Das Flüchtlingsrecht unterliegt einem Paradox: Eine Person, die in ihrem Heimatstaat Verfolgung fürchtet, ist darauf angewiesen, in einen anderen Staat einreisen zu dürfen, um dort Schutz zu erhalten. Doch weder im internationalen noch im europäischen Recht existiert ein explizites Recht auf Einreise für Flüchtlinge. Asyl kann in der EU nur beantragen, wer sich auf mitgliedstaatlichem Territorium oder an der Grenze befindet (siehe Art. 3 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie). Gleichzeitig verhindern zahlreiche Maßnahmen der Grenz- und Migrationskontrolle effektiv den Zugang zur EU. So herrscht eine Art „Asyldarwinismus“: Schutz erhält nur, wer die lebensgefährliche Reise bis zur Grenze überlebt – Survival of the fittest. Die besonders Schutzbedürftigen bleiben vielfach in den Herkunftsregionen zurück. Wie die syrische Familie aus dem verwüsteten Aleppo, die sich hinter dem Fall X und X gegen Belgien (C-638/16) verbirgt, über den der EuGH mit Urteil vom 7. März 2017 entschieden hat.
Der EuGH musste sich dabei erstmals mit der Gretchenfrage des Flüchtlingsrechts befassen: Der Frage nach legalem Zugang zu Schutz. Diese wird von den Staaten bisher unter Verweis auf ihre Souveränität beantwortet und der Zugang nur auf freiwilliger Basis gewährt. Damit hat sich die Angelegenheit aber nicht erledigt, denn in bestimmten Situationen kann sich ein indirektes Einreiserecht aus dem Non-Refoulement Prinzip ergeben. Dieses zentrale Prinzip des Flüchtlingsschutzes untersagt die Zurückweisung einer Person in einen Staat, in dem ihr schwere Menschenrechtsverletzungen drohen und gilt auch an der Grenze des potentiellen Schutzstaates. Wie verhält es sich aber in Situationen fernab von der Grenze, wenn eine Person gegenüber einer Botschaft ein Schutzgesuch äußert? Wie weit reicht die (extraterritoriale) Verantwortung für den Flüchtlingsschutz? Gibt es nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch die Pflicht legale Zugangswege für Flüchtlinge in die EU zu ermöglichen? Bedauerlicherweise sucht der EuGH in seiner Entscheidung erst gar nicht nach einer Antwort auf diese Fragen, sondern stellt lediglich fest, dass sie jedenfalls nicht im EU-Recht zu finden sei – das sei hier nämlich gar nicht anwendbar. Soviel also zur Kraft des Europarechts.
Der Fall: Eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien beantragt humanitäre Visa
Dabei hätte der dem Gericht zugrundeliegende Sachverhalt paradigmatischer nicht sein können: Eine syrische Familie, bestehend aus den Eltern und drei minderjährigen Kindern, beantragte am 12. Oktober 2016 in der belgischen Botschaft in Beirut, Libanon, sog. Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit auf Grundlage von Art. 25 EU-Visakodex. Dieser regelt die Vergabe von Visa für kurzfristige Aufenthalte mit einer maximalen Gültigkeit von drei Monaten (siehe Art. 1 Visakodex). Die Visa mussten im Libanon beantragt werden, weil es in Syrien keine hierfür zuständigen Auslandsvertretungen mehr gibt. Die humanitär äußerst prekäre Lage der Familie wurde nicht bestritten: Sie war in Syrien Krieg und individueller Verfolgung ausgesetzt und es gab keinerlei Schutzalternative im Libanon. Gegen die Ablehnung der Visumsanträge wandte sich die Familie an ein belgisches Gericht. Dieses wiederum legte dem EuGH im Eilverfahren mehrere Rechtsfragen zur Auslegung europarechtlicher Vorschriften vor. Unter anderem wollte das belgische Gericht wissen, ob ein Mitgliedstaat nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. a Visakodex verpflichtet sei, ein humanitäres Visum zu erteilen, wenn die Ablehnung für die Antragstellenden die Gefahr einer Verletzung von Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC) (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und Artikel 18 GRC (Asylrecht) oder auch einer internationalen Verpflichtung begründen würde. Unter Letztere fallen insbesondere die völkerrechtlichen Pflichten, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergeben und auf die sich das europäische Primärrecht, also die Verträge sowie die GRC, stützt. Ganz vorne in der Reihe: Das Non-Refoulement-Prinzip.
