Aufgrund der Geografie und der vergleichsweise besseren Lebensbedingungen sind Europas Überseegebiete oft Zufluchtsziele. Folglich fungieren sie auch als „Laboratorien“ für Migrations- und Sicherheitspolitik. So auch die Insel Mayotte, wo die französische Regierung seit Jahren versucht, die hohe Zuwanderung zu unterbinden, mit gravierenden Folgen für Geflüchtete. Zuletzt schlug die Regierung die Abschaffung des Jus Soli über eine Verfassungsänderung vor. Dieses Vorhaben baut auf falschen Annahmen auf und wird lediglich eine Symbolwirkung erzielen. Sollte es gelingen, könnte es rechtsextremistischen Verfechter*innen der Abschaffung des Geburtsortprinzips auf dem gesamten Staatsgebiet in die Karten spielen. Die migrationspolitische Eskalation auf Mayotte verdeutlicht die Gefahr der Entrechtung von Geflüchteten und Migrant*innen für die gesamte Rechtsordnung Europas.
“Es wird nicht mehr möglich sein Franzose zu werden, wenn die eigenen Eltern keine Franzosen sind“. Mit diesen Worten kündigte der französische Innenminister Gerald Darmanin im Auftrag des Präsidenten Emmanuel Macron am 11. Februar 2024 auf Mayotte an, dass durch diese „radikale Maßnahme“ die „Attraktivität“ der Insel für Asylsuchende und Migrant*innen „buchstäblich beschnitten wird“ („coupera littéralement l’attractivité“). Denn angeblich würden schwangere Frauen in hohen Zahlen nach Mayotte reisen, um ihren Kindern eine Zukunft in Frankreich zu sichern.
Die Abschaffung des Jus Soli soll allein auf der Insel Mayotte gelten. Ein entsprechendes Gesetz wäre höchstwahrscheinlich sowohl mit dem Gleichheitsgebot wie auch mit dem Einheitsstaatsprinzip aus dem Artikel 1 der französischen Verfassung inkompatibel. Paris stellte daher eine Verfassungsreform in Aussicht, um den Sonderstatus der Überseegebiete auszubauen und hierüber eine Zensur durch den Verfassungsrat zu umgehen.
Die Empörung ist groß. Auch unter den Macron-Anhänger*innen ist die Stimmung trüb: Führende Sprecher*innen der Partei „Renaissance“ – auch Darmanin selbst – hatten sich bisher für das Jus Soli bzw. gegen eine Sonderstellung der Überseegebiete ausgesprochen. Dafür macht sich Begeisterung im rechten Spektrum breit, von den konservativen „Républicains“ bis zum rechtsextremistischen Rand. Dort fühlt man sich bestätigt und fordert Gleiches für das ganze französische Staatsgebiet – denn die Abschaffung des Jus Soli ist seit langem eine Forderung der Partei „Rassemblement National“.
Der Druckkessel Mayotte
Wie viele europäische Überseegebiete erlebt Mayotte ein hohes Zufluchts- sowie Zuwanderungsaufkommen. Die Lage Mayottes ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit der vieler europäischer Überseegebiete wie z. B. mit Spaniens kanarischen Inseln vor Westafrika. Höhere Lebensstandards in EU-Überseegebieten sowie die geographische Nähe und historische Verbundenheit dieser Inseln und Enklaven mit den umgebenden Staaten ergeben signifikante Migrationsbewegungen.
In anderer Hinsicht ist Mayotte jedoch ein besonderer Fall. Es liegt auf einer Inselgruppe im Indischen Ozean zwischen Mosambik und Madagaskar. Anders als die anderen komorischen Inseln entschieden sich die Inselbewohner*innen Mayottes 1974 für den Verbleib in der französischen Republik. Die komorische Bundesregierung erhebt bis heute einen Anspruch auf Mayotte, dennoch wurde die Insel 2011 als Département integraler Bestandteil des französischen Staatsgebiets. Die Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard bewahrheitete sich allerdings nur eingeschränkt. Der BIP pro Kopf ist inzwischen zwar 6 mal so hoch wie das auf den Komoren, dennoch leben 70% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Der Anschluss Mayottes an Frankreich hatte Konsequenzen für die Migration und Mobilität in der Region. Durch Einführung der Visapflicht für komorische Staatsbürger*innen im Jahr 1995 verwandelte sich die normale intrainsulare Mobilität in eine irreguläre Migration aus dem globalen Süden in den globalen Norden. Mayotte wurde auch verstärkt zum Ziel für Migrant*innen und Asylsuchende.
