Keine Asylanerkennung für Flüchtlinge aus türkischen Lagern?

Nachdem in der Debatte um die hohen Asylbewerberzahlen und ihre Begrenzung zunächst gar Rechtswissenschaftler der Auffassung waren, das entscheide sich nach dem grundgesetzlichen Asylrecht und dessen Begrenzungsmöglichkeiten, scheint inzwischen klar zu sein, dass es dazu anwendungsvorrangiges Europarecht gibt. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udi di Fabio hält es in seinem Gutachten für zulässig, europarechtliche Bindungen durch ein staatstheoretisch hergeleitetes Selbsthilferecht außer Kraft zu setzen. Dem sind Bast und Möllers überzeugend entgegengetreten. Im Übrigen mehren sich – einmal abgesehen von den standardsenkenden Änderungsaktivitäten zu Asylverfahren, Herkunftsstaaten, Aufnahmebedingungen und Familiennachzug – Initiativen, die europäisch und international nach Lösungen suchen.

Dabei steht die Idee im Zentrum, Kooperationen mit Nachbarstaaten Europas, allen voran mit der Türkei voranzutreiben, so dass Flüchtlinge, die durch die Türkei reisen, ihren Schutz möglichst dort finden, statt in Europa um Asyl nachzusuchen. Dafür soll die Türkei finanzielle Unterstützung für den Umgang mit Flüchtlingen erhalten. Perspektivisch sollen ihr bestimmte Quanten an Schutzbedürftigen (Kontingente) abgenommen werden, um so im Idealfall eine reguläre, aber nach oben begrenzte Fluchtmigration nach Europa zu realisieren. Bezüglich der innereuropäischen Verteilung der Aufgenommenen werden Quotenlösungen favorisiert. Die Türkei wird zu derartigen Kooperationen allenfalls durch allerlei politische Zugeständnisse zu bewegen sein, wie in dem im November 2015 verhandelten EU-Türkei-Deal auch bereits geschehen.

Voraussetzung für die Kontingentaufnahmen soll sein, dass die Zugänge nach Europa tatsächlich begrenzt werden, notfalls dadurch, dass jenseits der vereinbarten Quanten nach Europa durchgedrungene Asylsuchende von der Türkei zurückgenommen werden. Um letztere Strategie soll es hier gehen. Anders als bei Strategien, die darauf abzielen, Asylsuchende gar nicht erst in Europa ankommen zu lassen (non arrival), handelt es sich hier um eine protection elsewhere-Strategie. So etwas ist weder nach der Genfer Konvention noch nach dem Europäischen Asylrecht schlechthin ausgeschlossen, allerdings ist es voraussetzungsreich, und diese Zulässigkeitshürden werden in der Debatte unterschlagen.

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgericht Hans-Jürgen Papier schlägt in seinem Blogbeitrag vor, Deutschland solle sich auf seine bisher vernachlässigten protection elsewhere-Optionen besinnen und z.B. Schutzsuchende, die durch die Türkei gekommen sind, auf die Türkei zurückverweisen. In den dortigen Lagern befänden sie sich dann zwar nicht in angenehmen Verhältnissen, die Rechtslage verlange aber auch nicht mehr, als dass sie dort vor Verfolgung sicher seien. Anspruch auf eine Anerkennung in Deutschland hätten sie nicht, auch wenn sie im Heimatstaat tatsächlich verfolgt werden.

Nun setzt jede Abschiebung einen übernahmebereiten Zielstaat voraus. Und die Türkei wird sich hüten, Deutschland hunderttausende Schutzsuchende abzunehmen, nur weil diese sich irgendwann auch in der Türkei aufgehalten haben. Ggf. einschlägige Rücknahmeabkommen würden auf der Grundlage der darin üblichen Beendigungsklauseln aufgekündigt werden, wenn Deutschland sich einfallen ließe, sie zu solchen Zwecken zu aktivieren, ohne dass dieses Vorgehen auf einem explizit dahingehenden – wenn überhaupt nur gesamteuropäisch und unter weiteren Zugeständnissen erzielbaren – Deal mit der Türkei beruht. Soweit es also Deutschland nicht gelingt, diese Asylsuchenden nach Dublin-Recht in die Verantwortung anderer europäischer Staaten zu überstellen, werden sie wie bisher in Deutschland bleiben.

