Heuchlerisches Doppelspiel der Europäischen Union in Libyen

Hilfen für einen desolaten Staat

Aktuelle Berichte über Sklavenmärkte in Libyen, auf denen Asylsuchende und Migrant_innen verkauft wurden, haben zu einem Aufschrei unter Mitgliedstaaten der EU und AU sowie zu raschen Reaktionen geführt. Ob die versprochenen Maßnahmen jedoch im Sinne der Betroffenen sind, ist zu bezweifeln: besonders schutzbedürftige Asylsuchende werden in ihre Heimatländer zurückgeschickt, anstatt legalen Zugang zur EU zu erhalten. Die Rechte von Migrant_innen und Asylsuchenden werden in libyschen Hafteinrichtungen schwerwiegend verletzt. Gründe für diese gravierenden Menschenrechtsverletzungen sind im libyschen Recht zu finden, welches „illegale Migration“ kriminalisiert, in der politisch chaotischen Situation im Land sowie in den Anstrengungen der EU-Mitgliedstaaten, die Zahl der ankommenden Geflüchteten an europäischen Küsten drastisch zu verringern.

 

„Das Leid der in Libyen inhaftierten Migranten ist eine Empörung für das Gewissen der Menschheit. Die bereits schlimmen Zustände vor Ort haben sich weiter verschlimmert und sind jetzt katastrophal”, prangert der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Zeid Ra’ad Al Hussein öffentlich an. Er verweist dabei auf die steigende Zahl von Migrant_innen und Asylsuchenden, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Hafteinrichtungen in Libyen festgehalten werden. Der Hochkommissar stützt sich bei dieser Aussage auf die Ergebnisse von vier Ortsbesichtigungen in lybischen Gefängnissen durch UN-Menschenrechtsbeobachter_innen. Für den Bericht wurden Gefangene befragten, die auf ihrem Weg nach Europa durch Libyen gekommen sind und dort wegen „illegaler Einreise“ inhaftiert wurden. Die Beobachter_Innen der Vereinten Nationen beschreiben in ihrem Bericht schockierende Zustände: Menschenhandel, Entführungen, Folter, Vergewaltigungen und andere Formen sexuelle Gewalt, Zwangsarbeit, Ausbeutung, schwere körperliche Gewalt, Hunger und andere Gräueltaten wie willkürliche Tötungen sind an der Tagesordnung.

Eine Mitschuld an der schwierigen humanitären Situation in Libyen trägt nach Ansicht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte die Europäische Union (EU). Die Libyen-Politik der EU bezeichnete er daher als „unmenschlich“.

Solche Berichte sind jedoch nicht neu. Menschenrechtsaktivist_innen und NGOs wie Amnesty International und Human Rights Watch haben bereits in der Vergangenheit viele Male auf schweren Verbrechen hingewiesen und sofortige Maßnahmen von der Weltgemeinschaft gefordert. So hat zum Beispiel die Internationalen Organisation für Migration (IOM) im April 2017 bereits Berichte über lybische Sklavenmärkte veröffentlich, welche jedoch in der internationalen Gemeinschaft kaum Beachtung fanden. Dieses Phänomen des Wegschauens und Vernachlässigens der gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Libyen ist schon seit mehr als einem Jahrzehnt erkennbar. Einen Aufschrei der Empörung sucht man in der Vergangenheit vergeblich – und das obwohl offizielle diplomatische Korrespondenzen zwischen der deutschen Botschaft in Niger und dem Auswärtigen Amt in Berlin die schreckliche Situation von Migrant_innen und Asylsuchenden in libyschen Flüchtlingslagern als “vergleichbar mit Konzentrationslagern” beschrieben hatten.