Mayotte ist ein Druckkessel. Armut, prekäre Wohnverhältnisse und die extreme Wasserknappheit führen zu Unmut. Wie so oft werden Migrant*innen und Asylsuchende für die Situation verantwortlich gemacht. Neben der hohen Zuwanderung aus den Komoren hat sich die Zahl der Asylanträge zuletzt erhöht, von unter 1000 im Jahr 2018 auf 4000 im Jahr 2022. 2023 waren es mit 2.650 Anträgen wieder deutlich weniger. Die Insel schafft es allerdings nicht, Asylantragsteller*innen zu versorgen, sodass viele der Ankommenden in informellen Camps und auf der Straße ausharren. Die Situation liefert eine Steilvorlage für populistische Mobilisierung. Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 konnte die rechtsextremistische Partei Rassemblement National (RN) mit knapp 60% der Stimmen auf Mayotte ihren größten Wahlerfolg erzielen. Anfang 2024 protestierte die Inselbevölkerung gegen Zuwanderung und hohe Kriminalität mit wochenlangen Straßenblockaden.
Die neuen Vorschläge zur Abschaffung des Jus Soli folgen einer Reihe von Maßnahmen, die eine geringe Wirkung auf das Zuwanderungsaufkommen hatten, darunter die sogenannte „Opération Wuambushu“, ein großer Einsatz von Polizei und Militär zur Bekämpfung von Kriminalität und irregulärer Zuwanderung. Zudem gelten auf Mayotte – wie in anderen Überseegebieten Frankreichs – in Asylverfahren zahlreiche Ausnahmen, z. B. kürzere Fristen und eingeschränkte Berufungsmöglichkeiten ohne Bleiberecht. Asylsuchende bekommen keine finanzielle Unterstützung bis auf Coupons in Höhe von 1€ am Tag. Frankreich schränkte auch die Gültigkeit der meisten Aufenthaltsgenehmigungen ein, sodass eine Weiterreise in Richtung anderer französischer Departments unzulässig ist. Dieses System erinnert an die Situation auf den griechischen Inseln unter dem EU-Türkei-Deal, denn durch das Abkommen sitzen Asylsuchende und Zuwanderer auf diesen Inseln fest. Die Einwohner*innen Mayottes fordern die Abschaffung dieser Einschränkung. Am 11. Februar kündigte Darmanin neben der Abschaffung des Jus Soli ein entsprechendes Gesetz an, das bis zum Sommer vorgelegt werden soll.
Neben all den genannten Maßnahmen wurde 2018 auch eine Einschränkung des Geburtsortsprinzips im Staatsbürgerschaftsrecht eingeführt. Dies bedarf einer kurzen Einordnung.
Frankreichs konditionaler Jus Soli im Staatsbürgerschaftsrecht und Mayottes Sonderregeln
Bei der hitzigen Debatte rund um das Jus Soli könnte man den Eindruck gewinnen, dass Frankreich wie die Vereinigten Staaten uneingeschränkt die Staatsbürgerschaft an Kinder vergäbe, die auf seinem Staatsgebiet geboren wurden. Doch das ist nicht annähernd der Fall: Neben Kindern französischer Staatsbürger*innen werden lediglich Kinder der sogenannten dritten Generation mit der Geburt automatisch französisch – also lediglich in Frankreich geborene Kinder, deren Eltern bereits in Frankreich geboren wurden (Prinzip des „double droit du sol“, Art. 19-3 des Code Civil).
Für Kinder, die mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Frankreich geboren werden, gibt es die Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft nachträglich zuerkannt zu bekommen. Das ist allerdings an Bedingungen geknüpft. Konkret können diese Kinder erst ab dem 13. Geburtstag die französische Staatsbürgerschaft beanspruchen, wenn sie seit ihrem 8. Geburtstag mindestens 5 Jahre einen Aufenthaltsstatus in Frankreich hatten (nach Art. 27-11 des Code Civil). Ist dies nicht der Fall, erhalten sie nach Art. 27-7 des Code Civil die Staatsbürgerschaft automatisch zu ihrem 18. Geburtstag, vorausgesetzt sie leben auf dem französischen Staatsgebiet und haben seit dem 11. Geburtstag mindestens 5 Jahre in Frankreich gelebt. Unterbrechungen sind in beiden Fällen zulässig und die Kinder können ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten.