Kann man ihnen dann hier die Flüchtlingsanerkennung versagen, weil sie nicht in der Türkei geblieben sind? Papier meint, wer über einen sicheren Drittstaat einreist, den brauche man in Deutschland nicht anzuerkennen. Offenbar hatte Papier hier noch die nicht europarechtlich überformte Rechtslage nach Art. 16a GG vor Augen. Das europäische Asylrecht setzt nämlich für Verweisungen Schutzsuchender auf andere Schutzstaaten voraus, dass der Betroffene von dem Zielstaat auch tatsächlich aufgenommen wird, andernfalls ist Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren.

Das wird, soweit sich auch keine Dublin-Überstellung realisieren lässt, darauf hinauslaufen, dass Deutschland das Verfahren selber durchführen und ggf. den Schutzstatus gewähren muss. Der Anerkennung steht es dann keineswegs entgegen, wenn der Betroffene über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Ob jemand Flüchtling ist, hängt nach dem europäischen und internationalen Flüchtlingsbegriff nicht davon ab, was ihm in Staaten droht, über die er eingereist ist, entscheidend ist die Situation in seinem Heimatstaat. Das ist ein wichtiger Punkt: Bereits mit dem Flüchtlingsbegriff ist klargestellt, dass Flucht und Flüchtlingseigenschaft nicht allein deshalb enden, weil der Betroffene in einem Staat ankommt, in dem er nicht mehr verfolgt wird.

Im deutschen Alleingang funktioniert das also nicht. Wie steht es mit der protection elsewhere-Idee als Bestandteil eines gesamteuropäischen Projekts? Wenn es gelänge, sich in Europa auf innereuropäisch zu verteilende Kontingentaufnahmen aus der Türkei zu verständigen und einen EU-Deal mit der Türkei explizit auch auf die Rückführung irregulär in Dublin-Staaten angekommener Schutzsuchender zu erstrecken: Könnten wir diese dann mit ihrem Schutzgesuch an die Türkei abgeben? Einmal abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten eines derartigen Rückverweisungsregimes, das sich ja schon innerhalb des Dublin-Raumes als nicht effizient durchführbar erwiesen hat, setzen protection elsewhere-Abschiebungen in drittstaatliche Zielstaaten nach europäischem Recht nicht nur die Übernahmebereitschaft des Zielstaates voraus, sondern unterliegen aus teils menschenrechtlich zwingenden Gründen noch weiteren Anforderungen.

An dieser Stelle sei vorweg klargestellt: Für Kontingentaufnahmen an und für sich, also ohne zwingende Verbindung mit protection elsewhere-Rückführungen, spricht viel. Zuallererst der Umstand, dass es sich hier um einen legalen Zugangsweg handelt, der den jeweils Ausgewählten lebensgefährliche Fluchtwege unter Inanspruchnahme von Schleppern erspart. Gewiss wird, wenn solche Wege in relevantem Ausmaß zur Verfügung stehen, auch mancher Flüchtling, der zunächst nicht ausgewählt wurde, eher noch auf seine Chance warten, als es auf irregulärem Weg zu versuchen. Kontingentaufnahmen eröffnen zweitens gerade auch jenen eine Perspektive, die besonders dringend eine brauchen, weil sie es aus eigener Kraft an einen für sie erträglichen Schutzort nicht schaffen. Drittens würden Kontingentaufnahmen vermeiden, dass durch die Flucht Familien zerrissen werden, denn die würde man als Ganze aufnehmen. In der Konsequenz müssten die Aufnahmestaaten nicht befürchten, dass sich die Aufnahmezahlen im Anschluss durch den Familiennachzug erhöhen.

In größerem Umfang als bisher auf Kontingentaufnahmen zu setzen wäre also begrüßenswert. Es ist aber fraglich, ob das von der Rücknahme von Personen abhängig gemacht werden sollte, die jenseits der Kontingente nach Europa durchgedrungen sind. Ziel ist im Folgenden nur, deutlich zu machen, welche Schwierigkeiten sich dann auftun, abschließend behandelt werden können sie hier nicht.

Die Asylverfahrensrichtlinie unterscheidet als protection elsewhere-Konzepte den sicheren Drittstaat und den ersten Asylstaat, ferner das bisher mangels Erstellung einer europäischen Liste nicht anwendbare Konzept des sicheren europäischen Drittstaates. Zu den Voraussetzungen aller Verweisungsarten gehört neben der Übernahmebereitschaft des Zielstaates, dass dem Betroffenen dort Schutz im Sinne der GFK – bzw. beim ersten Asylstaat: „anderweitig ausreichenden Schutz einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung“ – tatsächlich gewährt wird. Was hier über den Schutz vor Verfolgung und Weiterschiebung in Verfolgung hinaus genau erforderlich ist (alle Statusrechte, die die GFK für den jeweiligen Aufenthaltsstatus vorsieht?), ist umstritten. Ebenfalls ist unklar, wie lange und unter welchen Umständen ein Schutzsuchender sich in einem Staat aufgehalten haben muss, damit dieser als erster Asylstaat gelten kann.