 

Internationaler Aufschrei nach Berichten über Sklavenmärkte in Libyen

Ein Wendepunkt von dieser Politik des Wegschauens entstand durch die kürzliche Veröffentlichung eines Berichts und Videomaterials der CNN. Diese Videoaufnahmen zeigen, wie Migrant_innen und Asylsuchende aus anderen afrikanischen Staaten auf Sklavenmärkten für teilweise weniger als 400 US-Dollar öffentlich versteigert werden. Der Bericht weist darauf hin, dass diese Verkäufe im Zusammenhang mit überfüllten Haftanstalten für Migrant_innen und Asylsuchende stehen, und dass diese Menschen als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft verkauft werden, wenn ihnen das Geld für eine Überfahrt nach Italien fehlt. Skrupellose Menschenhändler verlangen zwischen 750 und 3.500 USD für einen Platz in einem Gummiboot von Libyen nach Italien – eine hohe Summe, die sich viele nicht leisten können, insbesondere dann nicht, wenn sie das zweite oder dritte Mal versuchen, das Mittelmeer nach Europa zu überqueren.

Dieses Videomaterial über die Sklavenmärkte in Libyen hat zu weitreichender Empörung unter den Staatschef_innen der Afrikanischen Union (AU) und der EU geführt. Sie haben die lybische Regierung aufgefordert, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Bedingungen von afrikanischen Migrant_innen und Asylsuchenden in ihrem Hoheitsgebiet zu verbessern und die Täter_innen dieser schweren Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Empörung zeigt sich auch daran, dass die Bedingungen in libyschen Haftanstalten und der Verkauf von Migrant_innen und Asylsuchenden zum vorherrschenden Thema des Gipfeltreffens der AU und der EU vom 29. bis 30. November 2017 in Abidjan, Elfenbeinküste wurden. Die jährlichen Gipfeltreffen dienen generell der Stärkung der Beziehungen zwischen beiden Organisationen und dem Austausch über spezifische aktuelle Themen. Im Zentrum des diesjährigen Gipfels sollte eigentlich die Zukunft der Jugend Afrikas stehen, was jedoch komplett von den aktuellen Geschehnissen in Libyen überschattet wurde. Europäische und afrikanische Regierungen erklärten sich bereit, den Vorwürfen über Misshandlungen und Versklavung von Asylsuchenden und Migrant_innen in Libyen gemeinsam nachzugehen. Hierzu wurde noch während des Gipfels ein Ausschuss gebildet und Pläne vorgestellt, „konkrete Militäraktionen“ durchzuführen, um in Libyen gefangengehaltene Migrant_innen und Asylsuchenden zu evakuieren. Trotz der Vielzahl an Vorschlägen blieben die teilnehmenden Staatsoberhäupter einen detaillierten Aktionsplan für diese Vorhaben schuldig. Kritisch zu sehen sind auch die vorgebrachten Vorschläge der Rückführung „geretteter“ Migrant_innen in ihre Heimatländer, anstatt sichere Zugänge in die EU zu gewähren. So wurden noch während des Gipfeltreffens in Zusammenarbeit mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) 240 Geflüchtete aus Nigeria zurück in ihr Herkunftsland geflogen.

Trotz eines Aufschreis der internationalen Gesellschaft angesichts der grausamen Zustände in libyschen Haftlagern kam nicht viel mehr als eine öffentliche Debatte, Forderungen nach Strafverfolgung sowie ein Evakuierungsplan zustande – der sehr wahrscheinlich nicht im Interesse der inhaftierten Migrant_innen ist. Es ist zu bezweifeln, dass sich die dramatische Lage für Asylsuchende in Libyen angesichts der politischen und rechtlichen Turbulenzen in naher Zukunft verbessern werden.

 

Indirekter Beitrag der EU durch Unterstützung der lybischen Küstenwache

Einer der Hauptgründe für die Entstehung solcher Sklavenmärkte ist, dass die libysche Küstenwache – unterstützt mit finanziellen Mittel und Equipment durch die EU (insbesondere durch Italien) – in den letzten Monaten verstärkt Boote mit Migrant_innen in ihrem Territorialgewässer abgefangen und an das libysche Festland zurückgeführt hat. Da die „illegale Einreise“ in libysches Hoheitsgebiet gemäß nationalem Recht zu Gefängnisstrafen führen kann, hat diese verstärkte Rückführungspraxis wiederum zur Überfüllung lybischer Gefängnisse und damit zu den oben beschriebenen Verhältnissen und Verbrechen geführt.