Auf Initiative von Thani Mohamed-Soilihi, Vertreter Mayottes im Senat, der zweiten Kammer des französischen Parlaments, führte Frankreich 2018 eine zusätzliche Bedingung zum Erhalt der Staatsbürgerschaft ab dem Alter von 13 Jahren ein: Kinder von ausländischen Eltern durften fortan nur die französische Staatsbürgerschaft erhalten, wenn ein Elternteil seit mindestens 3 Monaten einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus innehat. Diese Einschränkung gilt bisher nur auf Mayotte und wurde vom Verwaltungsgericht gebilligt. Gemäß den Ankündigungen von Februar 2024 soll dieser bereits bestehende Sonderstatus Mayottes ausgebaut werden: Das Geburtsortprinzip soll über eine Verfassungsänderung ganz abgeschafft werden.
Diese Entwicklungen auf Mayotte könnten nur ein Anfang sein. Der Versuch der konservativen Républicains, die geltende Mayotte-Regelung zu verschärfen und auf weitere Überseegebiete zu erweitern (Saint Martin und die französische Guyana) scheiterte kürzlich aus formellen Gründen. Dieser Versuch deutet aber daraufhin, dass Mayotte als eine Art Vorbild oder in den Worten von Vincent Geisser als „Laboratorium“ für den Umgang mit Migration in weiteren französischen Überseegebieten betrachtet wird. Viele Akteur*innen fordern nämlich die Abschaffung des Jus Soli in ganz Frankreich. Es ist eine langjährige Forderung von Rechtspopulist*innen (beisp. RN und Reconquête), die nun auch von Teilen der Républicains vertreten wird, und die nach einer nicht repräsentativen Online-Umfrage von 65% der 1000 Teilnehmenden befürwortet wird.
Für einen angeblichen „Sog-Effekt“ fehlt die wissenschaftliche Evidenz
Reisen komorische Frauen wirklich nach Mayotte, um über sogenannte „Anker-Kinder“ ihren Aufenthalt dort zu sichern? Dafür gibt es keine Evidenz. Einer Studie nach entfielen 2016 über 75% der Geburten auf Mayotte auf Mütter, die keine französische Staatsbürgerschaft hatten, 2010 waren es noch 55% gewesen. Die meisten dieser Frauen kamen aus den Komoren. Die gleiche Studie unterstreicht aber, dass nur eine Minderheit der neuen Mütter ohne französische Staatsbürgerschaft während der Schwangerschaft in Mayotte eingereist ist (zwischen 11% und 27%). Doch auch für diese Frauen lässt sich nicht belegen, dass die Aussicht auf die französische Staatsbürgerschaft für ihre Kinder der Grund für die Reise nach Mayotte war. Vielmehr könnte laut der Hilfsorganisation Cimade die vergleichbar bessere gesundheitliche Versorgung für Gebärende und Säuglinge entscheidend gewesen sein.
Haben die Einschränkungen des Jus Soli aus dem Jahr 2018 gewirkt? Verlässliche Zahlen hierzu gibt es kaum. Laut amtlicher Statistik hatten 55% der 2022 in Mayotte geborenen Kinder mindestens einen französischen Elternteil und somit nach dem Abstammungsprinzip Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft. Es ist unklar, wie viele der restlichen 45% der Kinder von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen bleiben würden. Nach der PIES-Studie hatten 2016 60% der ausländischen Frauen, die ihr Kind auf Mayotte bekamen, zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft keine Krankenversicherung. Das kann auf eine irreguläre Situation vieler dieser Mütter hindeuten. Die Kinder hätten aber über einen regelmäßigen Aufenthalt des anderen Elternteils die Kriterien dennoch erfüllen können.