Nach dem Konzept des sicheren Drittstaates muss unter anderem gewährleistet sein, dass der Betroffene dort keinen ernsthaften Schaden im Sinne des europäischen subsidiären Schutzes erleidet und vor unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen sicher ist. Letztere Voraussetzung ergibt sich für alle drei Konzepte ohnehin aus Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh. Dabei ist auch die Aufnahme- und Versorgungslage für Asylbewerber zu prüfen, besonders dann, wenn Kinder betroffen sind (für Dublin-Überstellungen: EGMR M.S.S., EGMR Tarakhel, EuGH N.S.). Bei alledem muss jedem einzelnen Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden, die Tauglichkeit des Zielstaates für seinen speziellen Fall anzufechten und in einem effektiven Rechtsschutzverfahren überprüfen zu lassen. Unwiderlegliche Sicherheitsfiktionen darf es auch bei außereuropäischen Staaten nicht geben.

Angesichts dessen wird es mit dem Zurückreichen von Schutzsuchenden an die Türkei schwierig werden, noch schwieriger als bei den Verweisungen im nicht umsonst vollzugsdefizitären Dublin-System. Die Türkei hat die GFK mit einem geographischen Vorbehalt ratifiziert, so dass Flüchtlinge, die nicht aus Europa – im Sinne des Europaratsgebietes – kommen, nicht als Konventionsflüchtlinge anerkennungsfähig sind. Seit 2013 hat die Türkei immerhin ein allerdings noch kaum implementiertes Asylgesetz, das mindere Schutzstatus auch für nicht-europäische Flüchtlinge vorsieht. Nach einem Bericht von Amnesty International finden seit dem Migrationsdeal zwischen der Türkei und der EU in der Türkei verstärkt Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen statt, die nach Europa weiterzuwandern versuchen, von willkürlichen Inhaftierungen über den Druck, nicht übersetzte Ausreisebereitschaftsformulare zu unterzeichnen, bis hin zu refoulement-Verstößen.

Und selbst wenn die Sicherheitsfrage gar nicht zweifelhaft wäre: Für Verweisungen auf sichere Drittstaaten hat die Asylverfahrensrichtlinie noch eine weitere Hürde errichtet. Es muss eine „Verbindung“ zwischen dem Betroffenen und dem Zielstaat bestehen, „so dass es aufgrund dieser Verbindung vernünftig erscheint, dass diese Person sich in diesen Staat begibt“. Auch das dürfen die Betroffenen im jedem Einzelfall zur notfalls gerichtlichen Überprüfung stellen, und auch hier besteht keine Einigkeit über die genaue Bedeutung der Voraussetzung.

Hintergrund der zahlreichen Unklarheiten ist ein jahrzehntealter und bis heute ungelöster Konflikt: der Lastenteilungskonflikt zwischen Erstaufnahme- und Fluchtzielstaaten. Ist der Umstand, dass ein Schutzsuchender auf seinem Fluchtweg durch ein verfolgungssicheres Land gekommen ist, ein ausreichender Grund, um diesen Staat für vorrangig flüchtlingsverantwortlich zu halten? Angesichts der dann in Gang gesetzten Verweisungskette rückwärts entlang der Fluchtwege würde das zu Ende gedacht dazu führen, dass die Flüchtlingsverantwortung für alle Personen jenseits andernorts evtl. zugestandener Kontingentaufnahmen bei den Erstaufnahmestaaten landet, die dann ihrerseits Obergrenzen nur noch durch refoulement-Verstöße realisieren könnten.

Die von den Fluchtzielstaaten favorisierte Rückverweisungsidee wird letztlich von demselben Prinzip beherrscht wie das Dublin-System: dem Ersteintrittsprinzip. Dieses Prinzip hat in der Zwangsmigration, also als Prinzip für die Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung, keinerlei Plausibilität und Rechtfertigung. Letztlich wird man sich nicht nur innereuropäisch, sondern auch global um eine Asylkooperation bemühen müssen, die auf anderen Zuordnungsmechanismen beruht.

 

Dieser Beitrag ist auch auf dem Verfassungsblog erschienen.

 

 

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