Aktuell werden laut Schätzungen der Vereinten Nationen etwa 20.000 Migrant_innen und Asylsuchenden in 34 offiziellen libyschen Gefängnissen festgehalten.  Viele von ihnen stammen aus Ländern Westafrikas, aber auch aus Bangladesch, Somalia, Sudan und Eritrea. Sie alle wurden bei ihrem Versuch, Europa zu erreichen, in Libyen aufgegriffen und inhaftiert. Da derzeit schätzungsweise zwischen 400.000 und 1 Million Migrant_innen und Asylsuchende in Libyen auf eine Überfahrt nach Europa hoffen, ist zu erwarten, dass die Zahl der Gefangenen drastisch ansteigen wird.

Sofern die internationale Gemeinschaft nicht umgehend effektive Mittel ergreift, wird sich die verheerende Situation in den Haftanstalten höchstwahrscheinlich weiterhin verschlechtern. Der kürzlich vom UNHCR vorgelegte Aktionsplan „Expanded Response in Lybia“ ist in dieser Hinsicht lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein. Der Plan sieht vor, dass UNHCR „Flüchtlinge, Asylsuchende und besonders schutzbedürftige Gruppen in lybischen Haftlagern bei regelmäßigen Besuchen identifiziert“ und sich für die Freilassung von monatlich 20 Gefangenen einsetzt. Angesichts der Zahl von etwa 20.000 Inhaftierten unter menschenunwürdigen Bedingungen sind deutlich stärkere Maßnahmen als diese von UNHCR vorgeschlagenen nötig. Es genügt nicht, Empörung zu heucheln, bloße Lippenbekenntnisse abzugeben und Geflüchtete in ihr Heimatland abzuschieben – um die Situation ernsthaft zu verbessern bedarf es gemeinsamer Anstrengungen auf internationaler Ebene sowie sichere und legale Zugangswege nach Europa für Schutzsuchende.

 

Libysches nationales Recht erlaubt Haft bei „illegaler Einreise“

Nach der Absetzung von Muammar Al-Gaddafi gelang es der Übergangsregierung in Libyen nicht, Rechtsstaatlichkeit und Stabilität im Land zu verfestigen, welches mittlerweile in weiten Teilen von Milizen, Stämmen und Banden kontrolliert wird. Nicht nur die politische Lage, auch die rechtliche Situation in Libyen gerieten aus den Fugen, als die frühere Regierung im Sommer 2014 aus Tripolis floh und der Oberste Gerichtshof Libyens das Parlament für verfassungswidrig erklärte.

Die Rechtsgrundlage für die Inhaftierung von Migrant_innen und Asylsuchenden ist im nationalen libyschen Recht zu finden, welches die „illegale Einreise” mit Geldstrafen, Haft und Ausweisung bestraft. Das Gesetz Nr. 6 (1987) zur Einreise, Aufenthalt und Ausreise von Ausländern nach/aus Libyen in der Fassung des Gesetzes Nr. 2 (2004) sowie das Gesetz Nr. 19 (2010) zur Bekämpfung der irregulären Migration kriminalisieren und sanktionieren Verstöße gegen Migrationsbestimmungen mit hohen Bußgeldern, Zwangsarbeit und Haftstrafen gefolgt von einer Ausweisung nach Ablauf der Haft.

Das libysche Recht macht zudem keine Unterscheidung zwischen Migrant_innen, Flüchtlingen, Opfern von Menschenhandel oder anderen Personen, die internationalen Schutz benötigen. Das Gesetz Nr. 19 (2010) zur Bekämpfung irregulärer Migration sieht in Fällen „illegaler Einreise“ unbefristete Inhaftierung vor, was gegen international anerkannte Menschenrechte verstößt. Im Rahmen des internationalen Menschenrechtsschutzes verstoßen Haftstrafen, die nicht auf einer individuellen Beurteilung der Umstände im Einzelfall beruhen, sondern lediglich zur Abschreckung „illegaler“ Einreisen missbraucht werden, gegen grundlegende Prinzipien. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass Libyen kein Mitgliedstaat der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist, welche den Begriff „Flüchtling“ definiert und deren Rechte sowie die rechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zum Schutz von Flüchtlingen, insbesondere das Non-Refoulement Prinzip kodifiziert. Zwar hat Libyen die regionale Organization of African Unity Convention Governing the Specific Aspects of Refugee Problems in Africa unterzeichnet, welche ebenfalls den Begriff „Flüchtling“ definiert und in Artikel II den Grundsatz der Nichtzurückweisung beinhaltet. Jedoch wurde diese Konvention bis heute nicht in nationales Recht in Libyen inkorporiert.