Die Schlussanträge des Generalanwalts: Eine Glanzstunde für die EU Grundrechtecharta
Eine klare Antwort auf die Fragen des belgischen Gerichts fand der Generalanwalt am EuGH, Paolo Mengozzi. Er sah den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet und führte in seinen Schlussanträgen vom 7. Februar 2017 aus, dass die EU-Mitgliedstaaten in der Pflicht seien, ein humanitäres Visum auf Grundlage des Visakodex zu erteilen, wenn eine Ablehnung eine Verletzung des in Art. 4 GRC verankerten Refoulement-Verbotes bedeuten würde. Zwar handele es sich bei Art. 25 Abs. 1 Buchts. a Visakodex um eine (etwas irreführend formulierte) Ermessensregelung, wonach ein Visum aus „humanitären Gründen“ erteilt wird, wenn die Staaten es für erforderlich halten. Bei jeder Ermessensausübung sei aber die GRC – auch ohne explizite Bezugnahme – als leitender Maßstab zu beachten (siehe GA Mengozzi, Rn. 40 und 129, unter Verweis auf die EuGH-Rechtsprechung im Fall N.S.). Da sich der Anwendungsbereich der GRC nach dem Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC auf die „Durchführung des Rechts der Union“ erstrecke, sei weder ein Territorialbezug erforderlich noch seien die Grundsätze zur extraterritorialen Anwendbarkeit der EMRK (Art. 1 EMRK) heranzuziehen. Der durch den Generalanwalt dabei ins Rampenlicht gerückte Art. 4 GRC führte in der juristischen Diskussion um extraterritoriale Staatenpflichten bisher ein Schattendasein neben den prominenteren Refoulement-Verboten aus Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 3 der EMRK. Die rechtliche Auffassung des EuGH zu dieser Frage versprach also höchst interessant zu werden.
Die Entscheidung des EuGH: Eine Ode an das Sekundärrecht
Obgleich der EuGH meist der (nicht bindenden) rechtlichen Einschätzung des Generalanwaltes folgt, fielen die Prognosen in diesem Fall sehr unterschiedlich aus. Während teilweise fest mit einem für die Betroffenen negativen Urteil gerechnet wurde, weil jede andere Entscheidung ein politischer „Dammbruch“ wäre, gab es auch Stimmen, die darauf zählten, dass der EuGH als Organ der Judikative rechtlich – und nicht politisch – entscheiden werde. Doch anstatt die Herausforderung des Generalanwaltes anzunehmen und die Reichweite der europäischen Grundrechte und Staatenpflichten – auch in Krisenzeiten – auszuloten, nimmt der EuGH in seinem Urteil die erstmögliche Abzweigung: Die sich aus der Grundrechtecharta ergebenden Pflichten seien nicht von Relevanz, da das Unionsrecht im vorliegenden Fall gar nicht anwendbar sei. Schließlich hätten die Mitgliedstaaten keine gemeinsamen Verfahrensregelungen für die Beantragung von humanitären Visa, bei denen es sich „de facto“ um Asylanträge an Botschaften handele (Rn. 51). Es kann also festgehalten werden: Was es nicht gibt, kann auch nicht überprüft werden.
Als Hauptargument für die Nichtanwendbarkeit des Visakodex bezieht sich der EuGH auf die Motivation der Familie nach ihrer Einreise in Belgien Asyl zu beantragen. Der Visakodex sei auf Grundlage des damaligen EG-Vertrags erlassen worden und sollte danach lediglich geplante Aufenthalte von höchstens drei Monaten erfassen (Rn. 40) – so auch der Wortlaut von Art. 1 Visakodex. Da die Familie hier aber Visa beantragte, um sodann in Belgien Asylanträge zu stellen, habe es sich gerade nicht um die Beantragung von Visa für Aufenthalte von bis zu drei Monaten Tagen gehandelt (Rn. 42). Weder der formale Bezug auf Art. 25 Visakodex noch der Umstand, dass die belgischen Behörden die Anträge „fälschlich als Anträge auf Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt“ einstuften, könne die Anwendbarkeit des Visakodex begründen (Rn. 50).