Die Migrationsrechtsexpert*innen Marie-Laure Basilien-Gainche, Jules Lepoutre und Serge Slama vertreten in einem offenen Brief die Auffassung, dass die 2018 vollzogene Einschränkung des Jus Soli sehr wohl eine dämpfende Wirkung hatte. Sie zitieren amtliche Zahlen, wonach die Zahl der Kinder, die nach dem Geburtsortprinzip die französische Staatsbürgerschaft bekamen, von 2900 im Jahr 2018 auf lediglich 900 im Jahr 2022 zurückgegangen sei. Laut dem ehemaligen Premierminister Manuel Valls waren es 800 Kinder im Jahr 2022. Diese Zahlen konnten nicht überprüft werden. Allerdings unterstreichen die Autor*innen des offenen Briefs, dass kein Effekt auf die Zuwanderung ersichtlich sei. Auch Manuel Valls warnt vor eine Fehlanalyse und wertet den angeblichen Sog-Effekt des Jus Soli als einen Mythos.
Die Reform würde den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf Mayotte weiter gefährden
Eine vollständige Abschaffung des Jus Soli auf Mayotte hätte nach dem aktuellen Stand der Forschung durchaus Auswirkungen. Zwar nicht auf die Zuwanderung, wohl aber auf die Integration von Geflüchteten und Migrant*innen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf der Insel. Die Reform würde Kinder der zweiten Generation sowie Kinder, die schon lange auf Mayotte leben, von der Staatsbürgerschaft ausschließen. Da aktuell rund die Hälfte (48%) der Bevölkerung Mayottes keine französische Staatsbürgerschaft besitzt, würde es die politische Schieflage auf der Insel weiter verschärfen: Ein wachsender Anteil der Bevölkerung würde aus dem politischen Leben ausgeschlossen bleiben. Die Einwohner*innen Mayottes klagen über Instabilität und wachsende Unsicherheit und Kriminalität auf der Insel. Mehr Marginalisierung wäre hierfür aber kontraproduktiv: Der Zugang zur Staatsbürgerschaft prägt nachweislich entscheidend Integrationserfolge. Für einen Sog-Effekt durch Frankreichs Staatsbürgerschaftsregime gibt es hingegen keine handfesten Belege.
Mal wieder Symbolpolitik
Eine Verfassungsreform ist aufwendig und würde Monate dauern. Bis auf ihre Signalwirkung in Richtung der Protestbewegung auf der Insel ist sie kein geeignetes Instrument zur Begrenzung der Migration. Die Debatte rund um eine Abschaffung des Jus Soli in den Überseegebieten ist ohne Zweifel Symbolpolitik. Es geht darum, Zugeständnisse an die Einwohner*innen zu signalisieren, um die Proteste und Blockade dort zu befrieden. Es geht auch darum, den Républicains entgegenzukommen. Sie sind nach der Berufung des Verfassungsrats durch Präsident Macron im Dezember 2023 zur Überprüfung ihrer zuvor erwähnten Ergänzungen zum Immigrationsgesetz verärgert. Da seine Partei keine Mehrheit im Parlament hat, braucht Macron die Stimmen der Konservativen, um regierungsfähig zu sein. Möglicherweise spekuliert die Regierung darauf, dass es gar nicht erst zu einer Verfassungsreform kommt. Ankündigungen verpufften in den letzten Jahren immer wieder.
Fakt ist, dass wieder eine Einschränkung der Rechte von Geflüchteten und Zuwanderern in das Zentrum der politischen Debatte gerückt ist, ohne sachliche Evidenz über ihre Effektivität. Außerdem verleiht die Debatte einer historischen Forderung aus dem extrem rechten politischen Lager, nämlich der Abschaffung des Jus Soli, Legitimität. Verfassungsrechtler*innen warnen davor, dass im Zuge einer Verfassungsreform das Jus Soli als Ganzes in Frage gestellt würde. Sollte die angekündigte Verfassungsänderung gelingen, würde Kindern von Ausländer*innen auf Mayotte die französische Staatsbürgerschaft verwehrt bleiben. Aus Sicht von Rechtsexpert*innen käme das einem Bruch des Gleichheitsgebotes gleich. Auch würde die Sonderstellung von Überseegebieten bei der Staatsbürgerschaft eine Rückkehr zu einer politischen Ordnung aus der Kolonialzeit bedeuten, in der Menschen in Überseegebieten und in Kontinentalfrankreich vor dem Gesetz ungleich waren. Dabei gibt es keine Belege dafür, dass das Ende des Jus Soli die Zuwanderung nach Mayotte tatsächlich reduzieren würde.