Das Zusammenspiel dieser fehlenden Schutzmechanismen mit den harten innerstaatlichen Migrationsgesetzten haben dazu beigetragen, dass staatliche und nichtstaatliche Akteure im Land, die die Haftanstalten für Migrant_innen und Asylsuchenden teils gemeinsam kontrollieren, schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten begehen.

 

Internierung von Migrant_innen und Zustände in libyschen Haftanstalten verletzt Menschenrechte und jus cogens Normen

Die oben beschriebene Praxis der Inhaftierung von Migrant_innen und Asylsuchenden stellt für sich gesehen bereits eine Verletzung internationaler Menschenrechte dar. Sie verstößt zum Beispiel gegen das Recht auf einen faires Verfahren (Art. 9 Abs. 2 – 5 ICCPR), das Verbot willkürlicher Festnahme und Inhaftierung (Art. 9 Abs.  1 ICCPR), sowie das Recht als Gefangene/r mit Würde und Respekt behandelt zu werden (Art. 10 Abs. 1 ICCPR). Darüber hinaus belegen Berichte, dass es auch zu Verletzungen von jus cogens Normen wie dem Verbot der Folter und dem Verbot des Sklavenhandels kommt.

Obwohl Libyen bereits 1970 das erste Fakultativprotokoll des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) ratifiziert hat und damit rechtlich unter anderem an die Gewährung eines fairen Verfahrens gebunden ist, kommt es seit vielen Jahren zu massiven Verletzungen der in diesem Pakt verbürgten Rechte. Weiterhin ist Libyen als Mitgliedstaat des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche, erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT) theoretisch an das Gebot der Nichtzurückweisung und dem Verbot von Folter gebunden. Die praktische Einhaltung dieser Menschenrechte scheitert jedoch an der politisch instabilen Lage im Land, der völligen Strafffreiheit der Täter_innen und den systemischen Fehler in der Justiz.

Aus diesen Gründen drängt UNHCR – leider seit Jahren erfolglos – die internationale Gemeinschaft, insbesondere die EU und Italien dazu, von einer Zusammenarbeit mit Libyen abzusehen, bis der Staat internationale Menschenrechtsstandards einhält.

 

Die Mitschuld der EU an der desolaten Lage in Libyen

„Wer sind die Menschenhändler? Sie sind Afrikaner, meine Freunde, sie sind Afrikaner“. Dieser wütende Ausruf des französischen Präsidenten Emmanuel Macron während des AU-EU-Gipfels (ab 5:36 min.) spiegelt deutlich die Haltung der EU in Bezug auf ihren Beitrag zur desolaten Lage von Migrant_innen und Asylsuchenden in Libyen wieder: ein vehementes Weigern der Anerkennung einer Mitschuld an der aktuellen Situation in Haftanstalten Libyens.