Der Umstand, dass die Familie keine Asylanträge gestellt, sondern Visa für eine Einreise zur Asylantragstellung beantragt hat, für die ein Zeitraum von bis zu drei Monaten völlig ausreichend gewesen wäre, interessiert den EuGH nicht. Vielmehr behandelt er anhand des Falles direkt die Frage der Asylantragstellung an einer Botschaft und baut darauf sein zweites Argument auf: Da die Möglichkeit einer Asylantragstellung im Ausland im Visakodex nicht explizit vorgesehen sei, könne es auch nicht sein, „dass die Mitgliedstaaten nach dem Visakodex verpflichtet wären, es Drittstaatsangehörigen de facto zu ermöglichen, einen Antrag auf internationalen Schutz bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines Drittstaates zu stellen“ (Rn. 49). Sodann klopft der EuGH neben dem Visakodex kurz noch weitere Sekundärrechtsakte ab. Dabei bezieht er sich unter anderem auf Art. 3 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie, der eine Asylantragstellung an Botschaften sogar explizit ausschließe. Der EuGH kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass tatsächlich nirgendwo eine Regelung für die Asylantragstellung an einer Botschaft zu finden sei und die „auf der Grundlage von Art. 78 AEUV erlassenen Rechtsakte der Union, die die Verfahren für Anträge auf internationalen Schutz regeln, keine solche Verpflichtung vorsehen“ (Rn. 49).
Das Urteil des EuGH sagt also vor allem eins: Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit der Asylantragstellung an einer Botschaft unionsrechtlich nicht geregelt. Diese Erkenntnis erstaunt insofern nicht, als dass es das Problem des legalen Zugangs und somit den gesamten Ausgangsfall nicht geben würde, wenn es anderes wäre. Es hätte auch dahinstehen können, ob die Motivation für die Visumsanträge tatsächlich für die Anwendbarkeit des Visakodex relevant ist oder nicht vielmehr eine Frage ist, die im Rahmen der materiellen Prüfung der Visumsanträge gewürdigt werden muss (so etwa GA Mengozzi, Rn. 51). All das wäre irrelevant gewesen, wenn der EuGH sein Augenmerk nicht lediglich auf das Sekundärrecht gerichtet hätte. Denn die sich aufdrängende Frage, ob die im Sekundärrecht der Union (explizit) nicht vorgesehene Möglichkeit an Botschaften einen Visumsantrag zur Durchführung eines nationalen Asylverfahrens (oder eben auch gleich einen Asylantrag) zu stellen, mit den primärrechtlichen Verpflichtungen der EU und insbesondere mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist, wird nicht einmal angerissen. Darüber, ob legale Zugangswege aufgrund primärrechtlicher Verpflichtungen aus der GRC und internationalem Recht (sekundärrechtlich) geregelt werden müssten, entweder durch eine Auslegung des Visakodex im Lichte der Grundrechte (wie es der Generalanwalt getan hat) oder durch den europäischen Gesetzgeber (siehe hierzu die Reformvorschläge zum Visakodex), verliert der Gerichtshof kein einziges Wort.
Noch leichter hätte der EuGH es sich nur machen können, wenn er sich gleich für unzuständig erklärt hätte – so wie erst kürzlich das EuG bei einer Entscheidung zum „EU-Türkei-Deal“. Die europäischen Gerichte wollen sich zurzeit offensichtlich in politisch heiklen Angelegenheiten lieber gar nicht erst äußern. Damit positionieren sie sich aber de facto trotzdem. Denn der EuGH perpetuiert mit seinem Urteil die im Namen der nationalen Souveränität geführte Abschottungspolitik der Mitgliedstaaten und verpasst die Chance auf wegweisende Klarstellungen zu den grundrechtlichen Verpflichtungen der EU. Das Urteil lässt viele Fragen offen und wirft eine weitere auf: Wer hütet eigentlich noch die Grundrechtecharta, wenn sich der EuGH zum bloßen Hüter des Sekundärrechts degradiert?
Sind humanitäre Visa wirklich keine Angelegenheit der EU? Diese Frage wird in einem Folgebeitrag behandelt.
Dieser Beitrag ist gleichzeitig auf dem Verfassungsblog erschienen.
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