Der Begriff der Asyllotterie beschreibt die für den Rechtsstaat bedenkliche Tendenz, dass die Schutzquoten für Asylsuchende regional und zeitlich stark variieren. Doch mit den verwendeten Aggregatdaten für einzelne Bundesländer lässt sich nicht belegen, dass sich die Erfolgsaussichten für Geflüchtete mit einem ähnlich glaubwürdigen Gesuch und vergleichbarem Hintergrund systematisch unterscheiden. Eine Auswertung der IAB-BAMF-SOEP–Flüchtlingsbefragung geht nun über die Makrobefunde der bisherigen Literatur hinaus und zeigt, dass außerrechtliche Faktoren wie die Immigrationsskepsis in einer Region die individuelle Chance, Schutz zu erhalten, maßgeblich mitbestimmen. Sie weist auch nach, dass muslimische Asylsuchende und Männer mit ihren Gesuchen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge systematisch geringere Erfolgsaussichten haben.
Aufgrund der schlechten Datenlage und dem Fehlen von unabhängigen Studien war es bislang nicht möglich, die sog. Asyllotterie mit Individualdaten systematisch zu ergründen. Hinter dieser Metapher steht der Befund, dass sich die Schutzquoten für Asylsuchende zwischen den einzelnen Bundesländern und den Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum Teil im zweistelligen Prozentbereich unterschieden. Doch die in diesen Studien verwendeten Aggregatdaten verweisen nur auf eine Tendenz. Sie können nicht belegen, dass die Behörden Asylsuchende mit ähnlichem Hintergrund und vergleichbar glaubwürdigen Gesuchen tatsächlich unterschiedlich behandeln.
Das BAMF wird dem Anspruch der Politik nicht gerecht
Unsere neu veröffentlichte Studie löst nun das Problem des sog. ökologischen Fehlschlusses zumindest teilweise auf, wonach man mit aggregierten Angaben zu einem Bundesland nicht auf das Individualverhalten von Asylsuchenden bzw. den Mitarbeitenden des BAMF schließen kann. Auf Grundlage der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten in Deutschland können wir zeigen, dass regionale Präferenzen der Bevölkerung und Politiker*innen im Umfeld der Außenstellen die Wahrscheinlichkeit mitprägen, ob Asylsuchende permanenten oder temporären Schutz erhalten. Dies gilt auch unter Kontrolle einer Vielzahl von anderen Einflussfaktoren wie unter anderem dem Geschlecht, der Religionszugehörigkeit, der Bildungsjahre, traumatischen Erfahrungen auf der Flucht sowie der angegebenen Gründe für die Flucht. Unsere Berechnungen zeigen so zum einen, dass sich die Aussicht auf Schutz verringert, wenn die Bevölkerung in der Region, in die sie zugeteilt wurden, skeptisch gegenüber Einwanderung eingestellt ist. Zum anderen gehen restriktive Maßnahmen der Behörden bezüglich der Wohnsitzauflage bzw. der Ausgabe von Sozialleistungen in Sachleistungen statt Geldtransfers mit einem erhöhten Risiko einher, dass Asylsuchende abgelehnt werden. Dies bedeutet, dass sich die BAMF-Mitarbeitenden auch an der Stimmung in der Gegend orientieren, in der sie Entscheidungen treffen. Ob dies bewusst oder unbewusst geschieht, lässt sich ohne vertiefende Untersuchungen zum Verhalten der Beschäftigten im BAMF nicht erkunden. Der Einfluss solcher außerrechtlichen Erwägungen widerspricht allerdings der Erwartung des Gesetzgebers an das BAMF als vollziehende Behörde, dass Entscheidungen ausschließlich auf der Grundlage der Begründetheit des einzelnen Antrags erfolgen.