Die EU-Mitgliedstaaten und Libyen können auf eine jahrzehntelange „erfolgreiche“ Zusammenarbeit im Bereich Migration zurückblicken. So wurde beispielsweise bereits Mitte der neunziger Jahre ein Rückführungsabkommen zwischen Italien und Libyen geschlossen. Das Ende des Al-Gaddafi-Regimes war ein Neustart für eine noch intensivere Kooperation. So wurde im Juni 2015 die Europäische Union Naval Force – Mediterranean (EUNAVFOR MED „Operation Sophia“) in Rekordzeit errichtet, um gemäß der Verlautbarung der EU „Menschenhandel im Mittelmeer zu verhindern“. Im Oktober desselben Jahres verabschiedete schließlich der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2240, welcher die Befugnisse der an der Operation Sophia Beteiligten drastisch ausweitete. Um Menschenschmuggel und Menschenhandel zu unterbinden, durften nun auch libysche Hoheitsgewässern befahren werden. Das aktuelle Mandat der Operation Sophia wurde kürzlich erneut verlängert und läuft nun bis zum 31. Dezember 2018. Seit 2015 haben sich 25 Mitgliedstaaten mit nahezu 1.800 Mitarbeitenden an der finanziellen Unterstützung, Ausrüstung und Ausbildung der libyschen Küstenwache und Marine beteiligt.

Der Grund für das Interesse der EU an einer Kooperation mit Libyen ist offensichtlich – fast 90% der Ausreisen im Jahr 2015 aus Afrika nach Europa hatten hier ihren Ursprung. Um die hohe Zahl von Ankommenden an europäischen Küsten zu verringern, legten die EU-Mitgliedsstaaten eine Reihe konkreter Ziele für eine Kooperation mit Libyen in der sogenannten Malta-Erklärung von 2017 fest. Kurzum, die EU versprach Libyen finanzielle Unterstützung, Ausbildung der Küstenwache sowie technische Unterstützung als Gegenleistung für die Verhinderung von Ausreisen von Asylsuchenden und Migrant_innen nach Europa. Das Konzept, Boote mit Geflüchteten bereits in lybischen Territorialgewässern abzufangen und diese an das lybische Festland zurückzubringen bevor sie internationale Gewässer erreichen, hat sich aus Sicht der EU in den letzten Monaten bewährt.

Diese Methode der Rückführung an lybisches Festland hat allerdings die massenhafte Inhaftierung von Migrant_innen und Asylsuchenden zur Folge, was wiederum zu Überbelegungen der Haftanstalten, zu menschenunwürdigen Umständen vor Ort sowie zum oben beschriebenen Sklavenhandel und zu willkürlichen Tötungen führt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der UN-Menschenrechtsbeauftragte Al-Hussein die Strategie der EU, die libysche Küstenwache beim Abfangen von Migrant_innen und Asylsuchenden im Mittelmeer zu unterstützen, öffentlich als „unmenschlich“ bezeichnet hat.

 

Versuche der EU, ihre rechtlichen Verpflichtungen zu umgehen

Insbesondere die Ausbildung der lybischen Küstenwache mit dem Ziel, die Zahl der Rückführungen innerhalb des libyschen Territorialgebiets zu erhöhen, muss als Strategie der EU-Mitgliedstaaten zur Umgehung ihrer internationalen Verpflichtungen wie das Non-Refoulement Gebot oder das Verbot der Kollektivausweisung bewertet werden. Das Verbot der Kollektivausweisung, welches Völkergewohnheitsrecht darstellt und unter anderem in Art. 4 Protokoll Nr. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) kodifiziert ist, verpflichtet die zuständigen nationalen Behörden der EU-Mitgliedstaaten, eine individuelle und objektive Überprüfung der persönlichen Umstände und des konkreten Einzelfalls für Individuen zu gewährleisten.

Die Strategie der EU als Versuch der Umgehung ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen zu verstehen, ist in aktuellen Urteilen begründet: Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (z.B. MSS gegen Belgien und Griechenland; Sharifi gegen Italien und Griechenland, und Khlaifia gegen Italien und Hirsi Jamaa gegen Italien) sind die Mitgliedstaaten an Verpflichtungen nicht nur auf ihrem Hoheitsgebiet, sondern auch auf Hoher See gebunden, sofern diese eine ununterbrochene und effektive de jure und de facto Kontrolle über die Betroffenen ausüben. Das ist dann nicht der Fall, wenn Geflüchtete die Hohe See faktisch nicht erreichen können, da sie zuvor in libyschen abgefangen wurden.

