshandlungen darstellen. Außerdem wurde anerkannt, dass Verfolger auch Familien- oder Gemeindemitglieder, Nachbarn oder sonstigen „private“ Akteure sein können – jeweils wenn der Staat nicht willens oder in der Lage ist, die betroffene Person davor zu schützen.

Die Anerkennung „privater“ Verfolger und Verfolgungsgründe hat einen grundlegenden Wandel im Verständnis der Flüchtlingsdefinition herbeigeführt: Auf diese Weise wurde das „Private“ politisch und dadurch in der Flüchtlingsdefinition abbildbar, also sichtbar gemacht.

Die feministische Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsrecht hat also sehr viel erreicht. Trotzdem – oder vielleicht sogar gerade deswegen – scheint viel von der feministischen Energie im Flüchtlingsrecht aufgezehrt zu sein. Es gibt auf vielen Seiten das Gefühl, dass Gender im Flüchtlingsrecht „erledigt wurde“ und das Problem jetzt behoben sei. Die rechtliche Inklusion sei ja erreicht – oder nicht?

 

Die dritte Welle der Frauenbewegung: Komplexität und Individualität

Dass dies zu kurz greift zeigt sich, wenn man die aktuelle Situation und Rechtsprechung aus der Perspektive der dritten Welle des Feminismus betrachtet. Ebenso wie die zweite Welle, die zentrale Defizite des Flüchtlingsrechts aus Gender-Perspektive der 1980er sichtbar machte, kann eine Analyse auf Grundlage der dritten Welle aktuell fortbestehende Herausforderungen zu Tage treten lassen.

Anders als die ersten beiden Frauenbewegungen lässt sich die dritte Welle schwer in zentralen Thesen bündeln. Der Fokus liegt weniger auf Gesetzen und politischen Prozessen als vielmehr auf Indivdualiät und und Komplexität, getragen von der Erkenntnis der Pluralität von Farben, Ethnien, Nationalitäten, Religionen, kulturelle Hintergründe, Interessen und Erfahrungen. Die Schaffung einer einheitlichen Agenda oder Philosophie gilt nicht nur als unrealistisches, sondern als unerwünschtes Ziel. Die Third Wave Foundation beschreibt die dritte Feminismuswelle als “groups and individuals working towards gender, racial, economic, and social justice”. Gender wird also als einer von verschiedenen Aspekten begriffen, es geht darum Kategorisierungen, einfache Dichotomien und falsche Stereotype zu vermeiden.

Wenn man von dieser Warte aus das Flüchtlingsrecht betrachtet, wird deutlich, dass das Asylverfahren für Personen mit geschlechtsspezifischen Asylansprüchen in vielerlei Hinsicht immer noch unzureichend ist. Dabei ist es nicht mehr möglich – wenn es das denn jemals war -, einfach auf „das Gesetz“ zu zeigen und zu sagen: „Das ist das Problem.“ Die Herausforderung liegt vielmehr in einer sinnvollen, komplizierten, substanziellen Analyse.

Die Lehren aus der dritten Frauenbewegung können hier auf zweierlei Weisen fruchtbar gemacht werden: Erstens für verbleibende rechtsdogmatische Herausforderungen und zweitens für Verfahrensfragen jenseits der Rechtsauslegung.

Flüchtlingsstatusfeststellungen basieren auf komplexer kategorischer Argumentation und es ist wichtig, dass verschiedene Kategorien nicht gegeneinander ausgespielt werden. Im Sinne der Erkenntnisse der dritten Frauenbewegung greifen verschiedene Eigenschaften einer Person ineinander. So darf das Geschlecht in der Flüchtlingsstatusfeststellung nicht als besondere, singuläre Eigenschaft konstruiert werden, isoliert von allen anderen Dimensionen der Person der Antragstellerin oder des Antragstellers.

Um eine solche notwendige komplizierte, substanzielle Analyse im Asylverfahren zu gewährleisten, müssen die Voraussetzungen gegeben sein. Es geht also nicht allein um das Gesetz, sondern auch um das Verfahren: Es müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen das Vorbringen der Antragstellerin oder des Antragstellers angemessen gewürdigt und umfassend geprüft werden kann. Denn die Gestaltung der Verfahren hat einen realen Einfluss auf die Entscheidung. Angesichts der Beschleunigungen und Verkürzungen von Asylverfahren ist die Sorge berechtigt, dass das nicht immer gewährleistet wird – selbst einfache Maßnahmen wie z.B. geschlechtssensible Dolmetscher oder Dolmetscherinnen werden zu leicht als Luxus angesehen und nicht als Notwendigkeit. Daraus ergibt sich ein besonderes Risiko, dass geschlechtsspezifische Fälle nicht angemessen geprüft werden – trotz der feministischen Erfolge im Flüchtlingsrecht. Mit denen allein ist nämlich noch gar nicht so viel erreicht. Denn was helfen grundsätzliche Erfolge bei der Anerkennung von geschlechtsspezifischer Verfolgung im Asylrecht, wenn entsprechende Anträge in der Masse der anstehenden Verfahren als „komplizierte“ Fälle einfach untergehen?

 

Fazit

Eine feministische Kritik des aktuellen Flüchtlingsrechts zeigt, dass die Integration von Genderfragen ins Flüchtlingsrecht noch nicht abgeschlossen ist. Ebenso wie die Überwindung der Trennung von Öffentlich und Privat, Politisch und Unpolitisch, nicht den Feminismus „erledigt“ hat, besteht auch im Flüchtlingsrecht weiter Handlungsbedarf mit Blick auf geschlechtsspezifische Aspekte.

Die Herausforderungen sind aber komplexer und vielschichtiger geworden, schwerer zu erkennen und komplizierter zu lösen. Dabei kann das Flüchtlingsrecht der dritten Feminismuswelle lernen: Es genügt nicht, allein die Gesetze zu ändern und einfache Kategorisierungen halten der Realität nicht stand. Und: Die Verbesserung des Flüchtlingsrechts für geschlechtsspezifische Fälle bedeutet eine Verbesserung für alle.

 

Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe des Arbeitskreises Flucht und Gender des Netzwerks Flüchtlingsforschung.

 

Photo Credits:

(c) Jay Morrison

 

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