Eine bessere Informationslage hilft wenig
Die regionalen Präferenzen hängen mit dem Verhalten der BAMF-Mitarbeitenden selbst in Zeiten zusammen, wenn die Informationskosten für eine Entscheidung relativ gering sind und die BAMF-Außenstellen über genügend Zeit für ihre Einzelfallentscheidungen verfügen beziehungsweise ausreichend Informationen über die Asylsuchenden und deren Heimatländer besitzen. Die These der statistischen Diskriminierung, welche die Nobelpreisträger Arrow und Phelps vor einem halben Jahrhundert unabhängig voneinander entwickelt haben, lässt eigentlich erwarten, dass eine verbesserte Informationslage über die Lage im Herkunftsland oder mehr Bearbeitungszeit die Entscheidungen objektivieren. Doch unsere Analysen zeigen, dass regionalen Faktoren selbst dann das Entscheidungsverhalten mitprägen, wenn die Informationskosten gering ausfallen.
Doch nicht alle möglichen außerrechtlichen Faktoren, die wir untersucht haben, beeinflussen das von den Asylsuchenden berichtete Entscheidungsverhalten in systematischer Weise. Die Studie zeigt etwa, dass kein direkter Einfluss der politischen Orientierungen der gegenwärtigen Landesregierungen auf den Ausgang von Asylverfahren messbar ist. Entgegen der Erwartungen ist in Bundesländern mit einer sozialdemokratischen Regierungstradition die Chance geringer, geschützt zu werden, als in Ländern, in denen die christdemokratischen Parteien länger an der Macht waren. Warum es eine solche Korrelation zwischen diesem groben Indikator für die mögliche politische Orientierung der politischen Behörden und der Entscheidungspraxis gibt, kann unsere quantitative Untersuchung in Ermangelung eines präziseren Messinstrumentes nicht ergründen.
Bezogen auf einzelne Merkmale der Asylsuchenden können wir bestätigen, dass sich für muslimische Geflüchtete und männliche Asylsuchende die Chance verringert, geschützt zu werden. Die von den Befragten angegebenen Gründe für die Flucht können ebenfalls einen Unterschied ausmachen. So haben Gesuche, in denen Krieg als Motiv angegeben wird, eine höhere Chance auf Anerkennung als die relativ allgemeine Antwort, im Herkunftsland gefährdet zu sein. Da die Zahl der Antworten auf die Frage nach den Gründen für ein Asylgesuch gering war, haben wir sie nur in ein früher veröffentlichtes Arbeitspapier aufgenommen.
Transparenz der BAMF-Entscheidungspraxis verbessern
Unserer Ansicht nach kann das Asylverfahren durch eine systematische Schulung der BAMF-Mitarbeitenden in der Vermeidung von Vorurteilen und vermehrte Kontrollen verbessert werden. Aber eine solche Kontrolle ist nur glaubwürdig, wenn die Öffentlichkeit einen systematischen Einblick in die Entscheidungspraxis des BAMF erlangt. So hat die Bundesregierung in der Vergangenheit nie systematisch, sondern nur in Reaktion auf die parlamentarischen Anfragen über diesen Politikbereich berichtet. Da die Linke ihren Fraktionsstatus im Bundestag verloren hat, droht nun auch dieser Informationsfluss zu versiegen. Unabhängig davon wäre es aber auch angezeigt, dass sich das BAMF einer systematischen und unabhängigen Evaluation seiner Entscheidungspraxis gegenüber öffnet. Nur über eine detaillierte Untersuchung zum Entscheidungsverhalten in den einzelnen Außenstellen lässt sich der erwähnte ökologische Fehlschluss vollständig vermeiden und genau ergründen, wo und wer unter Umständen negativ oder positiv diskriminiert wird. Dass solche Forschungen unter strikter Einhaltung von Datenschutzauflagen möglich sind, zeigen etwa Studien zu Frankreich oder der Schweiz. Ein entscheidender Schritt zur Vermeidung der bedenklichen, weiterhin bestehenden Asyllotterie bestünde also in der erhöhten Transparenz des Entscheidungsverhaltens in den BAMF-Außenstellen.
Dieser Beitrag basiert auf dem Aufsatz „How regional attitudes towards immigration shape the chance to obtain asylum: Evidence from Germany“, erschienen in Migration Studies (Doi: 10.1093/migration/mnae002)