Das bedeutet, solange EMRK-Mitgliedstaaten keine effektive Kontrolle über Migrant_innen und Asylsuchende ausüben, kann keine Zuständigkeitsbeziehung hergestellt werden. Daraus folgt zwangsläufig, dass EU-Mitgliedsstaaten auch nicht völkerrechtlich für Rechtsverletzungen nach aktuell geltendem Recht verantwortlich seien. Eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit für EMRK-Mitgliedstaaten für ihre Beteiligung an Verletzungen des Non-Refoulement Verbots (Art. 3 EMRK) und des Verbots der Kollektivausweisung (Art. 4 Protokoll 4 EMRK) gemäß den Artikeln über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handel (ARSIWA) könnte lediglich in Einzelfällen, in denen eine solche effektive Kontrolle nachweislich gegeben ist, festgestellt werden.  Voraussetzung hierfür ist, dass das völkerrechtswidrige Handeln den EGMR-Mitgliedstaaten zuzurechnen ist (Art. 4 ARSIWA) oder die EMRK-Mitgliedstaaten Libyen bei der Begehung ihres völkerrechtswidrigen Handelns hilft oder ihn unterstützt (Art. 16 ARSWA).

Trotz der Tatsache, dass die Verantwortlichkeit der EMRK-Mitgliedstaaten in Einzelfällen unter gewissen Umständen ausgelöst werden kann, ist es schwierig eine allgemeine rechtliche Verantwortlichkeit dieser Staaten für die in Libyen begangenen Menschenrechtsverletzungen auf der Basis von finanziellen Hilfen und Trainingseinsätzen zu etablieren. Nichtsdestotrotz sind die EU-Mitgliedstaaten moralisch und aus ihrer sich selbst gegebenen Vorbildrolle als ‚Hüterin der Menschenrechte‘ heraus verpflichtet, kein System zu unterstützen, welches gravierende Menschenrechtsverletzungen in großem Umfang begeht, nur um die Zahl der Migrant_innen und Asylsuchenden in Europa zu verringern. Daraus folgt die Verpflichtung der EU, die Ausstattung der libyschen Küstenwache umgehend zu beenden und alle Kooperationsbemühungen einzustellen, bis sich die Menschenrechtssituation drastisch verbessert hat.

 

Das EU-Türkei Abkommen als Vorbild für die Zusammenarbeit mit Libyen?

Im Moment scheint es, als seien die EU-Mitgliedstaaten endlich aufgewacht und können sich der anhaltenden Menschenrechtskatastrophe in Libyen nicht länger verschließen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kooperation mit Libyen beendet wird. Im Gegenteil: politische Entscheidungsträger auf EU-Ebene haben weitere Pläne für Libyen in der Hinterhand. Diese reichen von einer Ausbildungsmission für libysche Soldaten über Hotspots in Nordafrika, die Entsendung der EUROGENDFOR-EU-Polizeigruppe, die als Mittel zur Etablierung eines Rückführungsabkommens genutzt werden könnte, bis hin zur Idee, ein Abkommen ähnlich des EU-Türkei Abkommens zwischen der EU und Libyen zu schaffen. Zurzeit wird beraten, ob das EU-Türkei-Modell in anderen arabischen Mittelmeerländern wie Tunesien, Ägypten und Libyen repliziert werden kann. Dies ist bislang zum Glück lediglich ein theoretisches Gedankenspiel. Die Frage, ob ein Transitstaat ein sicherer Ort für Rückkehrer_innen im Rahmen des sicheren Drittstaatenkonzepts zwischen der EU und der Türkei ist, hat bereits eine kontroverse Diskussion ausgelöst (siehe hier und hier).

In Anbetracht der aktuellen Situation in Libyen stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage dieses Land in naher Zukunft zu einem sicheren Drittland erklärt werden könnte. Darüber hinaus widersetzt sich die libysche Regierung bislang den Forderungen der EU-Länder Österreich und Ungarn, Flüchtlinge nach Libyen zurückzuführen. Vielleicht ist dieser Widerstand – wie in vielen früheren Fällen – auch nur eine Frage von Geld und Zugeständnissen?

 

Photo Credits:

(c) Florian Richter

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